Donnerstag, 15. Oktober 2020

Über Psychotherapie

Die Frage, Was hilft Psychotherapie?, geht implizit davon aus, dass sie messbar ist. Das bezweifle ich. Umso gespannter bin ich, was der  Mediziner und Psychoanalytiker Otto Kernberg (geboren 1928) auf die Fragen des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz (geboren 1954) antworten wird. Der Einstieg, der davon erzählt, wie sich die beiden kennenlernen, liest sich spannend und vielversprechend. Mich fasziniert vor allem wie herzlich, vital und voll ansteckender Begeisterung der Jüngere den Älteren erlebt. Wunderbar!

Otto Kernberg gilt zusammen mit Marsha M. Linehan als führende Autorität der Borderline-Störung. Was die beiden denn auszeichne, wurde John G. Gunderson, selber eine einschlägige Autorität, gefragt. Sie hätten beide "charismatische Ausstrahlung" und verkörperten "Zuversicht, Klarheit, Kraft und Sicherheit", erwiderte er. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich nun las, was Kernberg  als die Kriterien definiert, die einen guten Psychotherapeuten ausmachen: "Wissen, Ehrlichkeit, authentische Wärme, Interesse für Menschen, Empathie und die Fähigkeit, sich anzupassen, und die eigenen Fehler zu erkennen und von ihnen zu lernen."

So charakterisiert Otto Kernberg die Borderline-Störung: "Eîn Borderline-Patient versteht sich in schwerwiegender Weise selbst nicht, nicht seine eigenen Interessen, nicht seine eigenen Pläne, und zugleich versteht er wichtige andere Personen nicht, mit dem Resultat chaotischer menschlicher Beziehungen, weil er das eigene und das Verhalten anderer Personen nicht vorhersagen kann." Und worin liegt der Unterschied zu einem launischen Menschen?, fragt Manfred Lütz.. "Der grösste Unterschied ist, dass dem Borderline-Patienten das Gefühl für eine innere Kontinuität in der Zeit fehlt, er empfindet sich im Extremfall morgen völlig anders als gestern oder vor einer Stunde, und wer weiss, was in zwei Stunden ist ...". Schade, dass Manfred Lütz nicht nachgebohrt hat, wie denn eine Therapie in einem solchen Falle ausschaut.

Aufgestossen ist mir Manfred Lütz' Bemerkung, dass der Ausdruck "narzisstisch" nur benutzt werden dürfe, "wenn die wissenschaftlichen Kriterien erfüllt sind", denn ich halte die Vorstellung, Medizin, Psychiatrie oder gar Psychoanalyse seien Wissenschaften, für einen Irrglauben. Siehe dazu Gesetze der Medizin

"Würden Sie Herrn Trump behandeln, Herr Kernberg?" gehört zu den Fragen, auf deren Beantwortung ich ganz besonders gespannt war. Die Antwort enttäuschte mich – er sprach sich gegen Ferndiagnosen aus, die Gründe sind nachvollziehbar, ich teile sie nicht. Interessanter fand ich Manfred Lütz' Einschätzung von Trump, der ihn nicht für einen Narzissten hält, denn ein Leidensdruck ist bei dem Mann nun wirklich nicht auszumachen. Meines Erachtens erübrigt sich eine Diagnose, sie tut ihm zuviel Ehre an; gescheiter wäre, sich nicht mit ihm, sondern den Auswirkungen seiner Politik zu beschäftigen.

Der Sinn des Lebens, der Glaube an Gott, Freud, Jung und Thomas Mann, die Frage, was Liebe und was  Heimat ist, und und und ... – es geht um die grossen Fragen bei diesem Gespräch zwischen zwei neugierigen, und engagierten Zeitgenossen. Herausgekommen ist überaus hilfreiche Aufklärung.

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? überzeugt wesentlich durch die vielen praktischen Beispiele, die aufzeigen, wie Otto Kernberg arbeitet. Es überzeugt aber auch deswegen, weil es kein Interview-Buch, sondern ein echtes Gespräch ist. Die beiden tauschen sich  unter anderem über die Irrwege der Psychotherapie, Kernbergs jüdische Kindheit in Wien und seine Zeit in Chile aus sowie über die von der Pharmaindustrie und von unkritischen Medien (die meisten Medien sind, entgegen ihrem Selbstverständnis, eigentliche Systemstützen) geförderte Inflation von psychischen Erkrankungen aus – mit gesundem Menschenverstand liesse sie sich ohne weiteres eindämmen.

In unseren Corona-Zeiten ist mir unter anderem aufgefallen, wie  wenig inspirierend etwa Fernsehinterviews sind, die sich häufig in der Frage erschöpfen: Wie fühlen Sie sich, Herr Präsident? Und wie spannend und anregend ich die Auskünfte von Fachleuten finde. Kurz und gut: Es ist höchst bereichernd, wenn sich zwei Fachleute verständlich über Grundsätzliches austauschen – und genau dies zeichnet das vorliegende Buch aus.

