Freitag, 1. Januar 2021

Das tibetische Buch vom Leben und Sterben

 
"Der Tod ist ein natürlicher Teil des Lebens, und wir alle müssen uns ihm früher oder später stellen. Ich sehe zwei Möglichkeiten, wie wir mit dem Tod umgehen können, so lange wir noch leben. Wir können ihn entweder ignorieren, oder wir können uns der Aussicht auf unseren eigenen Tod stellen und beginnen  –indem wir uns eingehend mit ihm befassen – , das Leiden, das er uns bringen kann, zu vermindern. Wir können ihn aber in keinem Falle umgehen", schreibt der  XIV. Dalai Lama im Vorwort.

Mich selber haben Gedanken an den Tod mein Leben lang umgetrieben, dass ich mich ihnen ernsthaft gestellt hätte, kann ich jedoch nicht behaupten. Mich jetzt erneut mit diesem Buch zu befassen (die englische Originalausgabe habe ich Mitte der 1990er Jahre erworben und auch gelesen, doch habe ich, wie bei ganz vielen Büchern, keine wirkliche Erinnerung daran), hat damit zu tun, dass ich es höchste Zeit finde, mich mit dem, was der Titel anzeigt, ernsthaft zu befassen gewillt bin.

"Warum leben wir in solch panischer Angst vor dem Tod? Weil es unser tiefstes Verlangen ist, zu leben und am Leben zu bleiben, und weil wir den Tod für das grausame Ende all dessen halten, was uns so vertraut ist." Könnte es sein, fragt Sogyal Rinpoche, dass die eigentliche Ursache unserer Angst darin liegt, dass wir nicht wissen, wer wir wirklich sind, dass wir eine falsche Vorstellung vom Leben haben, das wir so leben als ob es beständig und dauerhaft sei, obwohl wir doch eigentlich wissen, dass es das gerade nicht ist?

Alles ist vergänglich. Und dagegen wehren wir uns. Wir wollen die Dinge nicht sehen wie sie sind, wir ignorieren "die Wahrheit der Vergänglichkeit." Sich wirklich damit auseinanderzusetzen, bedeutet, sich ständig zu vergegenwärtigen, dass wir sterben werden, wir alle, und uns darum zu bemühen, von unserem falschen und zerstörerischen Glauben sowie von unserer verzweifelten Gier nach Sicherheit abzulassen. Wir müssen eine Haltung des Loslassens entwickeln.

Entscheidend ist, dass das Loslassen gelernt und geübt wird, ständig, dass unser stets wandernder Geist auf den Kerngedanken, das Wesen der Vergänglichkeit, zurückgeführt wird. Selten war das schwieriger als in der heutigen Zeit, die sich "dem Kult des Ich mit all seinen traurigen Fantasien von Erfolg und Macht verschrieben" hat sowie Gier und Ignoranz fördert und damit genau die Kräfte feiert, die letztlich unseren Planeten zerstören werden.

"Du gehst und erfüllst hundert wichtige Aufgaben", steht in den 'Tafelgesprächen' des Sufi-Meisters Rumi, "wenn du jedoch die eine Angelegenheit, derentwegen du geschickt wurdest, unerledigt lässt, ist es, als hättest du gar nichts erreicht. Genauso kommt der Mensch auf die Welt, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen, das ist sein Lebenszweck. Erfüllt er sie nicht, hat er versagt."

Wir ahnen das, doch wir wissen meist nicht, was denn unsere Aufgabe sein könnte. Gemäss Sogyal Rinpoche besteht sie darin, "unser wahres Wesen zu erkennen und zu verkörpern." Dazu muss man den Weg nicht nur finden, sondern ihm auch folgen.

In Tibet wird grosser Wert auf die Übertragung von Meister zu Meister gelegt. Dies garantiert Authentizität und Reinheit der Lehren. Wahre Lehrer, so Sogyal Rinpoche, seien "mitfühlend und unermüdlich in ihrem Wunsch, alle Weisheit weiterzugeben, die sie von ihren eigenen Meistern erfahren haben. Sie bleiben stets bescheiden, lassen ihr Schüler niemals im Stich, beuten sie unter keinen Umständen aus oder manipulieren sie womöglich. Sie haben nicht ihren eigenen Vorteil im Sinn, sondern die Grösse und den Wert der Lehren." Er selber hat diesem Ideal offenbar nicht entsprochen wie die vielen Anschuldigungen von Missbrauch, die 2018 von Rigpa veröffentlicht und bestätigt wurden, gezeigt haben

Diese Vorkommnisse machen jedoch die Einsichten und Lehren, die in diesem Werk dargeboten werden, nicht weniger wertvoll. Nicht, dass Sogyal Rinpoche seine Vergehen nachgesehen werden sollten, doch dass jemand nicht lebt, was er predigt, ist generell eher die Regel als die Ausnahme. Unser ständiges Personalisieren empfinde ich nicht als hilfreich, die Einsichten und Lehren in diesem Buch hingegen schon. Als ein japanischer Physiker, der gerade den Nobelpreis gewonnen hatte, gefragt wurde, ob er stolz auf seine Entdeckung sei, meinte er, dass er sie nicht als persönliche Leistung sehe. Was er und sein amerikanischer Kollege entdeckt hätten, hätte auch früher oder später von jemand anderem entdeckt werden können. Es sei ganz einfach da gewesen, um entdeckt zu werden.

Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben lässt mich oft innehalten und bedenken, was ich da eigentlich lese – und mir wird bewusst, dass ich nicht einfach ein Buch voller tiefgründiger Einsichten lese, sondern eine Art Offenbarung erlebe. Immer mal wieder, für Momente, erfahre ich, dass wirkliches Verstehen befreiend ist. Zum Zeugen zu werden, lässt sich üben.

Rigpa
Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben
Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod
Knaur Taschenbuch, München 2020

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