Sonntag, 7. Dezember 2025

Die Flüchtigkeit des Lebens

Das ist noch nicht mein Leben, dachte es die meiste Zeit meines Lebens so in mir. Dass das lächerlich ist, weiss ich, doch wer kommt schon gegen seine Gefühle an. 

Statt unserem Verstand die ihm gehörige Rolle zuzugestehen, glorifizieren wir die Gefühle, berufen uns auf Instinkt, Intuition und Bauchgefühl, denen wie sowieso ausgeliefert sind. 

Meine Gefühle verleiten mich zu vielem, was mir nicht bekommt; so wollen sie etwa nichts wissen von Endlichkeit, auch wenn diese dem Verstand einleuchtet. Doch es gibt Momente, in denen das Herz zu erfassen scheint, was der Vernunft schon lange klar gewesen ist. Ich kann heute sterben, ging mir letzthin beim Aufwachen durch den Kopf. Gut möglich, dass dieser Gedanke auch deshalb mein Herz erreichte, weil es mir tags zuvor geradezu unfassbar erschien, dass der neue Papst jünger ist als ich selber bin. Jedenfalls kam ich während dieses Tages immer mal wieder darauf zurück, was mir dieses Heute nicht nur sehr eigenartig, sondern gänzlich unfassbar erscheinen liess. 

Wie einen Traum erlebte ich diesen Tag, an dem ich bei Richterswil dem Zürichsee entlangging, Fotos machte, und mit einem jungen IT-Mann mit Hund ins Gespräch kam. Ein anderer Mann, ebenfalls mit Hund, kommentierte dessen ausgiebiges Rumschnüffeln an Allem und Jedem mit „Hundezeitung“ (der Hund informiere sich gerade, wer wann und von wo hier durchgekommen sei). Mir dabei immer wieder von Neuem ins Gedächtnis zu rufen, dass jederzeit alles zu Ende sein kann, verscheuchte meine Ängste, erlaubte mir immer wieder von Neuem, die Gegenwart zu erleben.
Fotos zeigen bekanntlich, was sich in einem bestimmten Moment vor der Kameralinse befunden hat. Fotografieren bedeutet Festhalten-Wollen. Zu wissen, dass man nichts festhalten kann, dass der Glaube, man könne es, eine Illusion ist, hat das Potential, Fotos zu dem zu machen, was sie auch sein können: Erinnerungen an die Flüchtigkeit des Lebens.

Mittwoch, 3. Dezember 2025

Von der Faszination des Alltags

 Aussergewöhnliches, Spektakuläres hat mich nie gereizt; bei sogenannt grossartigen Taten wie der Besteigung des Mount Everest wunderte ich mich jeweils: Wozu das Ganze? Nichtsdestotrotz: Respekt, ja Bewunderung für aussergewöhnliche Leistungen wie etwa die Mondlandung oder die Errungenschaften der Wissenschaft sind mir nicht fremd, im Gegenteil.

Seit meiner Jugend fasziniert mich das Gewöhnliche, das Unspektakuläre, das sogenannt Banale. Das geht von Reihenhaussiedlungen bis zu endlos weiten Ebenen, von Unterhaltungen mit Schuhmachern und Buschauffeuren zum gelassenen Durchstreifen von unauffälligen Nebenstrassen mir unbekannter Städte. Robert M. Pirsig hat in seinem Zen und Die Kunst, ein Motorrad zu warten notiert, die Dakotas seien ihm deshalb so lieb, weil sie nichts Besonderes versprächen und deshalb auch nichts einlösen müssten.

Warum dem so ist, kümmert mich heute wenig. Wie schrieb doch Wilhelm Busch in Der Schmetterling: „Kinder, in ihrer Einfalt, fragen immer und immer: warum? Der Verständige tut das nicht mehr; denn jedes Warum, das weiss er längst, ist nur der Zipfel des Fadens, der in den dicken Knäuel der Unendlichkeit ausläuft, mit dem keiner recht fertig wird, er mag wickeln und haspeln, so viel er nur will."

