Mittwoch, 21. November 2018

Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein

Ob mich Bücher ansprechen, entscheidet sich manchmal nach dem ersten Satz, dem ersten Abschnitt oder den ersten Seiten. Manchmal aber auch erst nach fünfzig Seiten. Bei Catherine Grays Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein war es der erste Satz. Dieser zitiert Joan Didion, die einmal gesagt hat: "Ich weiss nicht, was ich denke, bis ich anfange, es aufzuschreiben." Genauso geht es mir nämlich auch.

Teilt jemand seine Geschichte, so ist das eine Einladung zur Identifikation. Und umso mehr, wenn diese Geschichte so direkt und offen erzählt wird, wie Catherine Gray es in Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein tut. "Ich habe einfach nie das Gefühl, die Wahl zu haben. Sobald ich was trinke, mache ich das richtig." Sie weiss zwar, dass sie zu viel trinkt, doch sie ist auch der Überzeugung, "dass das Trinken mein Leben mit Spass und Lachen erfüllte."

Eines Morgens erwacht sie hinter Gittern. In Brixton, Südlondon. "Ich sah mal eine Frau, die um zwei Uhr morgens in Brixton aus dem Bus stieg, sich niederhockte, mal kurz kackte und dann wieder in den Bus stieg, als wäre das die normalste Sache auf der Welt. Als wäre sie nur mal schnell ausgestiegen, weil sie ihre Einkaufstasche vergessen hatte. Exzessiv zu saufen war in Brixton kinderleicht. Ich habe Leute im Park gesehen, die sich volllaufen liessen. Brixton war das Babel Londons, wo man selbst als total Irrer nicht auffiel …". Und trotzdem war sie da wegen Trunkenheit und Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet worden.

Sie nimmt sich vor, ihren Alkoholkonsum in den Griff zu bekommen, unternimmt dabei auch ungewöhnliche Schritte wie betrunkene Frauen nach Hause zu bringen, doch sie befindet sich auf einer Abwärtsspirale und wird schliesslich auch physisch alkoholabhängig. Nach etlichen Überzeugungsmomenten (so bezeichnet sie Momente, in denen ihr klar wird, dass es so nicht weiter gehen kann) kommt sie an ihren persönlichen Tiefpunkt. "Der Neuanfang verbirgt sich häufig hinter der Maske des schmerzhaften Endes", zitiert sie Laotse.

Nüchtern sein muss man lernen. Dabei geht es um eine grundlegende Wandlung. Catherine Gray gibt 30 Tipps für die ersten 30 Tage, die sie mit einem Zitat von Cynthia Occelli einleitet: "Damit ein Samenkorn sich vollkommen ausformen kann, muss es gänzlich zugrunde gehen. Seine Schale bricht auf, sein Innerstes tritt aus, und es wandelt sich grundlegend. Für jemanden aber, der Wachstumsprozesse nicht versteht, sieht es so aus, als würde es vollkommen vernichtet." Auf zwei der 30 Tipps will ich speziell hinweisen: "Ich behandelte mich selbst so, wie ich ein Baby behandeln würde", also wie ein fürsorglicher Elternteil. Und: "Ich habe mir immer wieder ins Gedächtnis gerufen, dass ein Gedanke mich nicht zum Trinken zwingen kann." Denn ein Gedanke ist nur ein Gedanke und keine vollendete Tatsache, deren Sog man willenlos ausgeliefert ist. 

Sie erzählt von der Zeit als sie gesoffen hat und davon, wo sie heute steht, war ihr jetzt wichtig ist. Dankbarkeit zum Beispiel. Dazu zitiert sie auch den Neurowissenschaftler Alex Korb: "Der entscheidende Punkt ist nicht die Empfindung der Dankbarkeit, sondern die regelmässige Ausschau danach. Sich erinnern, dankbar zu sein, ist eine Form emotionaler Intelligenz." Wer seine Dankbarkeit nicht pflegt, beraubt sich vieler positiver Gefühle, hat einmal ein lebenserfahrener Freund von mir gemeint. "Die Dankbarkeit verbessert den Schlaf. der Schlaf reduziert Schmerzen. Weniger Schmerzen heisst bessere Stimmung. Bessere Stimmung bedeutet keine Angst mehr."

Natürlich könne jeder behaupten, er habe sich geändert, schreibt Catherine. Und lässt dann zwei Freundinnen zu Wort kommen, die sie sowohl vorher als auch nachher erlebt haben. "Diese Geschichten waren hart, wichtig und unglaublich berührend. Es ist erschreckend, wie wenig von all dem tatsächlich bei mir haften geblieben ist."

Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein gibt viele Anregungen, vom Umgang mit Leuten, die Alkohol trinken zum nüchtern Daten. Und Catherine Gray macht nicht zuletzt klar, dass es ein Wundermittel nicht gibt. Was für den einen funktioniert, ist für die andere keine Option. Und was zu Beginn hilft, muss nicht auf ewig helfen. "Die entschiedene Frage lautet nicht: 'Bin ich Alkoholiker?' Verschieben Sie den Fokus auf: 'Wäre mein Leben schöner, wenn ich nüchtern bleiben könnte?' Wenn die Antwort darauf ein Ja ist, dann sollten Sie sich fürs Nüchternsein entscheiden."

Es gehört zu den Stärken dieses Buches, dass die Autorin offen und aufrichtig ihre Geschichte erzählt. Doch es sind nicht einfach Memoiren, die sie vorlegt, sondern sie lässt auch viele andere Stimmen zu Wort kommen, von Betroffenen zu Wissenschaftlern.Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein ist keine Nabelschau, sondern ein überzeugendes Plädoyer, ein selbstbestimmtes Leben zu leben.

Catherine Gray
Vom unerwarteten Vergnügen, nüchtern zu sein
Frei und glücklich – ein Leben ohne Alkohol
mvgverlag, München 2018

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