Mittwoch, 28. Dezember 2016

On Quitting and Relapsing

.... nobody who's ever gotten sufficiently addictively enslaved by a Substance to need to quit the Substance and has successfully quit it for a while and been straight and but then has for whatever reason gone back and picked up the Substance again has ever reported being glad that they did it, used the Substance again and gotten re-enslaved; not ever.

David Foster Wallace: Infinite Jest

Mittwoch, 21. Dezember 2016

Louise sucht das Weite

Louise Jacobs, geboren 1982 in Zürich, kommt mit der Schweizer Perfektion nicht zurecht, zieht mit achtzehn nach Berlin, fühlt sich befreit. "In Berlin war ich am richtigen Platz."

Vierzehn Berliner Jahre später fühlt sie sich leer, unendlich leer. Und denkt an das Land ihrer Sehnsucht, den Wilden Westen. In ein Leben als Aussenseiter im Wilden Westen hat sie sich während ihrer Kindheit hinein geträumt. Ich kenne das. Bei mir war es nicht der Marlboro-Mann, bei mir waren es die Indianer.

Und dann, während eines Aufenthalts in Arizona, packt sie die Countrymusik. "Ich fand mein Schicksal in den Songs wieder."

Zurück in Berlin schreibt sie weiter an ihrem Künstlerroman, taucht mit grosser Genugtuung in das Leben und Schaffen von Goya, Klimt, Velázquez, Delacroix und de Kooning ein. Doch sie fühlt sich gehetzt, getrieben von der Angst, dieses Buch, ihr zweites, niemals zu Ende zu bringen.

Doch sie bringt es zu Ende, es wird gedruckt, doch zwei Wochen vor Erscheinen wird das Verlagshaus verkauft und der Vertrieb des gesamten Verlagsprogramms eingestellt. Was sollte sie jetzt tun, sie, die sich in Berlin, als Deutsche unter Deutschen nicht heimisch fühlte? Sie stösst auf Berichte und Auswandererführer, auf Briefe und Geschichten aus der Neuen Welt und diese führen sie wieder zu ihrer Cowboy-Sehnsucht zurück.

Sie macht sich auf nach Montana, erfährt dort die Naturgewalten. "Masslose Wolken mit schwarzen Unterleibern jagten in zwei übereinanderliegenden Schichten nach Osten. Zwischendurch zerriss der Wind die dichte Decke und legte ein Stück blauen Himmel frei, dann schloss sich die Lücke wieder, und Regentropfen zerplatzten auf der Frontscheibe des Wagens, in dem ich sass."

Sie erlebt sich neu, staunt, ist fasziniert, fühlt sich frei und bei sich. "Ich schaute zum Fenster hinaus und fühlte mich still und klar – ein Gefühl, das manche nur in der Meditation erfahren können. Mir reichte Montana."

Sie trifft auf Patrick, sie machen viel zusammen, er macht ihr einen Heiratsantrag, besucht sie in Berlin. "Irgendwann  erzählte er mir, dass er eine Borderline-Diagnose hatte. Er nehme keine Medikamente mehr, sagte er, die hätten ihn nur fett gemacht. Doch immer öfter fing er aus heiterem Himmel an, mit mir die Auseinandersetzung zu suchen."

Sein Verhalten wird zunehmend aggressiver, seine Stimmungsschwankungen heftiger, seine Eifersuchtsanfälle und Wahnvorstellungen häufen sich. "Ich war hilflos, ich konnte mich nicht gegen ihn wehren." Nach neun Monaten Beziehung trennen sie sich. "Es war ein Ende mit Schrecken. Mir wurde in dem Moment bewusst, dass meine Naivität und Abenteuerlust ein für mich bedrohliches Ausmass angenommen hatten."

Keine Vorwürfe an Patrick, keine Schuldzuweisungen; Louise Jacobs sucht den Fehler für das Scheitern ihres Montana-Traums bei sich und genau dies ist es, was Louise sucht das Weite zu einem starken Buch macht. Ihr wird klar, dass sie, um ihren Traum leben zu können, sich selbst ändern muss.

Sie lässt Berlin hinter sich, in Vermont verliebt sie sich, heiratet und lernt an der Cornell University das Hufschmiedehandwerk, die Voraussetzung für ein Leben als Cowboy.

Louise Jacobs hat sich von ihrem Traum nicht abbringen lassen und die Vorstellung vom Cowboy-Leben durch das Cowboy-Leben selbst ersetzt.

Louise sucht das Weite macht Mut aufs Leben!

Louise Jacobs
Louise sucht das Weite
Wie ich loszog, Cowboy zu werden und zu mir selbst fand
Knaur Verlag, München 2016

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Wofür es sich zu leben lohnt

Keine Kunst interessiert mich mehr als die Lebenskunst. Und so recht eigentlich ist sie die einzige, von der ich wirklich etwas halte. Kein Wunder also, bin ich Theodore Zeldins Gut Leben. Ein Kompass der Lebenskunst gespannt angegangen, merkte dann jedoch recht schnell, dass der deutsche Titel etwas irreführend ist. Der englische Untertitel trifft es besser: er spricht von einem neuen Weg, die Vergangenheit zu erinnern und sich die Zukunft vorzustellen.

