Mittwoch, 4. Juni 2014

Vollopfer

Dieser Roman sei "eine gelungene Mischung aus Erziehungsratgeber und Krimi", wird ein Journalist aus dem Gratisblatt 20 Minuten auf der vierten Umschlagseite zitiert. Und: wie der Jugendpsychiater Hepp Psychotherapie und Ermittlungsarbeit kombiniere sei "ein grosser Lesespass. Auch dank einer Sprache, die sich herrlich an Wolf Haas' Brenner-Romanen orientiert."

Ein Lesespass war's für mich nicht. Vielleicht liegt es ja daran, dass mich Wolf Haas nicht anspricht (ich habe mich nur an einem seiner Krimis versucht und bin nicht weiter als ein paar Seiten gekommen) oder ich auf eine andere Art Krimi (Ross Macdonald, James Lee Burke) stehe. Sprachlich, so mein Eindruck, biedert sich der Jugendpsychiater Hepp forciert-originell bei seinen Patienten an: er klingt. als ob er einer von ihnen wäre.

Ich habe Vollopfer nicht als Krimi gelesen (spannend fand ich die Lektüre nicht), sondern habe mir vom Autor Aufschlüsse über die Jugendpsychiatrie erwartet ... und die habe ich dann auch gekriegt.

"Das war ohnehin eine Grundüberzeugung vom Hepp, dass jeder in jedem Moment das subjektiv Bestmögliche tut. Das ist vielleicht nicht so ganz einfach einzusehen, warum es das Beste sein soll, sich mit Nylonfaden die Finger zusammenzunähen, wie das Yasmin gerne machte, aber wenn man genau darüber nachdachte, dann war es eben wohl doch in dem Moment das Beste, was die Yasmin in ihrer Situation an dem Tag in der Stimmung tun konnte, weil zum Beispiel besser als von der Autobahnbrücke Steine werfen oder sich selber." Ob das auch für das Sich-Ritzen, Seitensprünge oder Selbstmord gilt?

Schon mal den Begriff Probedeutung gehört? Ich nicht und begann zustimmend zu schmunzeln, als ich da las:
"Probedeutungen, würde der Psychoanalytiker da sagen, und damit meint er: Man kann es ja mal versuchen. Wenn ich über die Jahre dreihundert, vierhundert Interpretationen liefere, wie man Jelenas Schweigen verstehen könnte, wer weiss, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist die richtige schon irgendwann mal dabei – vielleicht. Dabei wusste der Hepp ja gut genug, dass die meisten Mutisten einfach Angst haben, Angst vor Menschen, Angst davor, sich zu zeigen."

Sehr schön auch die Definition psychoanalytischer Deutungen als "eigentlich Fragen, aber ohne Fragezeichen am Schluss."

Der Autor Frank Köhnlein, Experte für psychische Störungen im Jugendalter, wie der Klappentext mich informiert, arbeitet seit 2002 als Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik in Basel und schreibt (für mich) dann am Überzeugendsten (und auch am Witzigsten), wenn er sich über Medizin, Psychologie und Psychiatrie und ihre Repräsentanten auslässt. Hier eine Kostprobe:

"Das ist jetzt halt auch Psychologie,: Da sagst du dir, sicher bekomme ich dieses Jahr zu Weihnachten eh wieder ein Hemd, und dann weisst du das praktisch schon sicher, und dann bekommst du das Hemd natürlich, und als hättest du dir im Traum nicht vorstellen können, dass die Frau so fantasielos ist, bist du enttäuscht. Warum das so ist, da müsste man jetzt auch wieder einen Psychologen fragen, die haben das studiert."

Frank Köhnlein
Vollopfer
Ein Hepp-Roman
Wörtherseh Verlag, Gockhausen 2013
www.woerterseh.ch

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