Mittwoch, 8. Oktober 2014

Depressionen & Borderline

Viktor Staudts Leben wird von Angstattacken und Depressionen beherrscht, schliesslich wirft er sich vor einen Zug und verliert seine Beine. Sein Bettnachbar im Krankenhaus, ein Mann un die fünfzig mit Namen Didier, leidet an einer Form der Schizophrenie und ist deshalb schon mehrmals von seinem Balkon gesprungen, "und zwar im Auftrag von Stimmen in seinem Kopf." Viktor hat das Gefühl, Didier würde ihn verstehen, wenn er ihm seine Geschichte erzählen würde.

"Ja, ich will es dir sagen", beginne ich, so als brauchte ich einen Anlauf. "Ich habe mich vor den Zug geworfen."
Ich sage es in relativ ruhigem Ton und, besonders wichtig,ohne Scham. Didier schlägt sich augenblicklich die Hände vors Gesicht und stösst ein lautes "Ach!" aus. Seine Reaktion erschreckt mich. Ihm laufen Tränen übers Gesicht. Habe ich ihm womöglich Angst gemacht, oder schlimmer: Habe ich durch mein Bekenntnis am Ende die Stimmen in seinem Kopf geweckt?
"Nein, wie furchtbar ..." stammelt er kaum hörbar.

Wenn also jemand wie Didier ihn nicht versteht, wie kann ihn dann überhaupt jemand verstehen? Viktors  Mutter brach weinend zusammen, als sie davon erfuhr, dem Vater wurde übel, er musste sich am Schreibtisch festhalten, um nicht hinzufallen. Doch muss man einen solchen Akt überhaupt verstehen?

Viktors Leben ist geprägt von Extremen, doch er kann daran nichts Schlechtes erkennen. "Denn entweder man lässt sich hundertprozentig auf etwas ein oder nicht."

In Psychologie-Büchern liest er über Borderline. "Die Symptome kamen mir beängstigend bekannt vor." Er schliesst sich einem Internet-Klub an, "der den Willen zum Selbstmord fast zur Voraussetzung für die virtuelle Mitgliedschaft machte." Auch nach seinem fehlgeschlagenen Versuch, will er immer noch tot sein.

Schliesslich wird er in einer Klinik im Allgäu mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und bekommt ein Antidepressivum verschrieben, das ihm hilft. Zuerst ist er jedoch skeptisch: "Ein Antidepressivum? Was sollte ich damit? Bin ich denn wirklich depressiv? Ich fühle mich zwar schlecht, aber unter Depressionen stelle ich mir etwas anderes vor: den ganzen Tag herumhängen, nicht mehr essen wollen, sich tagelang nicht waschen."

Verblüfft an diesem Buch hat mich vor allem, wie wenig sich Viktor Staudt mit seinem Leiden auseinandersetzt, wie stark er einer Konfrontation damit ausweicht. Sicher, der Gedanke streift ihn schon, doch mehr als die Überlegung: "Vielleicht hätte ich ihre Diagnose nicht nur zur Kenntnis nehmen und ihren Abschlussbericht nicht zerreissen und wegwerfen sollen, um so dessen Existenz auszulöschen. Habe ich mir da etwas vorzuwerfen?" ist da eigentlich nicht.

Andrerseits gibt es da die Betreiberin einer Bar, die Viktor Staudt regelmässig beim Einkaufen sieht und die sagt: "Immer wenn ich Sie sehe, frage ich mich. Woher nimmt der Mann diese Energie? Es ist absolut inspirierend, Ihnen zuzusehen." Diese Energie teilt er mit diesem Buch. "Ich gebe nicht vor, allen helfen zu können, die depressiv sind oder sich mit Selbstmordgedanken tragen, schon allein weil ich kein Psychiater oder Psychologe bin. Allerdings meine ich, aus Erfahrung die Gefühle verstehen zu können und auch die Worte, die jemand mit den entsprechenden Problemen äussert. Und zuhören kann ich immer, sobald du anfängst zu reden."

Viktor Staudt
Die Geschichte meines Selbstmords
und wie ich das Leben wiederfand
Droemer Verlag, München 2014

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