Im Nachhinein, so scheint mir, hat diese Faszination für das Alltägliche mein Leben geprägt. Ja, mehr noch: Wenn meine Einsichten und Erkenntnisse meinen Alltag nicht zu verbessern vermögen, so dachte und so denke ich, sind sie bestenfalls interessant. Hilfreich sind sie nicht.

Was ich von mir lieben Verstorbenen erinnere, sind nicht ihre Werke, sondern ihre Alltagspräsenz. Von Laurence, ihre Wärme und ihren Witz; von Irène, ihr Lachen und ihre Neugier; von Lucette, ihr hilfsbereites, pragmatisches Naturell, von Valérie, ihre Freude am Spielerischen.

***

Unserer Kultur des Wettbewerbs, des Einzigartigen und des Speziellen, ist nur schwer zu entgehen. So stellte ich mir jahrelang vor, dass, wenn ich etwas ändern wolle, dies nur an einem speziellen Tag möglich sei. Und obwohl ich zu wissen glaubte, dass ein solches Denken völlig unsinnig ist, ereigneten sich entscheidende Veränderungen in meinem Leben an sehr speziellen Daten. Keinen Alkohol mehr seit dem 1.1.1990; keine Zigaretten mehr seit dem 9.9.1999.

Nichtsdestotrotz weiss ich, dass so recht eigentlich jeder Tag ein spezieller Tag ist. Damit dieses Wissen auch Folgen hat, muss ich mich jeden Tag mehrmals daran erinnern – und dann entsprechend handeln, und das meint: Die Dinge langsam tun, immer mal wieder innehalten und mich daran erinnern, dass dieser Tag und dieses Jetzt, so weit wir wissen, nur gerade in diesem Moment existieren. Meistens scheitere ich daran, dass ich schnelle und anhaltende Resultate erwarte. Mir dies bewusst zu machen, lässt mich geduldiger üben.

Alltag bedeutet mir, dass dieser Tag alles umfasst, das mein Leben ausmacht.

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In der Schule wurden wir dazu angeleitet, etwas aus unserem Leben zu machen. Etwas wollen, sollten wir, und nicht etwa bloss aus dem Fenster schauen. Sich zu konzentrieren war angesagt, auf dass wir nicht auf blöde Gedanken kämen. Nie wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Existenz zuallererst ein Wunder ist. Und dass es darum gehen sollte, sich dieses Wunders bewusst zu werden.

Dass die Schule dazu da ist, uns ins herrschende System zu integrieren, leuchtet ein, denn der Mensch sucht Stabilität, und dazu verhilft ihm das System. Dabei wird völlig ausser Acht gelassen, darauf hinzuweisen, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass es uns überhaupt gibt, wir gehen, atmen und uns verlieben können. Und dies führt letztlich dazu, dass wir mit uns und allem um uns herum nicht pfleglich umzugehen wissen.

Hinschauen und etwas auf mich wirken lassen; mein Unbewusstes weiss selber, was damit zu tun ist. Ich muss es nur lassen. Não pense, veja (Denke nicht, schau) hat es ein brasilianischer Zen-Buddhist einmal formuliert.

Santa Cruz do Sul, 7. Februar 2025

Sonntag, 30. November 2025

Das Spiel, das nicht wir spielen

Montbéliard, am 11. Juli 2025

Ich durchstreifte mehrere Länder und beschäftigte mich mit Dingen, die sich aus nichts zu etwas entwickelten und dann wieder zu nichts zerfielen, bis das Schicksal mich schliesslich nach Amsterdam zurückbrachte. Die Kräfte, die mich trieben, waren jenseits meiner Kontrolle. Wieder einmal war ich ein  Hampelmann, eine durch Fäden und metallene Haken bewegte Marionette, die in unverständlicher Weise programmiert ist und mal hier, mal dort heruntergelassen wird, um ihren kleinen Tanz fortzusetzen. Aber es war ein Tanz geworden und kein deprimierendes, schmerzhaftes Gestampfe mehr. Ich hatte angefangen, Spass an dem Spiel zu finden, das irgendeine Kraft oder Kräfte mit mir spielten.