Manfred Lütz
Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg?
Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten
Herder, Freîburg im Breisgau 2020

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Hochsensibilität: Wenn die Haut zu dünn ist

"Hochsensible müssen einen grösseren mentalen Aufwand treiben und brauchen ein gewisses Know-how, wenn sie sich seelisch gesund erhalten, sich privat und beruflich entfalten wollen", schreibt Rolf Sellin, selbst hochsensibel, in Wenn die Haut zu dünn ist. Doch was macht eigentlich Menschen zu  Hochsensiblen? Sie nehmen mehr Reize auf als andere, werden von Reizen geradezu überflutet. Einschlägige Forschungen legen den Schluss nahe, dass dieses Temperament angeboren ist und sich wie ein roter Faden durch das ganze Leben zieht. Doch auch Umwelteinflüsse spielen eine Rolle. 

"Wahrnehmung ist der zentrale Punkt im Leben eines Hochsensiblen. Sie ist seine grösste Stärke und Begabung und kann zugleich sein grösster Schwachpunkt sein, wenn er nicht gelernt hat, damit umzugehen." Mehr, intensiver und differenzierter wahrzunehmen ist für eine gewisse Zeit höchst bereichernd (wie etwa Drogenkonsumenten wissen), doch wenn dies ständig der Fall ist, laugt es einen Menschen energetisch aus. 

Es gilt also zu lernen, mit dieser Reizüberflutung umzugehen. Und dazu bietet dieses gut aufgebaute Buch praktische Anregungen. Da finden sich Selbsttests, Begriffserklärungen (hochsensibel und hochbegabt sind nicht deckungsgleich), Übungen und kurze, prägnante Zusammenfassungen. Rolf Sellin erläutert die Entstehung des Hochsensibel-Seins in drei Stufen. 1) Das Kind lernt, seinen Körper und seine Empfindsamkeit nicht zu beachten. Anders gesagt: Es lernt, gegen die eigene Komplexität vorzugehen 2) Widersprüchlichkeit ist in unserem Denken nicht vorgesehen.  Anders gesagt: Unsere Welt funktioniert nach Entweder/oder beziehungsweise Schwarz/Weiss 3) Das Kind übernimmt die Perspektive der anderen. Anders gesagt: Weil sie gelernt haben, nicht auf sich selber zu hören, müssen sie sich andere als Referenz-Personen suchen.

Rolf Sellin legt mit Wenn die Haut zu dünn ist eine veritable Wahrnehmungsschulung vor, die nicht zuletzt deswegen überzeugt, weil sie auf die Praxis ausgerichtet ist. Wie alles, ist auch Wahrnehmung relativ. Wir wissen nicht, was andere genau wahrnehmen, ja, wir wissen meist selber nicht, was wir wahrnehmen, da es sich dabei um einen automatischen Prozess handelt. Doch: "Wahrnehmen ist ein aktiver Akt, er kann durch bewusste Entscheidungen verändert werden." Nicht notwendigerweise durch Achtsamkeit (die ist für den Hochsensiblen problematisch, wie der Autor ausführt), sondern durch bessere Selbstzentrierung: "Wer sich selbst nicht wahrnimmt und seine Aufmerksamkeit überwiegend nach aussen richtet, ist energetisch nicht bei sich."

Ich selber bin nicht hochsensibel, doch einige der hier geschilderten Phänomene sind mir durchaus vertraut und Rolf Sellins Ratschläge willkommen. Insbesondere das Kapitel "Kraft, Energie und Wachstum durch Abgrenzung" empfand ich als überaus hilfreich. Seine eigenen Grenzen zu kennen, ist nicht nur für Hochsensible entscheidend, denn Grenzen geben Sicherheit, bieten Schutz und erlauben Kontrolle. "An unseren Grenzen wachsen wir", schreibt Rolf Sellin, denn das meint letztlich: Wir  können (und sollen) verantwortlich sein für das, was innerhalb unserer Grenzen passiert.

"Die Grundvoraussetzung für gelungene Abgrenzung besteht zunächst einmal darin, überhaupt bei sich zu sein und sich selbst körperlich wahrzunehmen." Den eigenen Körper wahrzunehmen kann (und soll) man üben. Anregungen dazu finden sich in diesem Buch zuhauf. 

Wir haben die Wahl, müssen uns entscheiden, ob wir uns als Opfer oder als Gestalter unserer Wahrnehmung verstehen. Die Verantwortung für die Steuerung und Dosierung unserer Wahrnehmung und für die Verarbeitung der Reize und Informationen selbst zu übernehmen, eröffnet die Möglichkeit, dass Hochsensibilität zum Segen werden kann. 

Fazit: Ein überaus hilfreiches Buch!

Rolf Sellin
Wenn die Haut zu dünn ist
Hochsensibilität - vom Manko zum Plus
Kösel, München 2020