Mittwoch, 31. Dezember 2014

Whatever works

Newcomer: "My conscience finally brought me to the Program."
Old-Timer: "How so?"
Newcomer: "I kept seeing this eyeball staring at me from the bottom of my glass! I'm sure it was my conscience."
Old-timer: " Probably an olive. But never mind – whatever works!"

Ed F.
God grant me the Laughter
Hazelden Educational Materials, Center City, MI, 1989

Mittwoch, 24. Dezember 2014

Regel 62

Regel 62 ist eine gute Regel. Es gibt ein kleines grünes Buch und auf der Umschlagseite steht "Regel 62". Und wenn Du es öffnest, ist jede Seite leer, mit Ausnahme der Doppelseite in der Mitte. Und auf dieser steht: "Nimm Dich nicht so verdammt wichtig!"

Chuck C: Eine neue Brille

Mittwoch, 17. Dezember 2014

Ich will mein Leben zurück!

Co-Abhängigkeit sei nicht gleich Co-Abhängigkeit, schreibt Jens Flassbeck, doch es gebe einen gemeinsamen Nenner: "Der Suchtkranke erfährt auf der einen Seite eine Menge Aufmerksamkeit durch Sie und andere. Sie als Angehöriger erfahren auf der anderen Seite komplementär einen Mangel an Zuwendung und Beachtung."

Warum man das Co-Abhängigkeit nennt, ist mir nicht klar. Für mich ist das nichts anderes als Abhängigkeit. Konkreter: Selbst-destruktive Abhängigkeit. Schliesslich ist Abhängigkeit nicht notwendigerweise ein Problem, sondern gehört zum Leben: das Kleinkind ist von Mutter und Vater abhängig, die Gemeinschaft von ihren Mitgliedern, der Staat von seinen Mitbürgern.

Jens Flassbeck benutzt den Begriff anders: "Abhängigkeit ist stets ein soziales System. Das ist ein Leitsatz der modernen Suchthilfe. Das System, nicht das Symptom, sollte behandelt werden, so ist der plakative Anspruch."

Die Unterscheidung von Ursache und Symptom ist zwar in vielen Bereichen sinnvoll, im Bereich der Seele/des Unbewussten ist sie es jedoch nicht. Um es mit Paul Valéry zu sagen: Das Kausalitätsprinzip hat unserem Geist recht seltsame Streiche gespielt."

In der Tendenz, so Flassbeck, finde "der Suchtkranke jede Menge Aufmerksamkeit und Sie als Angehörige kaum Beachtung". Dauernde Nichtbeachtung tut niemandem (das schliesst Suchthelfer mit ein) gut, was also ist zu tun?

Im Kapitel "Werden Sie wieder Sie selber" zeigen die Untertitel an, in welche Richtung es gehen soll: Vorweg: Seien Sie geduldig mit sich; Reden Sie; Nehmen Sie Abstand und gönnen Sie sich Pausen; Wie geht es Ihnen?; Lassen Sie den Ballon der falschen Hoffnungen platzen; Werden Sie im Kleinen wieder für sich aktiv; Lernen Sie, sich besser abzugrenzen und Nein zu sagen; Klären und trennen Sie Mein und Dein; Schützen Sie sich und andere; Was Sie wirklich über Sucht wissen sollten.

Wer sich jetzt wundert, was die Frage "Wie geht es Ihnen?" in dieser Aufzählung zu suchen hat, sei darauf hingewiesen, dass co-abhängige Angehörige darauf meist mit ausführlichen Auslassungen über das Verhalten des Suchtkranken antworten. Dass das nicht gerade von einem gesunden Selbstwertgefühl zeigt, liegt auf der Hand.

Erfreulich klar hält Jens Flassbeck fest: "Der Suchtkranke ist Experte für seine Sucht, und er hat ein Problem, um das er sich kümmern sollte, was aber vor allem seine Verantwortung, Entscheidung und Aufgabe ist."

So recht eigentlich unterscheiden sich Sucht und Co-Abhängigkeit gar nicht so sehr. "Der Zwang, angeblich etwas tun zu müssen" ist bei beiden zentral. Weshalb denn auch Jens Flassbecks sehr pädagogisch vorgetragene Ratschläge genau so für Suchtkranke wie auch für ihre potentiellen Retter sinnvoll sind.

Jens Flassbeck
Ich will mein Leben zurück!
Selbsthilfe für Angehörige von Suchtkranken
Klett-Cotta, Stuttgart 2014

Mittwoch, 10. Dezember 2014

The Power of the Heart

Als Baptist de Pape sein Jura Studium beendet und eine Karriere als Anwalt vor sich hatte, klickte er sich eines Nachts "in einen Online-Kurs mit Oprah Winfrey und Eckhart Tolle ein, der  A New Earth: Awakening to Your Life's Purpose (Eine Neue Erde: Finde den Sinn deines Lebens) hiess. Was Oprah da sagte, weckte sofort mein Interesse: 'Ich glaube, es gibt nichts Wichtigeres, als den Sinn deines Lebens zu finden.' ... Just in dem Augenblick spürte ich einen so starken Impuls im Herzen, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Es war, als wollte das Herz direkt auf meine Frage antworten und mich auffordern, ihm zuzuhören, und zwar sofort." Er beschliesst, um die Welt zu reisen und achtzehn spirituelle Lehrer, Forscher und Denker zu interviewen. Das Ergebnis liegt nun vor: "The Power of the Heart."

Unter den Befragten finden sich neben Deepak Chopra, Paulo Coelho und Eckhart Tolle auch Isabel Allende, Marianne Williamson und Maya Angelou. Und noch andere bekannte Namen. Man kann sich füglich fragen, ob Leute, die im Lichte der Öffentlichkeit stehen (und sich möglicherweise darin sonnen), also über beträchtliche Talente in Sachen Selbstvermarktung verfügen, den Sinn Suchenden wirklich viel zu sagen haben.

Herausgeber Baptist de Pape ist ein Mann des Superlativs. "John Gray ist zweifellos der bekannteste Paarexperte der Welt" oder "Marci Shimoff ist eine der grössten Expertinnen der USA im Bereich von Glück, Erfolg und bedingungsloser Liebe" usw usw. Selbst die Orte, wo seine berühmten Zitate-Lieferer zu Hause sind, entgehen seinem Superlativ nicht. "Ich traf Coelho in seinem Büro bei ihm zu Hause in Genf – der für mich heiligsten aller Städte, weil er dort so viele wunderbare Bücher geschrieben hat." Wer schon einmal in Genf war, reibt sich da womöglich etwas verwundert die Augen.

Dieses Buch ist voll von Allerweltssätzen wie: "Wenn wir mit dem gegenwärtigen Augenblick verbunden sind, haben wir ein Gefühl von Fülle und Vollkommenheit." Schwer vorstellbar, dass das jemand bezweifelt, doch wie kommt man dahin? Leider erfährt man da nur sehr Unspezifisches. Etwa, dass man aufhören solle, nach dem oder der Richtigen zu suchen und selber der/die Richtige zu werden. So liest man über Linda Francis: "Erst nachdem sie einen Weg gefunden hatte, bei sich anzukommen und in sich selbst ganz zu sein, lief ihr der jetzige Lebenspartner Gary Zukav über den Weg." Ist ja schön und gut, und vielleicht hält ja diese neue Beziehung auch, doch hätte man als Leser gerne gewusst, wie Lindas Weg denn nun eigentlich ausgesehen hat ...

"The Power of the Heart" ist sowohl ein ärgerliches als auch ein hilfreiches Buch. Ärgerlich, weil vieles, was von den versammelten Berühmtheiten zitiert wird, von einer Banalität ist, die schwer zu übertreffen ist. "Der eigentliche Schlüssel zur Gesundheit ist das Gefühl, geliebt und umsorgt, gehört und verstanden zu sein." (Dean Shrock), "Vergebung spielt eine wesentliche Rolle für unser spirituelles Wachstum und unsere Entfaltung" (Michael Beckwith).

Hilfreich ist das Buch dennoch, weil man nämlich auch wirklich Bedenkenswertes präsentiert bekommt. Zwei Zitate will ich herausgreifen: "Jeder Augenblick ist einzigartig, unbekannt, vollkommen frisch und neu" (Pema Chödrön). "Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen" (Jesus).

Baptist de Pape
The Power of the Heart
Knaur Verlag, München 2014

Mittwoch, 3. Dezember 2014

Nüchtern

Der erste Satz, das behaupten viele, die schreiben (und auch viele, die lesen), sei der wichtigste, jedenfalls zentral. Der erste Satz in Daniel Schreibers "Nüchtern" geht so: "Es ist immer einfacher, sich an den Anfang einer Liebe zu erinnern als an ihr Ende." Klingt gut, stimmt aber eben nicht. Jedenfalls für mich nicht. Für mich ist das kein ehrlicher, sondern ein literarisch ambitionierter Satz. Und da Ehrlichkeit der Schlüssel zur Genesung ist, bin ich zum Auftakt schon skeptischer als mir eigentlich lieb ist.

Als Daniel Schreiber dann jedoch das allmähliche und unbemerkte Hineinschlittern ins zwanghafte Saufen beschreibt, ist meine Skepsis weg.

Wie gesagt, Ehrlichkeit ist der Schlüssel und das meint: das Hauptproblem bei der Sucht ist die Selbsttäuschung. "The first principle is not to fool yourself, and you are the easiest person to fool", sagte Richard Feinman einmal in einem ganz anderen Zusammenhang. Doch Verleugnung ist nicht allein ein individuelles Problem. Treffend hält Schreiber fest: "Alkoholprobleme werden auch auf einer kollektiven Ebene grossflächig verleugnet, und in Deutschland tatsächlich noch mehr als anderswo." Nun gut, das gilt auch für die Schweiz und so recht eigentlich für sehr viele, wenn nicht die meisten Länder. Eine löbliche Ausnahme bilden die USA.

"Deutschland gehört mit einem jährlichen Pro-Kopf-Konsum von 12,1 Liter reinem Alkohol zu den Ländern in denen deutlich mehr als anderswo getrunken wird." Ich halte das zwar für möglich, auch wenn ich solchen Zahlen hinten und vorne nicht traue. Gibt es sie auch für asiatische oder für afrikanische Länder? Und wie kommen sie zustande? Und was ist mit Russland und Osteuropa? Wie auch immer: Alkoholabhängigkeit ist sicherlich verbreiterter als gemeinhin angenommen, das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand, denn der Sucht-Wahrheit ins Gesicht zu sehen, ist wenig populär.

