Mittwoch, 4. August 2021

Toby Muse: Kilo

"Der tödliche Weg des KOKAINS aus dem Dschungel in die Grossstadt"  heisst der Untertitel dieses hoch gepriesenen Werkes (unter anderen von John Lee Anderson, einem Nordamerikaner, der sehr viel von Lateinamerika versteht und "Che – Die Biografie' geschrieben hat), doch ich frage mich, weshalb der Weg, den das Kokain nimmt, eigentlich relevant sein soll. Ist das Problem denn nicht, dass es Abnehmer für das weisse Pulver gibt?

Sowieso, ohne Konsumenten keine Droge, doch dieses Buch ist weit mehr als ein Kokain-Buch, es ist auch eine packende Einführung in ein Kolumbien, von dem man in den Massenmedien kaum einmal liest. "Wir sind in Catatumbo, im Nordosten Kolumbiens, an der Grenze zu Venezuela. Einer Gegend voller Urwälder, Berge, Krieg, unverwüstlicher Menschen und Magie, beherrscht von Guerillas, Kokain und Armut, bewohnt von einem Volk, das von seiner Regierung verlassen wurde."

Zudem ist es Buch, das einem bewusst macht, wie problematisch, notwendig und unmöglich diese Art von Journalismus ist. "Ich schreibe, weil ich hoffe, dass meine Berichte die Welt verändern können. Wenn die Welt die Wahrheit kennt, können Dinge sich ändern." Von einer 19jährigen Prostituierten erhält er für diese Aussage nur Mitleid. Überdies hat sie Angst: Wird sie zur Zielscheibe, wenn sie mit ihm spricht? "Ich sage ihr, dass es in all den Jahren, in denen ich in Kolumbien arbeite, noch nie passiert ist, dass meinetwegen jemand getötet wurde."

Auch von der Pazifikküste schreibt er, die er als kolumbianische Tragödie bezeichnet: "Denn die Zentralregierung hat sie den gefrässigen, korrupten Lokalpolitikern überlassen." Die Drogenhändler sind allgegenwärtig und äusserst brutal; Feinden der Schmuggler werden bei lebendigem Leibe Gliedmassen abgehackt und dann in den Ozean geworfen. "Diese Männer führen ein Leben voller Gewalt und Chaos."

Es zeichnet dieses Buch aus, dass es die ganz unterschiedlichen Dimensionen des Kokains aufzeigt. Eine davon hat wenig mit dem Stoff und ganz viel dem Geld, das sich damit verdienen lässt, zu tun. Doch vor allem hat es damit zu tun, dass man sich kaufen lässt. "Die Freundin eines Narcos erzählte mir, sie gebe fünfzigtausend Dollar pro Monat von seinem Geld für Mode aus ... Diese Frauen tragen Kälte in sich, haben Härte in den Augen. Ihr Anblick ist seltsam: schöne Gesichter, straffe Körper und die Augen von Toten."

KILO ist auch die Geschichte einer Abhängigkeit, einer Sucht  nach Sex. "Sex ist einer der Haupttriebfedern des Kokaingeschäfts, keine Sonderzulage, die der Job so mit sich bringt." Kokain enthemmt – Orgien im Drogenrausch; Streitereien, die in Schusswechsel ausarten. Dazu kommt: "Narcos sind exzentrisch und abergläubisch. Weil sie an nichts glauben, glauben sie an alles."

So recht eigentlich ist das keine Drogen-Geschichte, sondern eine Kapitalismus-Geschichte, denn was "unsere" gängige Gesellschaftsform auszeichnet, ist die Gier. Dies ist der wesentliche Grund, weshalb der Krieg gegen Drogen gescheitert ist. "Das schmutzige Geheimnis des organisierten Verbrechens lautet, dass Drogengeschäfte ohne Hilfe durch die Obrigkeit unmöglich sind."

Toby Muse schildert überaus eindrücklich nicht nur ein Kolumbien, in dem der Staat grossenteils abwesend ist (die Antidrogenpolizei, die in diese Gebiete geschickt wird und einen aussichtslosen Kampf führen muss, wird buchstäblich geopfert), er tut mit diesem Buch mehr: Er zeigt überzeugend auf, dass es sich beim Handel mit Kokain um ein globales Problem handelt, das letztlich wenig mit der Droge, doch viel mit dem menschlichen Wünschen und Wollen zu tun hat.

Fazit: Packend, aufwühlend und erschreckend.

Toby Muse
KILO
Der tödliche Weg des KOKAINS aus dem Dschungel in die Grossstadt
Goldmann, München 2021

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