"Die Geschichte ist nicht nur eine Aufzeichnung dessen, was geschehen ist und warum es geschah, sondern regt vor allem die Fantasie an", behauptet Zeldin nicht nur, sondern führt es höchst eloquent vor, indem er uns am Leben und den Gedanken von ganz unterschiedlichen Personen – vom Maler Lucian Freud (1922 - 2011) bis zum Schriftsteller und Politiker Benjamin Disraeli (1804 - 1881) – teilhaben lässt und daraus überaus hilfreiche Folgerungen zieht.

"Die Zwänge des gewöhnlichen Lebens nehmen einen so sehr in Anspruch, dass wir den grundsätzlicheren Problemen der Lebenskunst gewöhnlich ausweichen. Was am wichtigsten ist, wird oft am wenigsten diskutiert. Der Kampf gegen die Zensur ist nie gewonnen, aber die Selbstzensur ist noch heimtückischer."

Er suche nicht nach Lösungen, notiert Zeldin einmal, "sondern nur nach zu erkundenden Wegen." Dabei bemerkt er auch, dass die Glorifizierung und Kommerzialisierung einer kleinen Schar von herausragenden Künstlern den Blick ablenkt von dem, was Kunst auch ist und mehr sein sollte, "nämlich einen wechselseitigen Austausch zwischen Menschen anzuregen, die in verschiedenen Ausschnitten der Wirklichkeit zu Hause sind und unterschiedlich empfinden."

Theodore Zeldin, geboren 1933, lehrte viele Jahre in Oxford Geschichte. Kein Wunder also, liefert er in diesem Werk viel gelehrtes Wissen und orientiert sich dabei ebenso an den grossen Namen, wie er das bei den Kunstdebatten kritisiert. Ausserordentlich anregend ist ihm dabei die Auseinandersetzung mit dem Glauben beziehungsweise den Religionen gelungen. "Es gibt keinen Kampf der Kulturen zwischen Christentum und Islam, sondern nur das Aufeinanderprallen von Vorstellungen, die in jeder dieser beiden Religionen zu finden sind."

Dabei macht er auch klar, dass es bei religiösen Auseinandersetzungen oftmals gar nicht um die Religion geht, sondern um die Frage, ob man bereit und fähig ist, ein chaotisches Leben voller Widersprüche und komplexer Abläufe zu akzeptieren oder auf eindeutige und einfache Anweisungen angewiesen ist.

Was mich ganz unbedingt für dieses Buch einnimmt, ist, dass der Autor nicht einfach akademisch referiert, sondern danach trachtet, Wissen aus der Vergangenheit für sein eigenes Leben zu nutzen. So bezeichnet er etwa instinktive Abneigung als den Hauptgrund, weshalb so viele Menschen einander nicht zu schätzen vermögen. Und obwohl das eine universelle menschliche Reaktion sei, gebe es einen anderen Weg, "eine andere, langsamere Reaktion, die auf der Überzeugung beruht, dass man jedes Mal etwas Neues entdecken kann, wenn sich zwei Menschen in Situationen, Stimmungen, Gesprächen oder Herausforderungen begegnen."

Theodore Zeldin stellt Menschen und Ideen aus verschiedenen Jahrhunderten  und mit ganz unterschiedlichem Hintergrund einander gegenüber, "um so neue Antworten auf die Fragen zu finden, die die gegenwärtigen Bewohner der Erde umtreiben."

Besonders angesprochen hat mich der chinesische Schriftsteller und Dramatiker Lao She (1899-1966), für den Humor "eine Geisteshaltung" war, die es zu kultivieren galt, um das Leben erträglich zu gestalten. "Dazu gehörte, Leute zu beobachten wie ein Tourist, der alles interessant findet." Ein wunderbar hilfreicher Ratschlag, den ich letzthin (ohne ihn allerdings gekannt zu haben) instinktiv praktizierte, als ich am Bangkoker Flughafen beim Warten auf meinen Flug den Gang meiner Mitpassagiere beobachtete. Die Art und Weise des Gehens ist nicht nur ausgesprochen vielfältig, sie lädt auch zum Schmunzeln ein.

"Lebendig zu sein heisst mehr als nur ein Herz zu haben, das schlägt. Es heisst auch, sich bewusst zu werden, wie andere Herzen schlagen und wie andere im Austausch miteinander denken", meint  Zeldin, der mit diesem höchst gelungenen Buch seinen Beitrag leistet, damit wir miteinander ins Gespräch kommen können.

Theodore Zeldin
Gut leben
Ein Kompass der Lebenskunst
Hoffmann und Campe, Hamburg 2016

Mittwoch, 7. Dezember 2016

Vom Helfen Wollen

Es scheint mir, dass ein Mensch, bei dem allerbesten
Willen, unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn
er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen,
deren Geist und Wille ihm verborgen ist.

Friedrich Wilhelm Nietzsche