Wann man die Grenze vom Trinken zum Saufen überschreitet, weiss keiner wirklich zu sagen. Auch im Nachhinein nicht. Was einen letztlich dazu motiviert, mit dem Alkohol aufzuhören, ebenso wenig. Eine der verrückten, absolut surrealen Geschichten, die Daniel Schreiber erzählt, handelt von einem seiner Bekannten, der des zu vielen Trinkens wegen seine Familie verlor, eines Tages alkoholisiert in einen Baum raste, sich dabei fast jeden Knochen brach und anschliessend sechs Monate im Krankenhaus lag. Diese abstinente Krankenhaus-Zeit war ihm Beweis, dass er kein Problem mit Alkohol hatte. "Er hörte erst viel später auf zu trinken, ohne einen augenscheinlichen Grund und nachdem er es etliche Male vergebens versucht hatte."

"Momente der Klarheit sind seltsame Zufälle. Man muss sie beim Schopf packen, denn sie können einem das Leben retten."

Daniel Schreiber ist mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker trocken geworden. Die Identifikation mit anderen sowie simple Slogans wie "Nur für heute", die er anfangs für "unfassbar naiv und esoterisch" hielt, erwiesen sich dabei als hilfreich. Schliesslich lernte er die Realität zu akzeptieren wie sie nun einmal ist. Mit Höhen und Tiefen, guten und nicht so guten Zeiten..

"Nüchtern" zeigt differenziert auf, wie komplex und rätselhaft die Alkoholabhängigkeit ist. Neben der Geschichte von des Autors eigener Abhängigkeit und Genesung, informiert es auch vielfältig über die medizinischen und gesellschaftlichen Aspekte der Sucht, führt aus, wie geächtet der Alkoholismus noch immer ist und beklagt unter anderem, dass selbst Menschen, die wissen, dass es sich bei der Alkoholsucht um eine Krankheit handelt, diese mit Willensschwäche assoziieren.

Dass Daniel Schreiber sich bemüht, den Alkoholismus in einen grösseren Zusammenhang zu stellen (Alkohol als Hilfsmittel zur Entspannung, übermässiges Trinken wird tabuisiert, suchtgeprägtes Denken und Verhalten können karrierefördernd sein) ist begrüssenswert. Und auch problematisch. Weil nämlich die meisten Menschen kein Problem mit dem Trinken haben. Doch ums Trinken geht es eigentlich gar nicht, sondern darum, sich fürs Leben zu entscheiden.

"Nüchtern" liefert einen nüchternen Blick auf ein Tabu, es ist ein nützliches Buch.

Daniel Schreiber
Nüchtern
Über das Trinken und das Glück
Hanser Berlin 2014

Mittwoch, 26. November 2014

Lebensweisheiten

Das Leben schickt uns ständig Botschaften  und sieht dann gemütlich zu und lacht sich einen darüber ab, dass wir unfähig sind, aus ihnen schlau zu werden.

Im Rückspiegel beobachtete er kurz darauf die anderen beiden, die wild herumfuchtelnd über dem Verletzten standen und aufgeregt darüber diskutierten, was zum Teufel sie jetzt tun sollten. So hatten sie es sich wohl nicht vorgestellt.
Vielleicht sollte er wenden. Und ihnen sagen, dass genau so das Leben war – nichts als eine lange Abfolge von Ereignissen, die nicht so liefen, wie man es sich ursprünglich vorgestellt hatte.
Zum Teufel damit. Entweder kamen sie selbst dahinter oder eben nicht. Die meisten Menschen kapierten es nie.

Jedes Mal, wenn man dachte, man hätte es geschnallt, zeigte einem die Welt eine lange Nase und wechselte auf ihre eigene Spur zurück, wurde wieder unergründlich.

James Sallis: Driver

Mittwoch, 19. November 2014

Über Perfektionismus

Ein Perfektionist strebt Perfektion nicht an, weil er sich an der Vollkommenheit erfreut, sondern weil es ihm um die damit verbundene Unangreifbarkeit geht. Perfektionismus ist ein Vermeidungsverhalten: Wer perfekt arbeitet, kann weder getadelt noch kann ihm gekündigt werden.

Raphael M. Bonelli

Mittwoch, 12. November 2014

Diagnose: schwere Depression

Auf den ersten Seiten dieses Erfahrungsberichts fragt sich der Autor, warum Depressionen in Deutschland ein Tabu seien, und warum Schwäche "in einem menschlich oft so schwachen Land" ein Tabu sei. Dass Depressionen in Deutschland ein Tabu sind, ist mir angesichts der Ratgeber-Literatur neu, dass sie mit Schwäche gleichzusetzen ist, ebenso. Dann steht da auch noch, dass "Psychotherapien heute noch immer kaum akzeptiert" seien – und ich wunderte mich, mit wem Oliver Polak eigentlich Umgang pflegt, denn in meiner Wahrnehmung dominieren die verschiedensten Formen der Psychotherapie die Hilfsangebote für seelische Leiden geradezu. Ja, sie sind so allgegenwärtig, dass die Aussage, sie seien "heute noch immer kaum akzeptiert" womöglich ein Hinweis darauf ist, dass Oliver Polak in einer etwas sehr eigenen Welt lebt.

Er ist übergewichtig, voller Selbsthass, voller "Angst zu versagen, Angst, im Selbstmitleid zu ertrinken", fühlt sich antriebslos, leidet an Depressionen. Und landet in der Psychiatrie. Sehr gekonnt, die Szene, in der er seiner Mutter, in deren Welt psychische Erkrankungen nicht existieren, das erklärt. Und wie sie darauf reagiert. Sein Verhältnis zu ihr ist offenbar generell nicht ganz unproblematisch.

Er ist wütend auf alle und alles, und das schliesst ihn selber mit ein. Weder mag er sein Publikum noch andere Comedians und hat auch sehr eigene Vorstellungen davon, was gute Comedie ist. Das liest sich anregend und aufklärend.

Auch mit Deutschland hat Oliver Polak so seine Mühe, denn da werde, sobald man erwähne, dass man jüdisch sei, "einfach alles und noch viel mehr in den Holocaustmixer geworfen". Aha, und weshalb entscheidet er sich dann für einen Buchtitel wie Der jüdische Patient?

Sein Humor ist nicht mein Ding, seine Offenheit hingegen schon. Und die Udo Jürgens-Geschichte, die hier nicht verraten werden soll, ist so schön, dass nur schon sie allein die Lektüre dieses Buches lohnt.

Wie wir alle, so wehrt sich auch Oliver Polak gegen Veränderungen. Und wie bei allen, die viel nachdenken, steht ihm sein Verstand im Weg. "Sie missbrauchen Ihren Verstand. Sie reden und reden und reden. Sie reden so gerne!" Das meint nicht, dass er weniger reden soll. Das meint, dass er dort reden soll, wo es ihm bekommt  auf der Bühne etwa oder wenn er seiner Freundin sagen will, was er für sie empfindet.

In der Psychodramasitzung erklärt die Therapeutin, worum es geht. "Ich möchte, dass Sie aufwachen und nicht weglaufen vor Ihrem Leben. Dass Sie Verantwortung übernehmen. Fehlerfreundlichkeit ist das Stichwort." Zu akzeptieren, dass wir nicht perfekt sind und es auch gar nicht sein sollen, darum geht es.

Oliver Polak
Der jüdische Patient
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014

Mittwoch, 5. November 2014

Wie wir unsere Welt konstruieren

Träume? Was können wir darüber schon wissen? Ich jedenfalls erinnere mich fast nie an meine Träume, doch als ich in Stefan Kleins Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit las, dass Menschen über 55 in Schwarz-Weiss und nicht in Farbe träumen, fragte ich mich sogleich, und intensiv, ob dem wirklich so ist (ja) und wie das zu erklären ist. Das Kino hat die Traumwelt verändert, schreibt Klein. Genauer: die Schwarz-Weiss Filme haben wir Filmzuschauer auf die Szenen der Nacht (obwohl die farbig waren) übertragen.

Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit ist voll solch faszinierender Einsichten. Wussten Sie etwa, dass Blinde visuell träumen, also im Schlaf Bilder sehen? Aus der Erinnerung können diese Bilder nicht kommen, denn schliesslich kamen diese Menschen blind auf die Welt. Woher also dann?

Das Sehen entsteht nicht allein aufgrund der Wahrnehmung der Augen. Nur ein winziger Teil der 10 Milliarden Bit, die pro Sekunde auf den Netzhäuten eintreffen, gelangt ins Bewusstsein. "Offenbar löscht das Gehirn erst den grössten Teil des Bildes, um sich dann aus anderen Quellen ein neues zu schaffen. Fast 40 Prozent des Grosshirns befassen sich denn auch mit dem Verarbeiten visueller Informationen." Und wie geht das? "Lange dachte man, dass Bilder entstehen, indem die Assoziationsfelder die Rohinformation aus der primären Sehrinde geschickt zusammensetzen –
  wie ein Maler, der Linie für Linie, Fläche für Fläche, Farbe für Farbe sein Kunstwerk aufbaut." Doch das stimmt nicht, die Bilder sind nämlich schon da.

Wenn wir sehen, erinnern wir uns. Doch wie sollen sich Blinde an Bilder erinnern, die sie gar nie gesehen haben? "Bei vielen Blinden sind nur die Augen oder die primäre Sehrinde beschädigt, während die Assoziationsfelder funktionieren. Sie können deshalb visuelle und auch räumliche Vorstellungen haben. Weil sich die Imagination aber erstaunlich weit von der Wahrnehmung abkoppeln kann, funktioniert sie selbst dann, wenn ein Mensch niemals mit seinen Augen gesehen hat." Und das meint: die Augen sind nur Auslöser, es ist der Hirn, das sieht.

Stefan Klein bemüht das Beispiel der amerikanischen Schriftstellerin Helen Keller, die nicht nur blind, sondern auch taub war, jedoch sowohl einen Kristall als auch eine Rose beschreiben konnte und im Traum Geräusche wahrnahm. Wie ist das möglich? Es ist das Gehirn, das Bilder und Töne hervorbringt. Und damit unsere Wirklichkeit konstruiert.

"Wachen ist nichts anderes als ein traumartiger Zustand, der sich in einem Rahmen bewegt, den die Sinne ihm setzen", meint der aus Kolumbien stammende Hirnforscher Rodolfo Llinás, eine klare Trennung von Wach- und Traumzustand ist demnach illusorisch. Ich jedenfalls gehe meist auf Autopilot durchs Leben. Und Paul McCartney hörte die Melodie von "Yesterday" zum ersten Mal im Schlaf.

Von Verfolgungsjagden, Sex, dem Fallen und der Erfahrung, etwas immer wieder vergeblich zu versuchen, haben die meisten von uns schon geträumt. Kaum jemand träumt jemals davon, vor dem Computer zu sitzen oder zu lesen. Ich selber träume oft davon, Prüfungen noch einmal bestehen zu müssen – Traumdeuter werden die Prüfung als Symbol für einen tieferliegenden Konflikt sehen, das ist jedoch reine Spekulation.