Janwillem van de Wetering: Ein Blick ins Nichts

Mittwoch, 26. November 2025

Das Geschäft mit der Sucht

Seit fünf Jahren fährt Joel im Rettungswagen, er ist abhängig von Pillen. "Das Leben in der Abhängigkeit ist einsam, und die einzig wichtige Beziehung ist die zum Stoff." Seine Kollegen wissen Bescheid, trotzdem versteckt er seinen Konsum. Wie alle Drogenabhängigen hat er so seine Momente, wo er damit aufhören will. Und andere Momente, in denen er am liebsten für immer einschlafen würde.

Dora ist Ermittlerin bei der Polizei. Auch sie ist abhängig von Tabletten und besucht Treffen der Anonymen Alkoholiker, von denen die meisten Rückfälle erleiden. Ein Kollege, von dem sie vermutet, er habe ein Alkoholproblem, unterstützt sie. Sie unterlässt es, ihn auch zu den Treffen zu drängen; sie weiss, dass Drängen nichts nützen würde.

Doras Polizeikollege Rado, ein alleinerziehender Vater, ist von der Kriminalpolizei in die Rauschgiftabteilung gewechselt. Sein Bruder Zeljko verdient als Profi-Killer sein Geld und hatte einst versucht, Dora umzubringen, was sich wie eine Parodie aus einem Lehrbuch für Kriminologie liest: Der eine wird Polizist, der andere kriminell.

Joel, der Rettungssanitäter, wird tot aufgefunden. Dora, die wusste, dass Joel ein Suchtproblem hatte, und Rado werden auf den Fall angesetzt. Dann stirbt ein dreijähriges Mädchen, dessen Eltern drogenabhängig sind und dessen Grossvater ein Grossdealer ist, und Dora will einen Versuch mit Halluzinogenen wagen.

Doch ich will hier nicht die Handlung dieses abwechslungsreichen in Island ("Isländer haben eine lange Geschichte von Suchtkrankheiten, schon die ersten Siedler betranken sich mit Bier und berauschten sich mit Pilzen.") spielenden Krimis nachzeichnen, sondern hervorheben, was ihn zu einer wirklich tollen Lektüre macht.

Da sind etwa die vielfältigen Bezüge zum Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker, das ich allen Therapieansätzen weit überlegen finde, weil bei diesen Treffen die Leute aus eigener Erfahrung wissen, wovon sie reden. Dass Jón Atli Jónasson die Treffen sachlich und mit einen Blick für die Absurditäten der menschlichen Selbstinszenierung schildert, ist eine besondere Freude. "Als Nächstes tritt ein Mann in schwarzem T-Shirt und Anzug mit Frisur im Achtziger-Jahre-Stil ans Rednerpult (...) Der Mann ist Musiker, hatte vor über dreissig Jahren einmal einen grossen Hit, von dessen Erfolg er immer noch zehrt (...) Am Ende seines Vortrags betont er noch, dass er ohne Demut heute nicht clean wäre. So etwas zu sagen und dabei ein T-Shirt mit einem Bild von sich selber zu tragen, muss man erst mal bringen." Wunderbar!

Und da sind die schlauen Beobachtungen, die Autoren eigen sind, die mit einem nüchternen Blick durch die Welt gehen. "Man darf sein Leben ungestört ruinieren, solange man zur Arbeit erscheint und sein Ding macht, überlegt Dora." Oder: "Sie weiss sogar die genaue Fläche, das Einkaufszentrum ist 62000 Quadratmeter gross – aber gleichzeitig kann sie sich nicht mehr daran erinnern, mit wem sie zum ersten Mal Sex hatte." Oder: "Rado konnte ihn schon immer direkt durchschauen. Er sieht irgendeinen Kern, der ihm selbst verborgen ist."

