Mittwoch, 25. Dezember 2019

Zum Zeugen werden

Mir schwebte etwas Neues vor. Nur was?

Fündig wurde ich bei „Zen im Alltag“ von Charlotte Joko Beck, das ich vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal gelesen habe. Angestrichen habe ich mir damals unter anderem: „… wenn wir wirklich beobachten, was in unseren Köpfen passiert, dann sehen wir, dass wir ständig um Wunschträume kreisen, wie wir sein sollten oder nicht sein sollten, oder wie jemand anders zu sein hätte; wie wir in der Vergangenheit waren, wie wir in der Zukunft sein werden oder wie wir die Dinge hinbiegen können, dass wir bekommen, was wir haben wollen.“

Eine neue Lebenseinstellung, bei der das Üben zum Zeugen zu werden im Vordergrund steht, ist also gefragt. Bei diesem Üben geht es darum, „uns die Angst bewusst zu machen, anstatt in unserer Zelle der Angst aufgeregt herumzulaufen und zu versuchen, sie zu verschönern und uns dabei besser zu fühlen. Alle unsere Bemühungen im Leben sind solche Fluchtversuche – wir versuchen, dem Leiden zu entfliehen, dem Schmerz darüber, was wir sind. Selbst Schuldgefühle sind eine Flucht. Die Wahrheit jedes Augenblicks ist immer die, dass wir einfach sind, was wir sind. Das bedeutet, dass wir unsere Unfreundlichkeit spüren, wenn wir unfreundlich sind. Aber das wollen wir ja nicht. Wir wollen uns für freundliche Menschen halten. Oft aber sind wir es nun einmal nicht.“

Es geht also um Akzeptanz, uneingeschränkte Akzeptanz. Wenn wir diese erlangen, werden wir ein anderer Mensch sein. In diesem Abschnitt meines Lebens, so nehme ich mir vor, will ich das versuchen. „Wenn wir uns selbst erleben, wie wir sind, dann entspriesst aus diesem Tod des Ich, aus diesem verdorrten Baum, eine Blüte – ein Bild aus dem wunderschönen Vers des Shōyō Rōku. Die Blüte blüht nicht aus einem geschmückten, sondern einem verdorrten Baum. Wenn wir von unseren Idealen Abstand nehmen und sie genau betrachten, indem wir Zeugen sind, dann kehren wir zu dem zurück, was wir sind, und das ist die Klugheit des Lebens selbst.“

Hans Durrer, 2019

Mittwoch, 18. Dezember 2019

Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern

Dieses Buch erschien zuerst im Jahre 2007, erfuhr seither zahlreiche Neuauflagen und ist jetzt vollständig überarbeitet worden. Mit anderen Worten: Es ist ein Klassiker und solche werden, wie wir alle wissen, selten gelesen. In diesem Falle wäre das bedauerlich, denn nur schon die Kapitelüberschriften lassen erahnen, dass man hier umfassend informiert wird.

Die insgesamt 17 Kapitel  und 3 Exkurse befassen sich unter anderem mit den Bausteinen des Gehirns, der Verankerung der Persönlichkeit in diesem, dem Bewusstsein und dem Unbewussten, unterschiedlichen Aspekten der Neurobiologie sowie mit Fragen der Motivation, der Steuerung von Willenshandlungen und und und.

Hier will ich das Kapitel etwas näher  betrachten, das mir am nächsten steht. "Über die Möglichkeit, sich selbst zu verstehen und zu verändern." Es beginnt mit diesem höchst  wesentlichen Satz: "Die Frage 'Wer bin ich?' ist zentral für unser westliches Denken, das man im Gegensatz zu vielen anderen Kulturen ich-zentriert genannt hat." Fragt sich nur, ob es dieses Ich überhaupt gibt  für den Buddhismus und einige wenige Philosophen (David Hume etwa) jedenfalls nicht. Nun gut, Sokrates hat trotzdem für Selbsterkenntnis plädiert, Goethe von ihr abgeraten. 

Gerhard Roths Position ist diese: "Wir sind nicht ein Ich, sondern mehrere Iche, die irgendwie miteinander zusammenhängen (....) Wir sind uns letztlich selber undurchdringlich. Das Ich kann sich nicht oder nicht gründlich, d.h. auf den Grund durchschauen." Feststellen können wir: Manchmal dominiert die körperliche Empfindung, ein andermal das denkende Ich, dann wieder das furchtsame  er herrscht ein ständiges Hin und Her, Rauf und Runter in unserem Bewusstsein.