Was Stefan Klein dazu zu sagen hat, scheint mir wesentlich hilfreicher: "Wir versuchen ständig, Gefühle durch Ereignisse zu erklären, indem wir sie als eine Reaktion auf das begreifen, was uns zustösst. Wenn wir uns ärgern, suchen wir den Grund darin, dass uns jemand schlecht behandelt hat. Und wer guter Stimmung ist, sieht die Ursache in einem Erfolgserlebnis, einer netten Begegnung – oder in der Sonne, die plötzlich durch den deutschen Novemberhimmel bricht."

Woher unsere Gefühle genau kommen, sei es im Wachzustand, sei es im Schlaf, wissen wir nicht wirklich. Was wir für die Wahrnehmung der Aussenwelt halten, so Stefan Klein, sei zum grössten Teil in unseren Köpfen entstanden. "Mit Gefühlen verhält es sich genauso. Wir konstruieren uns eine emotionale Realität – und machen dann die Umwelt für unsere Empfindungen verantwortlich."

Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit ist weit mehr als ein sachkundiger Text über Träume  – es ist ein überaus anregendes Buch darüber, wie unsere Welt-Wahrnehmung funktioniert, im wachen wie auch im schlafenden Zustand.

Stefan Klein
Träume. 
Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014

Mittwoch, 29. Oktober 2014

Das verlorene Wochenende

"Grossartig und erschreckend ... der beste Roman über Alkoholismus, den ich je gelesen habe", soll Kingsley Amis über Charles Jacksons Das verlorene Wochenende gesagt haben. Mein bester ist er nicht – meiner ist James Freys A Million Little Pieces – doch ein guter, ja ein wirklich guter, das ist Das verlorene Wochenende schon.

Manhattan 1936, die Zeit der Weltwirtschaftskrise (The Great Depression). Der Schriftsteller Don Birman trinkt. Sein Bruder Wick sorgt sich um ihn, versucht erfolglos, ihn zu einem langen Wochenende auf dem Land zu überreden, doch Don zieht lieber durch die Bars, wo er auch einmal auf einen Mann trifft, der an derselben Uni studiert hat und die selben Leute kennt   er ist nüchtern, als er bei dieser Unterhaltung erfährt, wie er ein unangenehmes Vorkommnis in seiner Vergangenheit verdrängt hat ... und geht dann schnurstracks nach Hause, um sich zu betrinken. Beeindruckend, wie gekonnt Charles Jackson diese Szene schildert, Dons Anspannung ist fast mit Händen zu greifen.

Überaus überzeugend ist auch die Schilderung des Morgens danach. Der Mix von Selbstvorwürfen, Unsicherheit, Unruhe und Angst, die einen Hangover charakterisieren, fasst Jackson in Sätze, die eindrücklich klarmachen, was ein Alkoholiker für einen Preis für sein Saufen zu bezahlen hat. "An der 56sten blieb er am Fussgängerüberweg stehen. Er war so nervös, dass er seinen Sinnen nicht traute. Ängstlich blickte er wieder und wieder zur Ampel, bevor er den sicheren Bordstein verliess, und selbst dann war ihm noch bang ... Wie oft war er an Vormittagen wie diesem ... an denen er wirklich nicht wusste, ob er beim nächsten Schritt ohnmächtig werden würde ... Vormittagen grotesker, unerklärlicher Panik davor, dass jemand in einem Moment der Unaufmerksamkeit seinen Blick auffangen und ihm direkt in die Augen schauen würde ...".

Er landet in der Klinik, auf der Alkoholstation, hat keine Ahnung, wie er dahin gekommen ist. Er hat eine Schädelfraktur und wird Zeuge, wie Mitpatienten auf die einfachsten Fragen der Ärzte keine Antwort wissen. Der Schock darüber hält nicht lange an, er säuft weiter ...

Charles Jackson soll es wichtig gewesen sein, grosse Literatur und nicht etwa nur ein gutes Buch übers Saufen geschrieben zu haben. Ich weiss nicht wirklich, ob ein Buch grosse Literatur ist oder nicht  , klar, bei einigen spüre ich das, etwa bei Goethes Wahlverwandtschaften oder bei einigen Erzählungen von Alice Munro  , doch mich beschäftigt das eigentlich auch nicht sehr. Ein gut geschriebenes Buch ist Das verlorene Wochenende allemal. Und eines, das unter anderem klar macht, was einen Alkoholiker von einem Normalo unterscheidet: "... empfand er tiefe und hochmütige Verachtung für diejenigen, die Alkohol am Morgen danach verschmähten, denen sich, von der Ausschweifung der Nacht noch durchgeschüttelt, schon beim blossen Gedanken daran der Magen umdrehte."

Der 1903 in Summit, New Jersey, geborene Charles Jackson war selber Alkoholiker. Er weiss also, wovon er schreibt. Und das merkt man, auch wenn sich gelegentlich Denkfehler einschleichen. "Er trank nicht, weil er durstig war, und auch nicht, weil es ihm schmeckte (Whisky war im Grunde genommen scheusslich, er stürzte ihn immer möglichst schnell herunter): Er trank wegen der Wirkung, die es auf ihn hatte." Die Klammer-Bemerkung suggeriert, dass er den Whisky schnell herunter stürzt, weil er den Geschmack nicht mag. Eine typische Alkoholiker-Rationalisierung, denn der Geschmack ist einem Alki sowieso egal. Es ist eher so: Er stürzt den Whisky schnell herunter, weil so die gewünschte Wirkung schneller eintritt!

Aus dem Nachwort von Rainer Moritz erfahre ich, dass sich Jackson eine Zeitlang den Anonymen Alkoholikern angeschlossen hatte "und war auf deren Zusammenkünften ein gefragter Redner, was nicht zuletzt am Erfolg seines Trinkerromans Das verlorene Wochenende lag, der auch auf eigenen leidvollen Erfahrungen beruhte." Man darf aus diesen Worten schliessen, dass Rainer Moritz noch nie an einer solchen Zusammenkunft war, denn da reden ausschliesslich Leute, die selber leidvolle Erfahrungen gemacht haben. Stars sind da verpönt.

Moritz weist auch darauf hin, dass Jackson sich gewehrt habe, primär als Suchtexperte wahrgenommen zu werden: "Ich bin zuallererst Schriftsteller und erst dann Nichttrinker." Nun ja, Nichttrinker war er offenbar nicht gerade häufig, denn Rückfälle in die Sucht seien an der Tagesordnung gewesen, so Moritz. Ich selber sehe Jackson als Trinker, der schreibt, der sehr gut schreibt, so wie es ein Nichttrinker gar nicht könnte, weil ihm ganz spezifische Erfahrungen fehlen: "Er hätte nicht geschickter und vorsichtiger, nicht mehr Herr seiner kleinsten Bewegung sein können – dazu war nur der Betrunkene fähig, der gerade betrunken genug ist, um genau zu wissen, was er tut, mit einer Klarheit, die dem Nüchternen versagt ist. Oh, und es zugleich auch nicht zu wissen. Das war das Demütigende und Gefährliche daran. Betrunken genug, um zu wissen, was er tat, aber nicht, was die anderen taten."

Charles Jackson
Das verlorene Wochenende
Dörlemann Verlag, Zürich 2014

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Zukunftsgeschwätz

Die Menschen, die immer von der besseren Zukunft schwatzen, sind die grössten Verderber der Welt. Der Glaube an eine bessere Zukunft, er vor allem, muss den Menschen genommen werden. Denn schliesslich haben wir es ihm zu verdanken, dass wir uns ewig im Kreise drehen. Die Namen wechseln, die Institutionen wechseln, die Sache, nämlich der Mensch, bleibt immer derselbe. Es kommt aber gerade darauf an, dass der Mensch ein anderer wird. Die Fortschritte der Wissenschaft, der Institutionen sind daneben eine gleichgültige Spielerei.

Hans Albrecht Moser: Vineta

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Eine Rückkehr ins Leben

Der New Yorker Literaturagent Bill Clegg war nach einer zwei Monate dauernden Drogenorgie in der psychiatrischen Abteilung von Lenox Hill, einer Alkohol- und Drogenentzugsklinik, gelandet. Vier Wochen später kehrt er nach New York zurück. "Die kleine Literaturagentur, die ich vier Jahre als Mitinhaber geleitet habe, gibt es nicht mehr, alle meine Klienten haben sich neue Agenten gesucht, unsere Angestellten haben neue Jobs oder sind weg aus New York, und weg ist auch das Geld, das ich mal hatte; geblieben sind wachsende Schulden bei Anwälten, Krankenhäusern und Entzugskliniken ...".

Es gibt Süchtige, bei denen ist der Drang/das Verlangen nach der Droge nach dem Aufhören plötzlich weg, bei ganz vielen ist das jedoch nicht der Fall – Bill Clegg gehört zu den letzteren.

Mit seinem Paten ("Sponsor" im Englischen) Jack, den er im Krankenhaus kennengelernt hat, geht er zu Versammlungen, in denen Suchtkranke Hilfe suchen. Er fühlt sich sehr fragil, hat Angst davor, was andere von ihm denken.

Eines Tages sieht er auf der Strasse Jane, die Frau eines früheren Klienten und Bestsellerautorin, mit einem Kinderwagen auf sich zukommen. Er hat seit vielen Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen und fürchtet nun, sie würde ihn wie Luft behandeln und einfach an ihm vorbeigehen. So wie man eben Ausgestossene behandelt. Was dann wirklich geschieht, ist dies: "Jane bleibt stehen, tritt auf die Feststellbremse des Kinderwagens und kommt zu mir. Wortlos fast sie mich bei den Armen, zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Schnell, spontan, schon passiert. Sie streicht mir über die Schultern, sieht mich liebevoll an und geht wieder."

Der Titel Neunzig Tage verdankt sich dem von Selbsthilfegruppen propagierten "Neunzig Treffen in neunzig Tagen", das Neuzugängern wärmstens empfohlen wird. Bill Clegg schafft die neunzig Tage nicht, er wird rückfällig. Beim nächsten Treffen der Selbsthilfegruppe ist er nicht bereit, von seinem Rückfall zu erzählen und geht. Und hat einen weiteren Rückfall.

"Ich kenne die Folgen, weiss, dass schon im nächsten Augenblick alles in paranoide Verzweiflung umschlägt, und finde es trotzdem erstrebenswert, Crack zu rauchen. Es ist Irrsinn, denke ich nicht zum ersten Mal." Was der Veränderung beziehungsweise Neuorientierung im Wege steht, ist das Ego. Jeder Süchtige hält sich für einen absoluten Spezialfall. Als Bill seinem Paten Jack wiedereinmal sein Leid klagt, meint dieser trocken: "Das hört sich alles nach ICH gegen DIE an statt nach WIR, und runter kommt man nur, wenn WIR daraus wird."

Er braucht Geld, ein Freund hilft ihm aus. Er verhökert das Silber seiner Mutter, die ihn eindringlich ermahnt: "Das reicht jetzt, du musst damit aufhören. Endgültig. Hast du verstanden? Es reicht." Noch nie hat er sie in einem solchen Ton reden hören, und als Leser denkt man, jetzt schnallt er es. Doch er hat einen weiteren Rückfall, er hält ihn geheim, erzählt niemandem davon.