Gift habe ich hauptsächlich als einen Krimi über Sucht gelesen; die Aufklärung, die er bietet, sollte aufrütteln. "Wenn man von Überdosis spricht, klingt es für Dora so, als gäbe es auch eine normale Dosis, so etwas wie eine empfohlene Tagesdosis. Und wer von einem Suchtproblem spricht, redet ihrer Meinung nach eine lebensgefährliche, unheilbare Krankheit klein. Man spricht schliesslich auch nicht von einem Krebsproblem."

Gut geschriebene, fesselnde Krimis lehren mich mehr über die Welt ("In den USA stirbt alle fünf Minuten jemand an einer Überdosis Fentanyl, dagegen war Covid ein Witz.") als die Nachrichten. Gift ist einer dieser gut geschriebenen, fesselnden Krimis.

Jón Atli Jónasson
Gift
Ein Fall für Dora und Rado
FISCHER Scherz, Frankfurt am Main 2025

Sonntag, 23. November 2025

Akzeptanz

Bei den AA habe ich gelernt (genauer: gehört), "acceptance is the key to everything". Das scheint mir bei allem, was ich an Spirituellem etc. mir seit meiner Jugend reingezogen habe, immer noch das beste. Was meint das?

Die Wahl der Miss Nikkei auf Brasilianisch in Porto Alegre vor einigen Jahren war so eine Art absurdes Theater. Jede der 15 Kandidatinnen hatte ihren Supporter-Klub, der brüllte, schrie und ohrenbetäubend pfiff, wenn sie auftrat. Wie beim Fussball. Grauenhaft. Und ich fand mich völlig fehl am Platz. Und gleichzeitig fand ich auch gut, dass ich dort war. Weil ich irgendwie das Gefühl hatte, alles müsse so sein, wie es ist. Unabhängig davon, was ich davon finde. Genau das gleiche Gefühl hatte ich auf der Rückfahrt nach Santa Cruz, obwohl zwei Stunden im Auto durch die Nacht zu rasen, nicht gerade meinen Vorstellungen von einem sinnvollen Leben entspricht. Und dieses Gefühl habe ich gar nicht so selten, es kommt nur darauf an, ob ich es wahrnehmen will. Mit andern Worten: die Dinge sind, wie sie sind. Und ich bin wie ich bin. Manchmal voller Trauer, gelegentlich voller Zuneigung, aber auch deprimiertheit, von Angst bestimmt, Freude erfahrend und lachend.

"Es ist alles so traurig", sagte mein Freund Wamse häufig. Aber auch: "Wenn wir unsern Humor nicht hätten". Was wir möchten ist nicht so wichtig. Wir wollen eh ständig was anderes. Oder aber wir wollen mehr, kaum haben wir was wir wollen. Wichtig scheint mir: Lernen, das zu wollen, was wir haben. Oder: Das tun zu wollen, was wir tun. Denn es sind unsere Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, die uns im Weg stehen, nicht die Wirklichkeit. Aber Erwartungen etc. gehören doch zum Menschen, Hoffnungen und Wünsche treiben uns doch an? Sicher, doch ist die menschliche Natur eben auch dergestalt, dass sie nie genug kriegt. Und das ist das Problem. "When we understand nature, we can change it, we can detach from it, we can let go of it. Then we won't suffer anymore", sagt der thailändische Mönch Ajahn Chah.

Mittwoch, 19. November 2025

Die Entdeckung des Selbst

Bereits nach den ersten Seiten ist mir klar, dass dies ein wesentliches Werk ist. Genauer: Ein für mich wesentliches, denn wofür Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard stehen, ist mir nahe. „Die Gedanken der drei Aussenseiter trafen sich in einem entscheidenden Punkt, in der Ansicht, dass ein Leben gelebt werden muss, um verstanden werden zu können.“ Das Denken der drei kreiste um das Selbst und dieses „verweigert sich der Kommunikation, die auf Verständigung und Integration pocht, es beharrt auf einer eigensinnigen Souveränität, auf dem Unsagbaren."