Roth unterscheidet zwischen  dem Bewusstsein und dem Vorbewussten einerseits (das sind grösstenteils die gesellschaftlichen Konditionierungen, die wir jedoch als eigene Überzeugungen ansehen) und dem Unbewussten andererseits, das per definitionem nicht erkannt werden kann. Das Vorbewusstsein entscheidet, welche Botschaften aus dem unbewussten Teil bewusst werden sollen und die wir dann als unsere Gefühle, Wünsche, Gedanken, Motive und Ziele erleben. Das bewusste Ich glaubt – fälschlicherweise – diese Zustände selbst hervorgebracht zu haben. "Das ist die Illusion der Urheberschaft des bewussten Ich."

Der Mensch, da nicht Herr im eigenen Haus, schätzt sich selten richtig ein. Nicht zuletzt ist er ein Meister der Selbsttäuschung. "The first principle", sagte der Physiker Richard Feinman einmal, "is not to fool yourself. And you are the easiest person to fool." Was dagegen helfen kann ist genaues Hinschauen, nüchternes Betrachten sowie die Dinge aus Distanz einschätzen.

Obwohl wir keinen Zugang zu unserem Unbewussten haben (In uns ist viel mehr angelegt als wir wissen können, man denke etwa ans Temperament), ist es durchaus möglich, sich zu verändern. In Grenzen. Vorausgesetzt, man schafft es, sich selber zu motivieren. "Man kann es lernen, seine Impulse und seine Ungeduld zu zügeln, Durststrecken zu überstehen, sich selbst zurückzunehmen, selbstgenügsam zu werden, aber auch mehr Ehrgeiz, mehr Ordnung, mehr Pünktlichkeit zu entwickeln. Allerdings funktioniert all das nur, wenn die eigene Persönlichkeitsstruktur dies unterstützt. Die haben wir leider nicht in der Hand", schreibt Gerhard Roth. 

Fazit: Ein überaus nützliches Werk.

Gerhard Roth
Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern
Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Klett-Cotta, Stuttgart 2019

Mittwoch, 11. Dezember 2019

Wagnis und Verzicht

In Dharamsala trafen sich der Religionswissenschaftler Michael von Brück (Jahrgang 1949) und der Dalai Lama (Jahrgang 1935) und unterhielten sich ausführlich über persönliche Erfahrungen, Bildung, Erziehung, Politik, Religion, Medien, Ökologie und Technologie sowie anderes mehr. Diese höchst aufschlussreichen Gespräche liegen nun unter dem Titel Wagnis und Verzicht als Buch vor.

Wer denn ein besonderer Mensch in seinem Leben gewesen sei, fragte Michael von Brück einleitend, worauf der Dalai Lama meint, jeder Mensch solle sein eigener Lehrer sein. "Es kommt auf selbstständiges Denken und gültige Argumente an, und nicht auf autoritäre Botschaften, die einige für wichtig halten, die für andere jedoch irrelevant sind."

Nicht nur eine überaus vielfältige Palette an Themen wird in diesen Gesprächen angesprochen – im Gegensatz zu vielen anderen Büchern, geht es in diesem sehr praktisch zu und her. So plädiert der Dalai Lama nicht nur für gute Bildung, sondern erläutert auch konkret, was er darunter versteht.

"Der richtige Gebrauch der Vernunft muss erlernt werden. Menschen müssen so erzogen werden, dass sie sich der Komplexität der Welt bewusst werden, und auch der Tatsache, dass Lösungen, ganz gleich auf welchem Gebiet, ebenfalls komplex sind. Nur auf der Basis von Wissen lassen sich Ängste überwinden und Mut entwickeln." 

Bildung bedeutet die Schulung der inneren Werte und des inneren Friedens, die heutigen Schulen sind hingegen Orte der Ausbildung für das materialistisch ausgerichtete Leben.

Von der Vernunft Gebrauch zu machen heisst auch "unsere Wahrnehmung zu schulen und dann die tatsächlichen Wahrnehmungen korrekt zu interpretieren. Die meisten unserer negativen Emotionen sind Reaktionen auf das, was vermeintlich passiert, doch beruhen sie nicht auf der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern auf Unwissenheit."