Eine der Süchtigen, mit der sich Bill an einem Treffen der Selbsthilfegruppe befreundet, ist Polly, die wie er selber, immer wieder rückfällig wird. Als sie und ihre Zwillingsschwester Heather vier Tage und Nächte durchschnupfen, wird Heather bewusstlos. "Sie muss eine Überdosis genommen haben, begreift Polly und bekämpft die aufsteigende Panik mit einer Nase Kokain. Als das nicht hilft, nimmt sie noch eine. Fast ein ganzer Eightball liegt auf dem Tisch, und sie weiss, wenn sie einen Krankenwagen ruft und Leute kommen, wird sie Heather ins Krankenhaus begleiten müssen. Und nicht mehr schnupfen können. Sie zieht eine Linie nach der anderen, um sich Mut für den Notruf zu machen ...".

Bill will Polly helfen und so sagt er ihr, was seine Freundin Lili einst zu ihm sagte, als sie ihn im Drogensumpf vorgefunden hatte: "Wenn du sterben willst, stirb. Wenn du leben willst, ruf mich an. Aber bis dahin lass mich aus dem Spiel."

Der Schlüssel zu Bills Genesung war Ehrlichkeit, unbedingte Ehrlichkeit sich selber und anderen gegenüber. Neunzig Tage berichtet eindrücklich davon, wie er sich dagegen gewehrt, schliesslich kapituliert und bei anderen Süchtigen Hilfe gefunden hat. "Für mich waren ihre Stimmen lauter als die Lügenstimme, lauter als meine eigene. Sie haben mich Tag für Tag zur Aufrichtigkeit und zum Nützlichsein hingeführt, und sie haben mir das Leben gerettet."

Bill Clegg
Neunzig Tage
Eine Rückkehr ins Leben
S. Fischer, Frankfurt am Main 2014

Mittwoch, 8. Oktober 2014

Depressionen & Borderline

Viktor Staudts Leben wird von Angstattacken und Depressionen beherrscht, schliesslich wirft er sich vor einen Zug und verliert seine Beine. Sein Bettnachbar im Krankenhaus, ein Mann un die fünfzig mit Namen Didier, leidet an einer Form der Schizophrenie und ist deshalb schon mehrmals von seinem Balkon gesprungen, "und zwar im Auftrag von Stimmen in seinem Kopf." Viktor hat das Gefühl, Didier würde ihn verstehen, wenn er ihm seine Geschichte erzählen würde.

"Ja, ich will es dir sagen", beginne ich, so als brauchte ich einen Anlauf. "Ich habe mich vor den Zug geworfen."
Ich sage es in relativ ruhigem Ton und, besonders wichtig,ohne Scham. Didier schlägt sich augenblicklich die Hände vors Gesicht und stösst ein lautes "Ach!" aus. Seine Reaktion erschreckt mich. Ihm laufen Tränen übers Gesicht. Habe ich ihm womöglich Angst gemacht, oder schlimmer: Habe ich durch mein Bekenntnis am Ende die Stimmen in seinem Kopf geweckt?
"Nein, wie furchtbar ..." stammelt er kaum hörbar.

Wenn also jemand wie Didier ihn nicht versteht, wie kann ihn dann überhaupt jemand verstehen? Viktors  Mutter brach weinend zusammen, als sie davon erfuhr, dem Vater wurde übel, er musste sich am Schreibtisch festhalten, um nicht hinzufallen. Doch muss man einen solchen Akt überhaupt verstehen?

Viktors Leben ist geprägt von Extremen, doch er kann daran nichts Schlechtes erkennen. "Denn entweder man lässt sich hundertprozentig auf etwas ein oder nicht."

In Psychologie-Büchern liest er über Borderline. "Die Symptome kamen mir beängstigend bekannt vor." Er schliesst sich einem Internet-Klub an, "der den Willen zum Selbstmord fast zur Voraussetzung für die virtuelle Mitgliedschaft machte." Auch nach seinem fehlgeschlagenen Versuch, will er immer noch tot sein.

Schliesslich wird er in einer Klinik im Allgäu mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und bekommt ein Antidepressivum verschrieben, das ihm hilft. Zuerst ist er jedoch skeptisch: "Ein Antidepressivum? Was sollte ich damit? Bin ich denn wirklich depressiv? Ich fühle mich zwar schlecht, aber unter Depressionen stelle ich mir etwas anderes vor: den ganzen Tag herumhängen, nicht mehr essen wollen, sich tagelang nicht waschen."

Verblüfft an diesem Buch hat mich vor allem, wie wenig sich Viktor Staudt mit seinem Leiden auseinandersetzt, wie stark er einer Konfrontation damit ausweicht. Sicher, der Gedanke streift ihn schon, doch mehr als die Überlegung: "Vielleicht hätte ich ihre Diagnose nicht nur zur Kenntnis nehmen und ihren Abschlussbericht nicht zerreissen und wegwerfen sollen, um so dessen Existenz auszulöschen. Habe ich mir da etwas vorzuwerfen?" ist da eigentlich nicht.

Andrerseits gibt es da die Betreiberin einer Bar, die Viktor Staudt regelmässig beim Einkaufen sieht und die sagt: "Immer wenn ich Sie sehe, frage ich mich. Woher nimmt der Mann diese Energie? Es ist absolut inspirierend, Ihnen zuzusehen." Diese Energie teilt er mit diesem Buch. "Ich gebe nicht vor, allen helfen zu können, die depressiv sind oder sich mit Selbstmordgedanken tragen, schon allein weil ich kein Psychiater oder Psychologe bin. Allerdings meine ich, aus Erfahrung die Gefühle verstehen zu können und auch die Worte, die jemand mit den entsprechenden Problemen äussert. Und zuhören kann ich immer, sobald du anfängst zu reden."

Viktor Staudt
Die Geschichte meines Selbstmords
und wie ich das Leben wiederfand
Droemer Verlag, München 2014

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Dass jeder bei sich selber anfange ...

Zu wenige suchen nach innen, im eigenen Selbst, und noch zu wenige legen sich die Frage vor, ob nicht der menschlichen Gesellschaft am Ende dadurch am besten gedient sei, dass jeder bei sich selber anfange und jene Aufhebung der bisherigen Ordnung, jene Gesetze, jene Siege, die er auf allen Gassen predigt, zuerst und einzig und allein an seiner eigenen Person und in seinem eigenen inneren Staat erprobte, anstatt sie seinen Mitmenschen zuzumuten.

Jedem einzelnen tut Umsturz, innere Erzweiung (?), Auflösung des Bestehenden und Erneuerung not, nicht aber, dass er sie seinen Mitmenschen aufzwinge unter dem heuchlerischen Deckmantel christlicher Nächstenliebe oder sozialen Verantwortlichkeitsgefühls ...Selbstbestimmung des einzelnen, Rückkehr des einzelnen zum Grunde des menschlichen Wesens, zu seinem eigenen Wesen und dessen individueller und sozialer Bestimmtheit ist der Anfang zur Heilung der Blindheit, welche die gegenwärtige Stunde regiert.

C.G. Jung: Die Psychologie des Unbewussten, 1942

Mittwoch, 24. September 2014

Heroin & conventional wisdom

Conventional wisdom among clinicians and researchers in the field of drug abuse and addiction is that heroin addicts seldom, if ever, overcome addiction without treatment. Occasionally researchers have speculated that there maybe something akin to spontaneous remission among addicts, but recently it was thought that the numbers and percentages of such recoveries were very small (5-15%) and insignificant. New evidence suggests that the rate of natural recovery may be much higher than expected. Furthermore, new studies suggest that addicts who do not go to treatment recover at approximately the same rates as those who go to treatment.

Dan Waldorf & Patrick Biernacki
Natural Recovery from Heroin Addiction: A Review of the Incidence Literature (1980)

Mittwoch, 17. September 2014

Wie wir die Angst vor dem Sterben überwinden

Der 1957 geborene Bernard Jakoby gilt, so der Klappentext, "im deutschsprachigen Raum als der Experte für Sterben und Trauerarbeit". Zudem: "Er führte im Februar 2000 in Phoenix, Arizona, ein Interview mit Elisabeth Kübler-Ross und gilt als ihr Nachfolger." Was ein Interview nicht alles bewirken kann!

Wir leben bekanntlich in einer Welt, in der es von Experten wimmelt, doch dass es nun auch Experten für Sterben und Trauerarbeit gibt, war mir neu. "Nichts, nichts, nichts ist unverstehbarer als der Tod", hat der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer einmal geschrieben." Das gilt jedoch nicht für Bernard Jakoby, der über Gewissheiten verfügt, die Normalsterblichen abgehen. So weiss er etwa, dass die Seele unsterblich ist. Und woher weiss er das? Von der wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen. Nun ja, der Glaube an die Wissenschaft ist eben vor allem dies: ein Glaube. Und der hilft bekanntlich, wogegen ja wirklich nichts eingewendet werden kann.

Bernard Jakoby plädiert dafür, sich mit dem Sterben, dem Tod und der Angst davor auseinanderzusetzen. "Wenn wir, ganz gleich in welchem Alter, den Mut aufbringen, uns der Todesangst zu stellen, wird das Leben mitfühlender und ausgeglichener und als Bereicherung im Hier und Jetzt empfunden." Ich halte das für möglich, wenn auch nicht für zwingend, denn es gibt nicht wenige, denen die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit gar nicht gut tut, ja, sie lähmt und lebensunfähig macht.

Ich habe durchaus Sympathie für viele Aussagen in diesem Buch (insbesondere der zentrale Gedanke der Aussöhnung mit uns selber sowie die Überzeugung, dass es gilt, die Dinge anzunehmen, wie sie sind) oder stehe ihnen zumindest nicht ablehnend gegenüber, doch finde ich Jakobys apodiktische Formulierungsweise ausgesprochen befremdend. Etwa: "Verurteilung ist immer eine Form von Aggression. Gewalt beginnt im eigenen Herzen und in unserem Geist." Wenn das stimmt, dann sind Richter allesamt Gewalttäter. Oder: "Erwartungen sind mangelndes Vertrauen in das Leben und führen dazu, andere nicht wahrzunehmen oder anzunehmen, wie sie wirklich sind." Nicht die Erwartungen sind das Problem, sondern die Bedeutung, die wir ihnen zumessen.

Bernard Jakoby ist es um die Überwindung des Egos zu tun, denn damit "werden SEIN Wille und dein Wille eins und du bist immer geborgen." Und was ist "SEIN Wille"? Bedingungslos zu lieben, so Jakoby. Vielfältige Anleitungen dazu finden sich unter dem Titel "Meditationen zum Verwandeln der Angst" im 4. Teil dieses Buches.

