Montag, 1. Februar 2021

Entscheide selbst!


Kaum eine Pressemeldung, die Jordan B. Peterson, Professor für Psychologie an der Universität Toronto, nicht als umstritten und zugleich anregend bezeichnet. Seine Botschaft läuft so recht eigentlich auf etwas höchst Einleuchtendes hinaus: Übernehmt Verantwortung! Werdet endlich erwachsen! Das sagt uns auch der gesunde Menschenverstand, nur eben weit weniger gelehrt und fundiert als Professor Peterson es tut.

Im Vorwort weist der Arzt und Neurowissenschaftler Norman Doidge auf Fundamentales hin, das nicht immer gern gehört wird: Das Leben ist gleichbedeutend mit Leiden. Nicht, weil die falschen Leute an der Regierung sind oder weil der Chef ein Depp ist. Klar, deswegen auch, doch das ist nicht das Entscheidende. Es geht um Grundsätzlicheres: "Wir leiden, weil wir als Menschen zur Welt gekommen sind und allein dadurch Kummer genug mitgebracht haben. Und selbst wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person zufällig einmal nicht leidet, die Aussicht, dass es in Zukunft so bleibt, steht eher schlecht – falls sie nicht unverschämtes Glück haben. Denn eigentlich ist alles schwer. Kinder grosszuziehen ist schwer. Arbeit ist schwer. Alter, Krankheit und Tod sind schwer. Laut Peterson würde es sogar noch schwerer, wenn man all dies allein durchstehen müsste, ohne Liebe, ohne Weisheit, ohne die Weisheit der grossen Psychologen."

"12 Rules for Life. Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt" ist eine gescheite, differenzierte und ungewöhnliche Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Lebens. Das erste Kapitel ist mit "Steh aufrecht und mach die Schultern breit" überschrieben und beginnt mit den Hummern und den Vögeln und ihrem jeweiligen Revier. Jordan Peterson zeigt auf, dass die Hackordnung sowie das Prinzip der ungleichen Verteilung nicht vom Menschen erfunden wurden, sondern in der Natur angelegt sind. "Vor dreihundertfünfzig Millionen Jahren waren Gehirn und Nervensystem noch vergleichsweise simpel, und dennoch besassen sie hinsichtlich ihrer Struktur und der neurochemischen Abläufe alles, was man braucht, um Informationen über Rangfragen zu verarbeiten. Ein Faktum, das in seiner Bedeutsamkeit kaum überschätzt werden kann."

Wir hören heutzutage oft, jeder denke nur an sich selber, die narzisstische Selbstüberhöhung sei weit verbreitet. Stimmt, doch das ist nicht die ganze Geschichte, denn es gibt auch diejenigen, die sich selber als so wertlos erleben, dass sie sich vernachlässigen. Diesen Menschen sagt Jordan Peterson: "Wir verdienen Achtung. Sie verdienen Achtung. Sie sind für andere so wichtig wie für sich selbst. Sie spielen eine Rolle, wenn es um das Schicksal der Welt geht. Sie haben deshalb die moralische Pflicht, auf sich zu achten."

Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: "12 Rules for Life. Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt" ist weit entfernt von einem simplen Ratgeberbuch. Es ist eine persönliche, eloquente und differenzierte Auseinandersetzung mit der Frage: Wie sollen wir leben? Dabei greift der Autor auf wissenschaftliche Studien, Werke der Weltliteratur und ganz besonders auf eigene Erfahrungen zurück. Das Ziel dabei ist, in jeder Lebenslage selbst entscheiden zu können. Das setzt diszipliniertes Üben voraus. "Halten Sie sich an die Versprechen, die Sie sich selbst gegeben haben, aber belohnen sie sich auch, so wächst das Vertrauen in die eigenen Entschlüsse und die Motivation."

Jordan B. Peterson erzählt aus seinem Leben, wie und mit wem er aufgewachsen ist. Auf dem Land, in Kanada. Er schaut hin, genau und hart – und staunt unter anderem darüber, dass Menschen, die unter gesundheitlichen Einschränkungen leiden, trotzdem ganz normal ihrer Arbeit nachgehen. Er ist Realist und weiss, dass weder die Natur (man denke an Malaria oder Aids) noch der Mensch (man denke an bösartige Triebtäter) einfach gut sind. Wir haben eine Wahl. Uns ist aufgegeben, uns zu entscheiden. Das erfordert Mut genauso wie Demut. "Wir müssen es wieder schaffen, maximale Verantwortung zu übernehmen, zunächst für unser eigenes Leben, aber auch für die Gesellschaft und die Welt allgemein."

Auch aus seiner klinischen Praxis berichtet er. Und wie man mit der Befolgung von einfachen Regeln Ruhe ins seelische Chaos bringen kann. "Ich hatte schon viele Patienten, die ihre Angstzustände allein dadurch in den Griff bekamen, dass sie regelmässig schliefen und richtig frühstückten." Es ist wohltuend, dass Jordan B. Peterson oft auf den gesunden Menschenverstand zurückgreift, dem er auch sprachlich höchst treffend (und gelegentlich mit unerwarteten Wendungen) Ausdruck gibt: "Es ist schlicht nicht tugendhaft, sich von Tyrannen kujonieren zu lassen, selbst wenn es der Tyrann in unserem Inneren sein sollte."

Es gibt ganz viele solch hilfreicher Sätze in diesem gut geschriebenen Buch. Zu meinen liebsten gehören: "Nur weil Sie es denken, müssen Sie es ja nicht gleich tun." Und: "Was Sie nämlich wirklich glauben (nicht, was Sie zu glauben meinen), wird man nur herausfinden, wenn man sich ihr Verhalten ansieht. Davor wissen Sie selbst nicht, was Sie glauben. Sie sind viel zu komplex, um sich selbst zu begreifen." Und diesen über Alexander Solschenizyn: "Er nahm sich selbst auseinander, Stück für Stück, verwarf, was unnütz und schädlich geworden war, und holte sich so ins Leben zurück."

"12 Rules for Life. Ordnung und Struktur" in einer chaotischen Welt macht Mut zum aufrichtigen Selber-Denken. Und ist darüber hinaus ein engagiertes, detailreiches und anregendes Plädoyer gegen den moralischen Relativismus.

Jordan B. Peterson
12 Rules for Life
Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt
Goldmann, München 2018

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