Mittwoch, 27. Juli 2011

Psychotherapeuten im Visier

Im Jahre 2005 erschien im Münchner Kösel Verlag Holger Reiners' „Das heimatlose Ich. Aus der Depression zurück ins Leben“, worin der Autor forderte, man solle den Arzt fragen, wie "sein Behandlungskonzept und der zu erwartende Zeitrahmen bis zum Behandlungsende in etwa aussehen“ und zudem „immer wieder die vom Therapeuten vorgeschlagenen Behandlungsschritte zu hinterfragen“ sowie „nach dem Behandlungsansatz fragen, nach den Behandlungszielen und warum wann welcher Schritt aus Sicht des Arztes notwendig ist."

In seinem neuesten Werk, „Psychotherapeuten im Visier“, verlangt Holger Reiners so recht eigentlich dasselbe. Es bedürfe "eines radikalen Umdenkens im Umgang mit Menschen, die unter seelischen Krankheiten leiden. Wir müssen sie endlich ernst nehmen, ihnen ärztliche Aufmerksamkeit widmen und seelische Erkrankungen ebenso gleichrangig behandeln wie somatische.“

Als ich das las, kam mir diese Stelle in Tim Parks' „Die Kunst still zu sitzen“ in den Sinn:
„Kommen wir noch einmal zu den körperlichen Aspekten.“ Aber dann hielt ich inne. „Oder wollen sie behaupten, es sei alles rein psychosomatisch?“
Ein Lächeln breitete sich langsam auf dem Gesicht des Arztes aus. „Das ist ein Wort, für das wir kaum Verwendung haben, Mr. Parks.“
Ich schaute ihn an.
„Man spricht nur von psychosomatisch, erklärte seine Frau, „wenn man der Auffassung ist, Körper und Geist könnten je getrennt sein.“

Nun gut, das ist eine indische Auffassung, und vielleicht etwas zu radikal verschieden von dem, was der westliche Mensch sich so gewohnt ist, als dass ich hier darauf eingehen will. Ich will übrigens auch gar nicht so tun, als ob ich das wirklich könnte, ich fand einfach den indischen Ansatz faszinierend. Doch zurück zu Reiners' Psychotherapeuten: „Psychotherapeut – ein grosses Wort, das geradezu pathetisch die Sonderrolle des Akteurs assoziiert. Wie anders klingt dagegen die Bezeichnung 'Schmerztherapeut'! An einen Schmerztherapeuten hat der Patient klare Erwartungen: Seine Schmerzen besonders bei schweren Erkrankungen soweit es geht schnell und nachhaltig zu lindern.“

Bei aller Sympathie – die Wahrheit ist konkret ! – , das Problem bei der Depression (wie auch bei Burn Out, Alkoholismus, Kokainsucht etc.) liegt ja nicht zuletzt darin, dass man bislang nicht hat klären können, wie sie eigentlich entsteht. Und damit eben auch nicht wirklich weiss, wie sie zu behandeln ist. Nicht weil jeder Fall so wahnsinnig verschieden und eine Behandlung deswegen nicht standardisierbar ist (Reiners wirft den Psychotherapeuten zu Recht vor, dass sie sich hinter diesem Argument verstecken), sondern weil das menschliche Verhalten zu komplex und rätselhaft ist, als dass es „wissenschaftlich“ vorher gesagt werden könnte. Anders gesagt: den fachlich kompetenten Psychotherapeuten (und das meint: den Spezialisten für seelische Probleme), den Reiners fordert, kann es so recht eigentlich gar nicht geben. Aus dem simplen Grund, weil es gar keine objektiven Kriterien oder Tests zur Feststellung einer Depression oder von seelischer Gesundheit gibt.

Ganz unbedingt zuzustimmen ist Reiners hingegen bei seiner Forderung, dass der Kranke vom Therapeuten mit grosser Empathie empfangen werden sollte. Doch „genau das entspricht nicht dem Selbstverständnis der Therapeutenzunft. Sie setzt zuerst einmal auf Distanz, spontane Herzlichkeit und eine Geste der Zuversicht gehören nicht zum therapeutischen Ritual. Der Patient soll bewusst auf sich selbst gestellt bleiben – ich nenne es hilflos sein.“

Es gibt (wenige) Therapeuten, die zugeben, dass sie hilflos sind. Das macht sie menschlich. Und deswegen gelegentlich kompetent. „Nit nit ay garabam“, sagen die senegalesischen Wolof, der Mensch sei des Menschen Arznei. Bei seelischen Problemen gilt das ganz unbedingt.

Holger Reiners
Psychotherapeuten im Visier
Diederichs Verlag, München 2011

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