Bernard Jakoby
Wie wir die Angst vor dem Sterben überwinden
nymphenburger, München 2014

Mittwoch, 10. September 2014

Panikattacken mit Happy End

Silvia Aeschbach, geboren 1960, von Beruf Journalistin, berichtet in Leonardo DiCaprio trifft keine Schuld von ihren Panikattacken und wie sie gelernt hat, mit ihnen umzugehen.

Die erste dieser Attacken hatte sie mit siebzehn, während eines Aufenthalts in Korsika. Sie beschreibt sie so: "Die Farben des Himmels und der Bäume erschienen mir unerträglich grell, die Grillen zirpten nicht mehr melodisch, sie kreischten richtiggehend. Der Waldboden, der eben noch so gut nach Moos gerochen hatte, stank plötzlich nach Moder. Ich nahm alles wie durch einen Filter wahr, einen Filter, der die Umgebung nicht in ein angenehmes, weiches Licht tauchte, sondern die Bilder verzerrte. Eine Kälte, wie ich sie vorher nicht kannte, erfasste mich. Noch vor fünf Minuten war mir der Schweiss in Strömen heruntergelaufen, und jetzt hatte ich das Gefühl, in einem Eisblock zu stecken. Für einen Moment schien mein Herz stehen zu bleiben, doch dann begann es noch wilder zu rasen. Meine Gedanken taten dasselbe: Ich wusste plötzlich nicht mehr, wo ich war und, noch schlimmer, wer ich war."

Angst hat Silvia Aeschbach nicht nur vor den Attacken, sondern auch davor, dass die Mitschüler ihr etwas anmerken könnten. "Die Vorstellung, dass jemand etwas von meiner Panik mitbekam, war fast so schlimm wie die Panik selber."

Wie alle, die mit unangenehmen, irritierenden, Angst auslösenden Gefühlen geschlagen sind, versucht sie die Orte und Situationen, in denen solche hochkommen könnten, zu vermeiden. Die Vorstellung, sie könne irgendwo nicht wegkommen, führte dazu, dass sie etwa Tunnels grosszügig umfuhr und bei Gebäuden automatisch checkte, wo es für den Notfall Ausgänge gab. Doch: "Die Sicherheit, die ich mir aufgebaut hatte, war trügerisch, das Leben liess sich letztlich nicht kontrollieren."

Als ihr ein Arzt die Diagnose "Panikattacke" mitteilt, ist sie erleichtert. "Zum ersten Mal fühlte ich mich in meiner Not verstanden. Die Panik war nicht Ausdruck einer Geisteskrankheit wie ich immer befürchtet hatte, sondern das Resultat meines überbordenden vegetativen Nervensystems und einer Übersensibilität aufgrund seelischer Überforderung und vielleicht war auch eine genetische Prägung mitschuldig."

Die Panik wird zu einem ihrer Lebensthemen. Sie macht sich auf die Suche, sie will wissen, woher ihre Ängste kommen. Sie identifiziert einiges: die Angst vor dem Verlassenwerden, dass auch ihre Mutter unter der Angstkrankheit litt, dass Angstgefühle anderen Gefühlen (etwa Verliebtheit oder Erfolgserlebnissen) weichen konnten. Sie hält sich für übersensibel, kontrollsüchtig, hypochondrisch. Und konstatiert: "Gefühlsmässig ging es wie immer um Leben oder Tod. Schwarz oder Weiss. Alles oder nichts."

Geholfen haben ihr letztlich, schreibt sie, Antidepressiva sowie die kognitiv-therapeutische Behandlung bei einem Psychiater, dem sie vertraute. Mein Eindruck hingegen war, dass eine Besserung eintrat, als Silvia Aeschbach begann, sich nicht mehr gegen das Leben, so wie es nun einmal ist, zu wehren, sondern es (inklusive der Ängste) hinzunehmen: "Inzwischen weiss ich, dass Flucht keine Lösung ist. Ich muss die Panik kommen lassen, dann geht sie von selber vorbei. Es klingt paradox, aber je mehr ich mich wehre, desto erbarmungsloser schlägt sie zu."

Es erfordert Mut, gegen die Hauptsorge von uns allen, "Was werden bloss die anderen denken?", anzugehen. "Leonardo Di Caprio trifft keine Schuld" zeugt von diesem Mut.

Silvia Aeschbach
Leonardo DiCaprio trifft keine Schuld
Panikattacken mit Happy End
Wörterseh Verlag, Gockhausen 2014

Mittwoch, 3. September 2014

Von der Hingabe

Lob des ungesicherten Lebens von Alexandre Jollien ist ein irreführender Titel, denn davon handelt dieses Buches nicht. Der französische Originaltitel trifft es besser: Petit traité de l'abandon, wobei so richtig trifft es auch dieser nicht, denn es ist ein ziemliches Sammelsurium von sehr unterschiedlichen Gedanken, das Autor und Verlag hier versammelt haben und ein gemeinsamer Nenner dafür nicht so ganz einfach zu finden.

Alexandre Jollien wurde 1975 mit einer infantilen Zerebralparese (dabei handelt es sich um Bewegungsstörungen, die sich zumeist in Spasmen äussern) geboren, verbrachte 17 Jahre in einem Behindertenheim, hat Philosophie studiert und mehrere Bücher veröffentlicht. Wenn jemand mit einem solchen Hintergrund sich zu Hingabe und Akzeptanz äussert, werde ich hellhörig.

Für mich Neues habe ich in Lob des ungesicherten Lebens allerdings kaum gefunden, dafür ganz Vieles, an das erinnert zu werden, mir wertvoll ist. Etwa die Aufforderung des chinesischen Zen-Meisters Yunmen: "Wenn du sitzt, dann sitze; wenn du stehst, dann stehe; wenn du gehst, dann gehe. Vor allem: zögere nicht." Oder Spinozas Satz: "Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich ein und dasselbe." Oder das wunderbare Gedicht von Angelus Silesius: "Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet, / sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet."

Vor allem der Zen-Buddhismus scheint es Alexandre Jollien angetan zu haben. "Für mich bedeutet Zen, dass man damit zufrieden ist, da zu sein. Es geht nicht um den Versuch, irgendetwas zu sein." Das knüpft an die buddhistische Überzeugung an, dass wir alle bereits Buddhas (Erleuchtete) sind und so recht eigentlich nichts anderes üben sollen, als die zu werden, die wir bereits sind. Wie man das praktisch angehen kann, zeigt der Autor anhand von Beispielen aus seinem Alltag. Besonders hilfreich fand ich die Schilderung seiner täglichen Meditationsstunde.

PS: Die vorliegenden Texte wurden offenbar zuerst auf einer CD veröffentlicht, ein Lektorat hat es nicht gegeben, anders ist der erste Satz der Einleitung zu diesem Werk nicht zu erklären: "Guten Tag und herzlich willkommen, Sie alle. Es ist mir eine grosse Freude, Ihnen diese CD vorlegen zu können."

Alexandre Jollien
Lob des ungesicherten Lebens
Edition Spuren, Winterthur 2014

Mittwoch, 27. August 2014

Porträt eines Süchtigen

Bill Clegg arbeitet als Literaturagent in New York und erzählt in diesem Buch die Geschichte seiner Crack-Abhängigkeit. Sein Bericht ist ebenso faszinierend wie ermüdend.

Ermüdend sind die immer gleichen Schilderungen von Cleggs Taxifahrten, Hotelaufenthalten, Drogendeals sowie seinem Alkohol- und Crack-Konsum: "Der Wodka kommt umgehend, und ich schütte Eis in ein grosses Glas und fülle es bis zum Rand. Brian schüttelt auf die Frage, ob er auch was will, den Kopf und sagt, Nein, danke. Ich kippe zwei Drinks hintereinander und schenke mir einen dritten ein. Dann frage ich Brian, ob ich duschen kann, und er hat nichts dagegen. Ich nehme den Drink mit ins Bad, sperre die Tür ab und drehe die Dusche auf. Das Bad ist klein und hat keine Lüftung. Über der Dusche befindet sich jedoch ein kleines quadratisches Fenster, und schon stehe ich nackt in der Dusche und rauche, wie ich dachte, eine kleine Dosis, aber es stellt sich heraus, dass immer noch zwei, drei grosse Hits da sind. Plötzlich wünsche ich mir, ich hätte die Flasche Wodka mitgenommen. Ich stopfe die Pfeife, blase den Rauch aus dem kleinen Fenster in einen Luftschacht, lasse den Dampf aufsteigen, und bald bin ich locker."

Faszinierend sind die Beschreibungen von Cleggs Wahnvorstellungen. Ständig wähnt er sich verfolgt. Im Flieger nach Amsterdam glaubt er, dass seine Verhaftung unmittelbar bevorstehe. Zu einer Stewardess sagt er: Finden Sie nicht, dass das hier ein reichlich kompliziertes Theater ist wegen einer einzigen Person? Wenig später kommt die Stewardess mit dem Kapitän zurück. "Aber verhaftet werde ich nicht. Stattdessen erklärt mir der Kapitän dass sie seit dem Anschlag auf das World Trade Center vorsichtig sein müssen und dass ich die Stewardess mit meiner Äusserung so beunruhigt hatte, dass ihnen beim Gedanken, mich an Bord zu haben, nicht ganz wohl ist." Clegg darf nicht mitfliegen.

Was Porträt eines Süchtigen als junger Mann (trotz der Anspielung auf Joyce: ein literarisches Werk ist dieses Buch nicht) auszeichnet, ist die eindringliche Darstellung des völligen Absorbiertseins von der Drogenwelt. Während des Anschlags auf das World Trade Center geht Clegg zum Friseur.

Immer wieder und immer wieder gibt er der Sucht nach. Und immer wieder hat er Momente, wo ihm klar ist, was mit ihm los ist. "Ich bin nirgends und gehöre nirgends hin. Was passiert, seht mir jetzt klar vor Augen – das langsame Abrutschen, das Erreichen des jeweils nächsten unmöglichen Stadiums – Crackhöhle, Entzug, Knast, Strafe, Obdachlosenasyl, ein kurzer Schock, dass die Anpassung an die neue Realität. Bin ich jetzt im Fegefeuer zwischen Bürger und Niemand jungem Gentleman und Penner?"

Seine Einsichten nützen ihm nichts. Die Rettungsversuche seines Freundes Noah (den er ständig mit anderen Männern betrügt) und seiner Familie ebenso wenig und dann schliesslich doch. In einer Klinik in White Plains, NY, lässt er sich helfen. Sogar die Rückkehr ins Verlagswesen gelingt.

Bill Clegg
Porträt eines Süchtigen als junger Mann
S. Fischer, Frankfurt am Main 2012

Mittwoch, 20. August 2014

Nur strikte Abstinenz hilft

Der einzige Weg aus der Sucht, darin sind sich Experten inzwischen einig, ist deshalb strikte Abstinenz. Und zwar nicht nur deshalb, weil das Suchtgedächtnis auch noch nach Jahren bereits durch kleinste Mengen Alkohol oder den Anblick von einem frisch gezapften Glas Bier wieder stark aktiviert wird. Sondern auch, weil Abstinenz bewirkt, dass sich die Sucht auslösenden Reize nach und nach von der Stimulation des Belohnungssystems entkoppeln: Je häufiger der Patient die Erfahrung macht, dass sich problematische Situationen auch ohne Alkohol bewältigen lassen, desto schneller schwindet die automatisierte Reaktion auf die klassischen Schlüsselreize.