Sehr schön zeigt Eberhard Rathgeb auf wie die drei Philosophen quer zum Zeitgeist standen. Die moderne Gesellschaft gründete auf dem Zusammenleben, das den Kompromiss erforderte – und dieser war ihnen fremd. „Das 19. Jahrhundert kannte viele Kritiker der Gesellschaft, aber nur ganz wenige, die sich dem Sog der Moderne verweigerten und radikal Neues probierten.“ Ich fühlte mich an Wittgenstein erinnert, der gemäss seinem Biographen Ray Monk nicht bereit zur Diskussion war, wenn er eine Einsicht durch Inspiration gewonnen hatte.

Als Einzelgänger charakterisiert Autor Rathgeb die drei; als aristokratischen Radikalismus bezeichnet er, was sie vereint. „Das Gespräch der Zeitgenossen über Gewinn und Gerechtigkeit, Demokratie und Eigentum, fand ohne sie statt.“ Wie wünschte man sich solche Denker, die sich dem Mainstream verweigern, doch auch in der heutigen Zeit!

Die Kapitelüberschrift „Der Mensch ist nicht frei“ fasst Schopenhauers Denken treffend zusammen, denn der Mensch folgt dem in ihm angelegten Charakter. Auch E.T.A. Hoffmann sowie Kleist und später die Psychoanalyse sahen den Menschen von Kräften regiert, die den Vernunftgläubigen zuwider waren. Es sind auch Hinweise wie diese, die mich dieses Werk schätzen machen. Auch die moderne Hirnforschung bestätigt übrigens, dass das Gehirn nicht unwesentlich als Rationalisierungsinstrument zum Einsatz kommt.

Dass Schopenhauer von den an Universitäten Lehrenden nicht willkommen geheissen wurde, erstaunt wenig, was hingegen verblüfft (zugegeben, ich rede von mir), ist, dass er sich darob grämte. Da hatte er doch mit Die Welt als Wille und Vorstellung ein grundlegendes Werk geschrieben, das nicht nur Theorie, sondern von praktischem Nutzen war – doch die Anerkennung blieb aus! Und genau das, jedenfalls für mich, zeichnet ihn doch geradezu aus.

Schopenhauer gewann seine Erkenntnisse durch Anschauung. „Dass sein Werk nicht auf begrifflichen Ableitungen, sondern auf Anschauungen gegründet sei, hat er immer wieder hervorgehoben.“ Eberhard Rathgeb vergleicht die philosophische Erfahrung beim Abfassen von Die Welt als Wille und Vorstellung mit einer Reiseerfahrung, die ich so wunderbar finde (schon allein deswegen lohnt sich für mich dieses Buch), dass ich sie in voller Länge zitieren will.

Er sah aus dem Fenster der Kutsche, sah Wiesen, Felder und Dörfer, Städte, Berge und Flüsse an sich vorbeigleiten, sah sich selbst in der Kutsche sitzen und die Gegend betrachten und spürte sich als einen winzigen, durchgerüttelten Teil eines grossen unbekannten Ganzen, das zu ergründen auf einer Reise nicht gelingen konnte. Die Welt nahm ihn nicht zur Kenntnis, sie wies ihn ab, er war ihr egal. Die Bilder, die er von ihr erblickte, wenn er aus dem Fenster der Kutsche spähte, tauchten nur für Augenblicke auf und verschwanden sofort wieder. Die Landschaften zwischen London und Nîmes gingen unter, wenn er sie nicht als Vorstellung festhielt, so, wie er in der Fremde letztendlich einsam und verloren war und dort nur überleben konnte, wenn er, in den schwarzen Kasten des Ich gesperrt und von Pferdekräften davongetragen, mit philosophischem Gleichmut sitzen blieb und das Gefühl von Kommen und Gehen, Werden und Vergehen wie Luft einatmete und ausströmen liess und dem Weg folgte, den nicht er, sondern ein ihm fremder Kutscher zu kennen schien.“

Die Entdeckung des Selbst ist auch eine Einführung in das Werk dieser drei Philosophen, das nicht getrennt von deren Leben abgehandelt wird – im Gegenteil. Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche, bei aller Verschiedenheit, waren definitiv selbstherrliche Egomanen, allerdings keine Rechthaber, denn sie hatten (und haben) Recht. Jedenfalls sehe ich das so. Werde, der du bist, mit dieser Aufforderung lassen sie sich fassen.

