Mittwoch, 16. November 2022

Auf der Flucht vor dem Augenblick

An einer Fotoausstellung in Zürich treffen Sara, 43, Bankdirektorin in Südbünden, und Tim, 59, der sich seinen Lebensunterhalt als Englischlehrer an einer Privatschule in Südbrasilien verdient, aufeinander. Beide sind neugierig, rastlos, viel herumgekommen, und setzen sich leidenschaftlich mit der Welt der Ideen auseinander.

 Während Sara nach ihrem Abschluss an einer Elite-Universität den klassischen Karriere-Weg einschlug, gelang es Tim nicht, sich an das herrschende System, das seines Erachtens die Ungeeignetsten an die Spitze katapultierte, anzupassen. In der Folge treffen sie sich in unregelmässigen Abständen für jeweils ein paar Tage, um sich übers Leben auszutauschen. Ihre intensiven Gespräche lassen sie mit der Zeit erkennen, dass sie weit mehr gemeinsam hatten, als ihre jeweiligen Lebensentwürfe vermuten liessen.

Tim war trockener Alkoholiker und hatte sich eingehend mit Sucht und Verhaltensänderungen auseinandergesetzt; Sara hatte zwei Borderline-Beziehungen hinter sich, die sie an Abgründe führten, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie existierten. Beide wollten nicht fühlen, was sie fühlten; ihre Angst, von der sie auch wussten, dass sie oft hilfreich war, lähmte sie  und liess sie die Flucht antreten: In den Alkohol, die Karriere, das Lösen von Problemen, das Lesen von Büchern, das Surfen im Internet, das Sich-Beweisen-Müssen im Wettbewerb um persönliche Eitelkeiten. 

Allmählich realisieren sie, dass sich das zwar nicht ändern lässt, doch das Leben leichter wird, wenn man alles, absolut alles, akzeptiert, genau so wie es ist. Erst auf dieser Grundlage lässt sich ändern, was geändert gehört – nicht weil wir es wollen, sondern weil es uns gut tut.

Auf der Flucht vor dem Augenblick liegt die Überzeugung zugrunde, dass ausgesprochene Gedanken (und nicht etwa Meinungen, die keinen Denkprozess voraussetzen), die auf ein interessiertes und teilnehmendes Gegenüber stossen, nicht nur klärend und befreiend sein können, sondern jeder üblichen Therapie weit überlegen sind, da ein solcher Austausch auf gleichwertigen Partnern beruht.

Ein Plädoyer für ein Dasein in der Gegenwart, das nur auf der Grundlage einer radikalen "Umwertung alles Werte" möglich ist.

Hans Durrer
Auf der Flucht vor dem Augenblick
neobooks, Berlin 2022

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