Für mehr, siehe hier

Mittwoch, 13. August 2014

Jeder Augenblick kann dein Lehrer sein

Die Achtsamkeit zu pflegen und zwar durch regelmässige und systematische Meditationsübung, dazu will dieses Buch anregen, denn solche Übung könne eine erhebliche Auswirkung auf die Lebensqualität haben, schreibt Jon Kabat-Zinn, der Gründer des Center for Mindfulness in der Medical School der University of Massachusetts.

"Da ihr Leben nur aus Augenblicken besteht, warum diese also nicht voll ausschöpfen und herausfinden, was es bedeuten kann, ihrem tiefsten und wahrsten Wesen immer häufiger treu sein?" Es ist dies nicht wirklich eine Frage, sondern so recht eigentlich das Motto dieses schön gestalteten Werkes.

Jeder Augenblick kann dein Lehrer sein ist auf vielfältige Art und Weise inspirierend. Man müsse wissen, weshalb man meditiere, lese ich. Und das meint: ohne genügende Motivation wird man kaum die Energie dazu finden, "die Praxis des achtsamen Nicht-Tuns" zu praktizieren.

Wie überhaupt im Leben: worauf es ankommt, ist das Tun. "Wenn Sie in ein Restaurant gehen, werden Sie kaum davon satt werden, dass Sie die Karte studieren oder sich die Gerichte vom Kellner beschreiben lassen. Sie müssen die Nahrung selbst zu sich nehmen, erst dann wird sie Ihrem Körper zugute kommen." Das gilt auch für die Achtsamkeit: es gilt sie wirklich auszuführen, damit sie ihre Wirkung entfalten kann.

Achtsam zu sein setzt Offenheit und Aufgeschlossenheit voraus. Und das bedeutet, sich auf das einzulassen, was ist. Und dafür braucht man die richtige Einstellung. Wer mit Vorbehalten meditiere und glaube, dass es doch nichts nütze, werde vermutlich keinen Erfolg haben, lese ich da. Und erinnere mich an Placebo-Studien, wo der Glaube ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle spielt.

Jeder Augenblick kann dein Lehrer sein ist ein nützliches Buch. Weil es praktische Anregungen, Hinweise und Anleitungen gibt, wie man den Augenblick erleben kann. Es ist kein Buch, dass man von Cover zu Cover liest, sondern eines, bei dem man sinnvollerweise ein, zwei Seiten liest und diese dann auf sich wirken lässt. Auch das ist eine Form der Meditation.

Jeder Augenblick kann dein Lehrer sein ist überdies ein sehr schön gemachtes Buch, die Anordnung von Bild und Text ansprechend und gelungen.

Jon Kabat-Zinn
Jeder Augenblick kann dein Lehrer sein
100 Momente der Achtsamkeit
O.W.Barth Verlag, München 2014

Mittwoch, 6. August 2014

Die Treffen der Anonymen Alkoholiker

Stephen Kings Doctor Sleep handelt unter anderem von Dan Torrance, der die Suchtkrankheit seines Vaters geerbt hat und deswegen an Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA) teilnimmt. Und von diesen soll hier die Rede sein.

Die Bibel der AA ist das Blaue Buch und ein alter AA-Spruch lautet: "Wenn du etwas vor einem Alkoholiker verstecken willst, steck es ins Blaue Buch."

Ein Kapitel im Blauen Buch heisst 'An die Ehefrauen' und ist "voll veralteter Klischees, die bei den jüngeren Frauen im Raum fast immer scharfe Reaktionen auslösten. Die Teilnehmerinnen wollten wissen (zu Recht, wie Dan dachte), wieso niemand in den gut fünfundsechzig Jahren seit der ersten Veröffentlichung des Blauen Buchs ein Kapitel mit dem Titel 'An die Ehemänner' hinzugefügt hatte."

Wir lesen unter anderem von der Alkoholikerin Gemma, einer Frau in den Dreissigern, "die nur über zwei Gefühlszustände zu verfügen schien: wütend und total angepisst" und die, nachdem sie an einem Treffen ihre Geschichte mit der vom AA-Programm geforderten 'absoluten Ehrlichkeit' erzählt hatte, schluchzend zusammengebrochen war. Wir erfahren, dass bei den AAs Ratschläge verpönt sind, denn sie gelten als Einmischung. Und dass Alkoholiker oft aus total geringfügigen Gründen Ehe und Job hinschmeissen.

Beim 12-Schritte Programm der AA geht es darum, seine destruktiven Zwänge abzulegen und sich eine lebensbejahende Haltung anzueignen. Das ist alles andere als einfach. "Weiss Gott, er wollte nicht wie sein Vater sein, der sich auch in seinen nüchternen Phasen nur mit grösster Mühe hatte beherrschen können. Das AA-Programm sollte dabei helfen, mit der eigenen Wut umzugehen, und meistens tat es das auch, aber es gab Zeiten wie diese Nacht, in denen Dan bewusst wurde, wie wacklig die Barriere war. Zeiten, in denen er sich wertlos fühlte, und dann kam es ihm so vor, als wäre Schnaps das Einzige, was er verdiente. In solchen Zeiten fühlte er sich seinem Vater ganz nah."

"Es gab nachsichtige AA-Sponsoren, strenge AA-Sponsoren, und dann gab es noch solche wie Casey Kingsley, die sich von ihren Schützlingen nicht den geringsten Scheiss bieten liessen. Als die Beziehung der beiden noch am Anfang gestanden hatte, hatte Casey Dan aufgetragen, neunzig Treffen in neunzig Tagen zu absolvieren und ihn jeden Morgen um sieben anzurufen. 'Wenn du zu früh anrufst, lege ich auf. Wenn du zu spät anrufst, sage ich dir, du sollst morgen wieder anrufen ... aber nur falls du bis dahin noch trocken bist. Und wenn du besoffen oder verkatert anrufst, merke ich das, sobald dir drei Wörter aus dem Mund gekommen sind.'" Kein Wunder funktionieren die AAs nicht für alle!

Bei den AAs wird nicht versucht, dem Saufen einen Sinn zu geben. Stattdessen geht es darum, zu akzeptieren, dass man dem Alkohol gegenüber machtlos ist. Treffend illustriert das dieser Dialog zwischen Casey und Dan:
"'Sag mir jetzt mal, wieso du früher gesoffen hast.'
'Weil ich ein Säufer bin.'
'Nicht weil deine Mama dich nicht geliebt hat?'
'Nein.' Wendy hatte ihre Fehler gehabt, aber ihre Liebe zu ihm - und seine zu ihr - war nie ins Wanken geraten.
''Oder weil dein Daddy dich nicht geliebt hat?'
'Nein.' Obwohl er mir einmal den Arm gebrochen und mich am Ende fast umgebracht hat.
'Weil es erblich ist?'
'Nein.' Dan nippte an seinem Kaffee. 'Aber das ist es. Das weisst du doch, oder?'
'Klar. Ich weiss aber auch, dass das belanglos ist. Wir haben gesoffen, weil wir Säufer sind. Davon genesen wir nie. Auf der Basis unseres spirituellen Zustands erhalten wir täglich eine Bewährungsfrist, und damit hat sich's.'"

Stephen King
Doctor Sleep
Heyne Verlag, München 2014

Mittwoch, 30. Juli 2014

Wie Eric Clapton sein Leben änderte

Eric Claptons "Mein Leben" ist ein höchst faszinierendes Buch, weil es, wie jede gute Autobiografie, mit dem eigenen Leben (oder dem, was davon berichtet wird) auch gleichzeitig die Geschichte der Zeit miterzählt wird, wie sie der Protagonist erlebt hat. Eric Claptons Geschichte ist in wesentlichen Teilen auch die Geschichte der Rockmusik. Darüber hinaus ist sie auch die Geschichte seines Alkoholismus. Und davon soll hier die Rede sein.

Im Januar 1982 traf Eric in Hazelden ein, "einer der weltbesten Einrichtungen für Alkoholiker". Die Klinik erinnerte ihn an Fort Knox: "geduckte, finstere Betonkästen wie bei einem Hochsicherheitsgefängnis." Er hat Angst, tut, was von ihm verlangt wird und das schliesst Meetings bei den Anonymen Alkoholikern (AA) mit ein, nicht selten fünf- oder sechsmal die Woche. Doch wie die meisten Alkis hat er nicht das Gefühl einer zu sein: "Ich bin nicht wie diese Leute. Ich gehöre hier nicht hin."

Nach seinem Klinikaufenthalt trinkt er nicht mehr und geht, in der Annahme, Arbeit sei die beste Therapie, "vier Monate nach meiner Rückkehr aus Hazelden mit meiner englischen Band auf Amerika-Tournee. Das widersprach völlig dem Rat der Therapeuten." Es war eine überstürzte Entscheidung und eine frustrierende Erfahrung: " ... stand ich auf der Bühne und dachte nur: 'Das klingt ja grauenhaft'. Dabei war es das Gleiche wie bei meinem Problem mit Sex: Ich hatte seit so langer Zeit nicht mehr nüchtern gespielt und war so daran gewöhnt, alles durch einen Schleier aus Alkohol und Drogen zu hören, dass mir der plötzlich ungedämpfte Sound total fremd vorkam."

Clapton hat einen Rückfall, er säuft wieder. Und geht wieder nach Hazelden. Wie schon beim ersten Mal zählte er "bloss die Tage in der Hoffnung, dass sich in mir etwas ändern würde, ohne dass ich selbst viel dazu beitragen müsste. Aber dann geriet ich gegen Ende meines Aufenthalts plötzlich in Panik, denn ich spürte, dass nichts in mir sich geändert hatte und dass ich völlig schutzlos wieder in die Welt hinausgehen würde. Der Lärm in meinem Kopf war betäubend, alles in mir schrie nach Alkohol. Schockiert musste ich erkennen, dass ich selbst in diesem Behandlungszentrum, in dieser angeblich sicheren Umgebung, ganz ernsthaft in Gefahr war. Das machte mir eine Heidenangst.
In diesem Augenblick gaben meine Beine fast wie von selbst nach, und ich sank auf die Knie. In der Abgeschiedenheit meines Zimmers flehte ich um Hilfe. Ich hatte keinen Begriff davon, mit wem ich da redete, ich wusste nur, dass ich mit meiner Kraft am Ende war und den Kampf verloren gegeben hatte. Dann fiel mir ein, was ich über Kapitulation gehört hatte. Nie hätte ich gedacht, dass ich dazu fähig wäre, weil mein Stolz das einfach nicht zulassen würde, aber jetzt wusste ich, allein würde ich es nicht schaffen, also bat ich um Hilfe, sank auf die Knie und kapitulierte."