Die drei Aussenseiter, so der Autor, dachten vom Gefühl aus. Sie schreiben über sich selbst, bemühen sich um ihre subjektive Wahrheit. Ihre Schriften sind sowohl Selbstfindung wie auch Selbstinszenierung. „Kierkegaard war bis zum letzten Atemzug ganz bei sich, und dies mit einer Intensität, wie sie nur wenigen Menschen eigen ist.“

Wie jedes Buch, so lädt auch Die Entdeckung des Selbst zur Identifikation ein. Mir selber stehen Schopenhauer und Nietzsche näher als Kierkegaard (die Gründe interessieren mich wenig, konventionellen Interpretationen misstraue ich; mir genügt, es zu konstatieren); Eberhard Rathgeb inspirierten die drei unter anderem, sich ausführlich und kenntnisreich mit Malern wie Degas oder Manet zu befassen, die er als „stumme Philosophen“ bezeichnet, die zeigen anstatt in Worte zu kleiden. „Die Maler können einen Augenblick zeigen, was jedem Schriftsteller und jedem Philosophen verwehrt ist, die beide auf Wörter angewiesen sind, flüchtige Wesen ohne Form und Farbe, die sich vor die sichtbare Welt schieben und den Augenblick in Sätzen verdunkeln und untergehen lassen.“

Selten ist mir deutlicher geworden, dass seit dem 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen Bestrebungen in der Integration gipfeln, dass seither der Akzent auf Eigeninitiative und Reformen sowie dem Kompromiss liegt. Im Gegensatz dazu stellten sich die drei Einzelgänger „an den Rand des Abgrunds und atmeten die kalte Luft der Erlösung im kosmischen Willen, in Gott, im Amor fati.“

Nicht zuletzt ist Die Entdeckung des Selbst auch ein wahrhaft aktuelles Buch, denn das Leben, „erklärte Nietzsche mit Schopenhauer, war grausamer und wilder als jeder theologische, historische und moralische Sinn, mit dem Rationalisten es zu bändigen und in eine trügerische Ordnung zu zwingen suchten.“ Der Ukraine-Krieg zeigt gerade, dass unsere üblichen Vernunft-Ansätze vor der Realität versagen.

Fazit: Wunderbar inspirierend! Ein wesentliches, überaus hilfreiches Werk.

Eberhard Rathgeb
Die Entdeckung des Selbst
Wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard die Philosophie revolutionierten
Blessing, München 2022

Sonntag, 16. November 2025

Diogenes von Sinope

 Ich durchsuchte die Kulturgeschichte nach einer Galionsfigur. Diogenes von Sinope, der kuriose griechische Philosoph, schien mir der Richtige. Obwohl ich in der Regel Philosophen nicht mag – ausgenommen dichtende Denker wie Montaigne, Schopenhauer, Emerson, Thoreau, Egon Friedell und Ludwig Marcuse – , war Diogenes mir besonders sympathisch, weil er nicht nur theoretisch, sondern auch durch seinen Lebensstil alles Herkömmliche bekämpfte. Auch war er der erste Kosmopolit (er soll gesagt haben, er sei ein Bürger des Kosmos und die einzige richtige Staatsordnung sei das Weltall), und auf die Frage, was die Philosophie nutze, soll er geantwortet haben: ›Wenn nichts anderes, so doch, dass man für jedes Schicksal gerüstet ist.‹ Seine Askese war nicht Weltflucht, sie war derbste Lebensbejahung. Und was mich erheitert: Keine Zeile von ihm ist erhalten, sein Geist aber lebt.

Daniel Keel