Neugierig geworden, wie es weiter gegangen ist?
Eric Clapton: Mein Leben.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2012.

Mittwoch, 23. Juli 2014

Sucht Roman

Ein Roman über Sucht, geht das? Simon Borowiaks geht nicht, jedenfalls für mich nicht, zu bemüht witzig, zu forciert originell ist mir das alles. Und dabei habe ich doch sein "Alk" so gerne gelesen, finde es ganz wunderbar gelungen.

Vielleicht lag es ja an mir, an meiner Stimmung, vielleicht sollte ich das Buch einfach mal für eine Weile ruhen lassen und dann einen neuen Anfang wagen. Doch es nützte nichts, auch beim zweiten Versuch blieb mir die Lektüre ... siehe oben. Vielleicht sollte ich eine noch etwas längere Pause einlegen, bevor ich einen dritten Anlauf wage.

Wobei, es gibt schon ganz tolle Stellen in diesem Buch und einige davon haben mich laut herauslachen lassen:

"Da klopft es und ein circa vierzehnjähriger Arzt bittet ihn zum Gespräch. Cromwell wundert sich, wie alt er geworden ist ...".

"Es hat was von einer Süchtigen-Tagung: Wer war wo, bekam welche Medis, in welcher Dosierung. Ein kompaktes kleines Biotop, inklusive Legendenbildungen und Erzählungen aus dem Krieg ...".

"In der Psychiatrie herrscht keine irdische Zeitrechnung. Ein Moment, ein Nu hat die Gravitation von Stunden, Minuten beulen aus, ganze halbe Tage vervierfachen sich."

"Sonntag auf Station ist noch viel niederschmetternder als Samstag. Der Grossteil ist ausgeflogen, die Sperre-Kandidaten liegen und sitzen irgendwo herum. Verloren brüten sie über ihren Lebensläufen, starren aus dem Fenster oder in ihre Teetassen und sieden tonlos in ihrem Selbstmitleid."

Im letzten Drittel von "Sucht" stosse ich dann auf Passagen über die Behandlung von Alkoholikern, die mich dann doch für dieses Buch einnehmen. Weil hier die Mischung aus scharfen Einsichten, witzigen Kommentaren und klugen Schlussfolgerungen überzeugend aufgeht: "Hier treffen verfeindete Welten aufeinander: Der demütige, zitternde, um Hilfe stöhnende Alki und das saubere, adrette, selbstbewusste Klinikpersonal, das seine teuren Apparate lieber herausgibt, wenn es gilt, ein unglücklich gestürztes Kind oder einen im Dienste der Bürger angeschossenen Polizisten zu versorgen. Denn in einer Notaufnahme gilt das Prinzip der Unschuldsvermutung: Je unschuldiger der Patient, desto freundlicher die Behandlung."

Simon Borowiak
Sucht
Albrecht Knaus Verlag, München 2014

Mittwoch, 16. Juli 2014

Wie lebe ich ein gutes Leben?

Dieses Buch handelt von der der antiken Lebensweisheit, wie sie grosse Denker in Griechenland, China und Indien erstmals gedacht und aufgeschrieben haben. "Philosophie für Praktiker" verspricht der Untertitel, zu Recht, und das schliesst mit ein, dass auch die Theorie nicht zu kurz kommt, denn, so Seneca, "ohne Wurzel taugen die Zweige nichts".

"Alles ist Übung", meinte Periander. In den Worten von Albert Kitzler, dem Autor von Wie lebe ich ein gutes Leben?: "Willst du etwas an deinem Leben ändern, was dich belastet oder stört, ändere deine Gewohnheiten, sonst ändert sich nichts." Das klingt banal, doch nur wenn man darüber hinweg liest. Erst wenn man diese Weisheit in sich hinein sinken lässt, wird man die Voraussetzung dafür schaffen, dass die praktische Umsetzung gelingen kann.

Den einzelnen Kapiteln sind jeweils auch hilfreiche Merksätze beigegeben. Etwa dieser: "Der Weise lernt stets dazu, indem er das Gelernte in seinem Denken und Verhalten einübt." Nützliche Gedanken ohne daran anschliessendes Handeln, bleiben bestenfalls interessant. Und das genügt nicht, zumindest mir nicht. Und offenbar auch Albert Kitzler nicht, weshalb ich denn auch sein Wie lebe ich ein gutes Leben? ganz unbedingt empfehlen will.

Besonders angesprochen hat mich auch, dass des Autors Gedanken sich an Wesentlichem orientieren und damit im besten Sinne "praktische Lebenshilfe" bieten. "Weise Lebensführung aber bedeutet, auf sein Inneres zu achten und für seelisches Wohlbefinden zu sorgen."

Achtsamkeit, Aufrichtigkeit und Selbstprüfung zählt er zu den wichtigsten Wegen zu einer vertieften Selbsterkenntnis und zur Vergewisserung des eigenen Selbstverständnisses. Damit ist nicht einfach Wahrnehmen und Nachdenken gemeint, denn dabei schweifen wir allzu oft ins Unbewusste ab, weichen wir allzu oft unangenehmen Wahrheiten aus. Eine Selbstprüfung, um wirksam zu sein, sollte schriftlich erfolgen.

"Die Seele ist eine schmutzige Kneipe, in der die Dämonen ein- und ausgehen, wie sich der antike Lehrer Valentinus einmal ausdrückte. Wir verspüren jedoch wenig Lust, uns mit unseren Dämonen auseinanderzusetzen. Viel lieber beschäftigen wir uns mit denen der anderen. Doch je mehr Quälgeister wir aus dem eigenen Keller hervorholen, umso mehr lernen wir über uns. Und schreiben wir einen Gedanken auf, wird er festgehalten, steht da und will schlüssig fortgesetzt werden. Schriftliches Nachdenken ist demnach intensiver und konsequenter. Das Schreiben ordnet unser Nachdenken."

Selbsterkenntnis kann zu einem qualitativ besseren Leben führen, sofern sie auch umgesetzt und gelebt wird. Ja so recht eigentlich hat man nur dann auch etwas "wirklich" begriffen, wenn sich die Erkenntnis auf die eigene Lebenswirklichkeit auswirkt.

Eindrücklich und überzeugend an diesem schmalen Werk ist vor allem, wie es der Autor schafft, Hilfreiches in einfachen Sätzen zu vermitteln. "Das griechische Wort 'sophos' bedeutet nicht nur 'weise', 'verständig' und 'klug', sondern vor allem auch 'geschickt'. Weise ist derjenige, der 'geschickt' mit seinem Schicksal umzugehen versteht."

Albert Kitzler
Wie lebe ich ein gutes Leben?
Philosophie für Praktiker
Pattloch Verlag, München 2014

Mittwoch, 9. Juli 2014

Wollen Müssen

"Sie müssen sich ihrer Krankheit stellen. Sie dürfen den Kopf nicht in den Sand setzen, das hilft Ihnen gar nichts. Sie müssen wollen. Es ist nicht leicht. Es wird die grösste Herausforderung, die Sie bisher in Ihrem Leben meistern mussten. Die schwerste Rolle, wenn man so will." 
"Und wenn ich nicht will ... Wenn ich nicht mehr spielen will?" 
"Dann haben Sie keine Chance. Dann haben wir keine Chance."

Johannes Zacher
Das Lachen der Hyänen

Mittwoch, 2. Juli 2014

The serenity of belonging

Like Florencia, Lydia was proud of being Cuban. In her happy moments she basked in the kind of serenity that comes from knowing, in no uncertain terms, who and what you are - the serenity of belonging without a doubt to something greater than yourself - like the most devout priests, die-hard military men, and the very rich. And certain immigrants - those Irish whose clothes somehow smell like the mists of Dingle Bay, or those Sicilians on Mott Street who speak an Italian that confounds the university professors, the Jewish folk of Hasidic faith who would never, in their lifetimes, read a single English-language newspaper. Or those Ukranians of the Lower East Side who still trundled the streets in peasant garb, in babushkas and heavy skirts in the summertime, as if walking up a hill in the Caucasus. Or those Chinese restaurateurs whose establishments one found at the end of a twisting passageway - as twisting as any search for identity - and down stairways, and into yet more passageways until one passed through beaded curtains into low-ceilinged rooms with dark scarlet walls, where the steam smelled like bamboo and one would not hear a single word of English spoken - like those Chinese, and those others who precisely knew just who and how and what they were, even if life wasn't always easy - that kind of serenity.

Oscar Hijuelos
Empress of the Splendid Season

Mittwoch, 25. Juni 2014

Partner in der Borderline-Beziehung

"Menschen, die sich auf eine Borderline-Beziehung einlassen, werden mit instabilen, chaotischen und oft irrationalen Verhaltensweisen konfrontiert. Betroffene neigen dazu, in kritischen Phasen eigene emotionale Zustände auf enge Bezugspersonen zu übertragen, wobei diese in das Chaos der Störung mit hineingerissen werden", schreibt Manuela Rösel im Vorwort. Und fügt hinzu: "Es sind dennoch Persönlichkeitsanteile der Partner selbst, die ihnen tiefsten Schmerz verursachen."

Es sei empfohlen, diese Sätze mehrmals zu lesen und auf sich wirken zu lassen, denn sie sind für das Verstehen von Borderline-Beziehungen überaus wesentlich. Konkret: Menschen, die unter der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) leiden, schleudert es emotional hin und her, das geht von Panikattacken über heftigste Wutanfälle zu Wahnvorstellungen, aber eben nicht immer, sondern (und deshalb sollte man die obigen Sätze nicht einfach überfliegen) "in kritischen Phasen". Hat man einmal einen Nahestehenden mit BPS in vollster Blüte erlebt, liegt der Schluss "du bist nicht okay – ich bin okay" nahe, doch er ist falsch und das zeigt dieses Buch eindringlich auf.

Manuela Rösel hält die BPS "in erster Linie für eine Bindungsstörung", weshalb sie denn auch zum Schluss kommt, dass diejenigen, die sich in einer solchen Beziehung wiederfinden und nur schwer sich davon lösen können, "auch immer die eigenen Anteile an deren Beziehung und deren Verlauf hinterfragen" sollten. Das ist auch deswegen einleuchtend, weil es für eine Beziehung immer zwei braucht.

"Wenn lieben immer wieder weh tut" plädiert für "die Auseinandersetzung mit den eigenen kindlichen Wurzeln" und weist auf die Erkenntnisse der Transaktionsanalyse hin, die dazu dienen können, "den Kreislauf zwischen Selbstabwertung und Selbstaufgabe unterbrechen zu können."

Das Kernproblem der Borderline-Störung bestehe in der fehlenden Bindung zu sich und zu anderen, argumentiert die Autorin. "Der Partner wird als Objekt wahrgenommen – ein Ding, ein Gegenstand, austauschbar und benutzbar." Als ich dies las, ist mir Hans-Joachim Maaz' Charakterisierung des Narzissten in den Sinn gekommen: "Ein Narzisst liebt nicht, er will geliebt werden, er meint den Nächsten nicht, er braucht ihn, er spürt nicht, was mit dem anderen ist, er nimmt nur wahr, wie der andere zu ihm steht: brauchbar oder nutzlos, Freund oder Feind."

Kann das sein, dass Menschen in so extremen Entweder-Oder-Gefühlen gefangen sind? Und wenn dem so wäre, lassen sich solche Empfindungen mit Kindheitserlebnissen erklären? In ganz Vielem würden wir unterrichtet werden, meinte vor vielen Jahren Chuck C. in einem Vortrag vor den Anonymen Alkoholikern, doch nicht darüber, wie wir glücklich und zufrieden mit uns selber leben können. Doch müssen wir, wenn wir dies lernen wollen, wirklich zurück in die Kindheit gehen, also Ursachenforschung betreiben? Nun ja, der Zeitgeist will es so ...

Eindrücklich schildert Manuela Rösel die Phasen einer Borderline-Beziehung, von der Idealisierung über die Achterbahnfahrt zum Absturz, und betont dabei, dass die Borderline-Verhaltensweisen "NICHT der gezielten Vernichtung anderer" dienen, sondern "hilfloser Ausdruck eines unfertigen Menschen" seien.

Überzeugt hat mich "Wenn lieben immer wieder weh tut" immer dann, wenn die Autorin ihre vielfältigen Erfahrungen mit den diversen Ausprägungen der BPS beschreibt und wenn sie konkrete, praktische Ratschläge gibt. Mühe hatte ich hingegen mit den heutzutage gängigen Vorstellungen wie "das innere Kind",  "Eltern-Ich" oder  "Erwachsenen-Ich". Angesichts der Tatsache, dass alles ständig im Fluss ist, scheinen mir solche Konzepte wenig hilfreich, es sei denn, sie wirken sich positiv auf die Lebenspraxis aus.

 Sich zu bemühen, aufmerksam, wach, unmittelbar gegenwärtig zu sein, "to go with the flow", dem inneren, nicht demjenigen des Zeitgeistes, schiene mir deshalb sinnvoller. Sofern man den dafür notwendigen Mut aufbringt. Und sich zu überwinden schafft. Mit den Worten von Anna Seghers: "So gelassen strömt das gewöhnliche Leben, dass es den mit-nimmt, der seinen Fuss hineinsetzt."

Manuela Rösel
Wenn lieben immer wieder weh tut
Partner in der Borderline-Beziehung
Starks-Sture Verlag, München 2014

Mittwoch, 18. Juni 2014

Schluckspecht

"Hätte ich besser auf Tante Luci gehört, es wäre nicht so schlimm mir mir gekommen. Hätte ich die Augen fest verschlossen und meine Nase gut abgedichtet, wie es die Delphine tun, wenn sie abtauchen, und nicht an Tante Lucis Likörglas gerochen, als Tante Luci es mir unter die Nase hielt, ich wäre vielleicht davongekommen." Nur hat er das eben nicht und ist deswegen nicht davongekommen. Vielleicht, wie Peter Wawerzinek treffend schreibt, denn was wissen wir denn schon.

Andrerseits weiss und/oder merkt und/oder spürt er doch einiges. Dass er anders trinkt als die anderen aus seiner Gruppe. "Ich kann nicht aufhören. Ich greife grade aus dem Koma erwacht zur Flasche, trinke weiter, wo die anderen Mostfreunde längst aufgehört haben."

Zwei Seiten vorher schreibt er: "Noch bin ich weit entfernt von der Sucht der Süchtigen. Noch sitze ich mit meinen Freunden im Mostkeller. Jeder Tag ein Festtag, wenn wir zusammen sind. Noch werden wir nahezu zeitgleich betrunken. Noch erwachen wir nahezu gleichzeitig und trinken weiter. Es macht Spass zu trinken. Trunkenheit ist eine fröhliche Reise mit heiteren, urkomischen, lustigen Zwischenstationen, wenn einer aus dem Rhythmus kommt, wie ein Ausserirdischer zu lallen beginnt, bringt das alle anderen zum Lachen. Schluckspecht zu sein ist da noch ein Kosename zum jugendlichen Spiel."

Dass und wann und wie man diese unsichtbare Linie, welche die Alkoholiker von denen trennt, die nicht saufen müssen, überschreitet, können die Betroffenen bestenfalls im Nachhinein erkennen. Dass er alkoholgefährdet gewesen ist, scheint Peter Wawerzinek schon recht früh erkannt zu haben. "Mich reizt das Zeug mehr als die anderen. Ich greife viel öfter zu ... Ich bin durch den Büffelwodka zum Alkoholiker geworden. Eine Zeitlang kann ich meine Sucht geheim halten ... Aber dann erleide ich durch den Büffelwodka doch den ersten heftigen Filmriss ...".

Es ist die Zeit der jugendlichen Sehnsüchte, der Musik, die einen in andere Sphären hievte (Something in the Air von Thunderclap Newman, Son of a Preacher Man von Dusty Springfield, La poupée qui fait non von Michel Polnareff), als der schüchterne Peter Wawerzinek, der für einige bereits "ein  elendiger Säufer" ist, anfängt, jeden Tag in die Kneipe zu gehen und häufig so besoffen ist, dass er sein Überleben weniger seinem Willen als "eher uralten Säuferinstinkten" verdankt.

"Am Anfang ist der Säufer noch Mensch. Am Ende ist dieser Mensch nur noch Säufer", notiert er einmal und säuft weiter, verflucht seine Inkonsequenz. An hellsichtigen Erkenntnissen mangelt es ihm nicht: "Suff ist Vergessen. Suff nimmt das Leid anderer Menschen nicht wahr. Suff erzeugt Wut auf sich. Suff bringt einen in Schwierigkeit. Man kennt keine Beschaulichkeit mehr ...".

Der Suff beginnt seinen Alltag zu bestimmen, er ist sich dessen bewusst, gibt weiterhin Unsummen für seinen Alkoholkonsum aus und landet schliesslich im Ulenhof, einer therapeutischen Einrichtung für hoffnungslose Fälle.

"Einmal Alkoholiker immer Alkoholiker, wiederholt der Doktor. Säufer sind ständig in Gefahr, auch wenn sie sich geheilt vorkommen. Von heute auf morgen mit dem Trinken aufhören, sagt der Doktor, bedeutet noch nicht, es für den Rest des Lebens geschafft zu haben. Man ist ein Gefangener in seiner Trockenzelle, von angsteinflössenden Suchtträumen heimgesucht ... Davon, die Säufer radikal trocken zu setzen, hält der Doktor nichts. Je länger der Trockenzustand anhält, desto grösser sind die Gefahren. Man schafft es, jahrelang trocken zu bleiben.Und dann, durch allzu grosse Freude, durch Kummer, Trauer, Gram, greift man nach dem einen Schnaps. Und schon beginnt alles mit diesem Einglasschadetnicht wieder von vorne und endet heilloser als je zuvor."

Ich halte die Überzeugung "Je länger der Trockenzustand anhält, desto grösser sind die Gefahren" für ausgemachten Blödsinn, denn es ist nicht die Länge der Trockenheit, die zählt, sondern die tägliche Lebensqualität. Mit dem Saufen aufzuhören ist für Säufer die Grundbedingung, ohne die ein anderes, neues Leben nicht möglich ist.

Peter Wawerzinek sieht das anders. In einem Interview mit dem "Deutschlandfunk" meinte er, er habe sich  die "Drei-Drinks" angewöhnt. "Das heisst also drei Gin Tonic, wenn ich abends weg bin, oder höchstens drei kleine Sektgläser. Immer drei, drei, drei. Wähle 333 am Telefon. Das hat sich dann so ergeben mit diesem Therapeuten, mit dem Dr. Gredig, der so ein Hippie-Typ gewesen ist und das Problem von mir gleich erfasst hat. Vollalkoholiker auf ein Mass zurückzubringen, das ist schon ein Erfolg. Ich will nicht trocken sein ..."

Nur eben: es geht nicht darum, trocken zu sein. Es geht darum, sich mit sich selber wohlzufühlen. Und ohne sich dabei selber zu betrügen. Das "Absturz"-Kapitel trägt den Untertitel: "Das Gefährlichste am Alkohol ist der Alkohol."

Peter Wawerzinek
Schluckspecht
Galiani Berlin 2014

Mittwoch, 11. Juni 2014

Alkohol & Gewalt

„Alkoholkonsum fördert Gewalt im öffentlichen Raum", titelte der Zürcher "Tagesanzeiger" vor Kurzem. Der Untertitel ließ die Leser dann wissen, dass eine Studie des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit ergeben hätte, dass 50 Prozent der Delikte unter Alkoholeinfluss geschehen. Im Text wird es dann etwas genauer: „In einem Zeitraum von einer Woche war bei 50 Prozent von 4800 Vorfällen mit Polizeieinsatz Alkohol im Spiel."

Wie viele Studien, so belegt auch diese, war wir eh schon alle wissen: dass übermäßiger Alkoholgenuss die Wahrscheinlichkeit von Gewaltakten erhöht. So recht eigentlich sind solche Untersuchungen gänzlich überflüssig, außer natürlich für die Forscher, die ja schließlich auch etwas zu tun brauchen.

Der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes nennt es „eine bestellte und tendenziöse Studie" und dass er damit Recht hat, ergibt sich schon alleine daraus, dass der Alkoholkonsum offenbar gar nicht immer nachgewiesen worden ist. „Als Gewalthandlungen wurden nicht nur physische Übergriffe taxiert, sondern auch Verbalattacken und Ruhestörungen. Zudem wurde der Alkoholkonsum nicht in allen Fällen nachgewiesen. Gewalthandlungen wurden auch dann mit Alkoholkonsum in Verbindung gebracht, wenn die Polizei einen solchen vermutete."

Dass es dem Gewerbeverband nicht um die Wissenschaft, sondern um die Durchsetzung seiner Profit-Interessen (er will so viel Alkohol wie möglich verkaufen können) geht, braucht in der heutigen Zeit, wo der Eigennutz jedem selbstverständlich ist, nicht weiter begründet zu werden.

Das sieht das Schweizer Parlament genau so. Der Versuch ein Verkaufsverbot für Alkohol im Detailhandel ab 22 Uhr einzuführen hatte genau so wenig eine Chance wie die Forderung nach Festlegung von Mindestpreisen, um dem Verkauf von hochprozentigem Billigalkohol entgegen zu wirken.

Der Volksmund weiss es besser: Gelegenheit macht Diebe. Und je leichter man an Alkohol kommt, desto mehr wird gesoffen. Wie sagte doch Bill Clinton, als er gefragt wurde, weshalb er sich auf Monica Lewinsky eingelassen habe: "I did it ... Because I could."