Als Kind habe er seinen aufbrausenden Vater gehasst, sagt der Dalai Lama. "Wie hast Du diesen Hass überwunden?", fragt Michael von Brück. "Die Zeit hat ihn geheilt." (sie hatten keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten). Es sind diese klaren und unprätentiösen Antworten, die mir dieses Buch speziell teuer machen. Auch auf die Frage: "Hast Du Angst vor dem Tod?", antwortet der Dalai Lama simpel und direkt. "Nein." Und führt dann aus: "Da ich weiss, dass ich dem Tod nicht entgehen kann, hat es in meinen Augen keinen Sinn, Angst davor zu haben. Ich sehe den Tod so, als würde man abgetragene Kleider wechseln, doch ist das nicht das Ende aller Dinge."

Besonders beeindruckt haben mich die Ausführungen über Leerheit und Verbunden-Sein. Leerheit meint, dass Lebewesen und Objekte nicht aus sich selbst beziehungsweise aus eigener Kraft entstehen. Anders gesagt: Ein klares getrenntes Ich gibt es nicht, denn alles ist miteinander verbunden, existiert nur in Abhängigkeit voneinander. Nichts exisitert so, wie es scheint. "Dinge und Ereignisse sind nicht unabhängig voneinander, vielmehr ist alles miteinander verknüpft. Ein beliebiges Etwas ist das, was es ist, nur in Beziehung zu etwas anderem."

Wie kann man also gegen seine egoistische, selbstbezogene Haltung angehen? Durch Reflexion, die uns erlaubt, zu erkennen, dass dem Ego nachzugeben meist zu Angst, Isolation und Unglücklichsein führt. Falls man diesem krank machenden Separatismus entgehen will, empfiehlt sich als logische Konsequenz die Nächstenliebe. Das geduldige Einüben einer altruistischen Einstellung wird uns zufriedener machen. 

"Mein Erkennen geht in Erleben über" zitiert Michael von Brück Albert Schweitzer und  kommentiert das so:  "Damit sagt er doch Folgendes: Ich weiss, dass alle Dinge miteinander verbunden sind. Sowohl die modernen Naturwissenschaften als auch unsere je eigene Lebenserfahrung lehren uns genau das. Doch auch wenn ich dies weiss und vielleicht auch eine tiefere Einsicht in solche Zusammenhänge gewinne, folgt daraus für das Leben meist nichts, wenn nicht eine emotionale Empfindung und das Gefühl von Ehrfurcht hinzukommen, erst dann nämlich wird dieses Wissen um die Einheit der Dinge zur prägenden Erfahrung. Eine solche Erfahrung verbindet Herz und Verstand, sie verändert meine Motivation wirklich."

Fazit: Differenziert, anregend und ausgesprochen hilfreich.

Dalai Lama
Michael von Brück
Wagnis und Verzicht
Kösel, München 2019

Mittwoch, 4. Dezember 2019

Die psychotische Gesellschaft

"Diese Welt verschlägt mir den Atem. Man kommt gar nicht mehr hinterher mit dem Mitdenken und Mitfühlen, und doch beginnt jede Veränderung mit dem Annehmen und Beschreiben dessen, was ist", hält Ariadne von Schirach treffend fest. Nur hält sie sich selber nicht dran und beginnt stattdessen mit einer Zuschreibung. Konkret: Sie behauptet, die gegenwärtige "Auflösung des Allgemeinen" erinnere "stark an das Krankheitsbild einer Psychose." Ich sehe das zwar ähnlich, doch "Annehmen und Beschreiben dessen, was ist", ist das nicht, sondern Denken in gängigen psychiatrisch-akzeptierten Kategorien.

Nun gut, warum auch nicht? Psychotisch meint primär Realitätsverlust. Grundsätzlich gilt: "Der psychotische Mensch hat seinen Geist und sein Urteilsvermögen verloren, sein Leben ist ihm fremd geworden." Dazu kommen – das psychiatrisch-diagnostische Feld arbeitet zwar mit wissenschaftlichen Methoden, ist jedoch keine Wissenschaft – Wahnideen, Ängste, Störungen des Ich-Erlebens, Ohnmachtsgefühle sowie mangelnde Krankheitseinsicht. Für die psychotische Gesellschaft bedeutet das, dass sie sich nicht mehr begreifen und deswegen auch nicht bewusst verändern kann. Das beschreibt meines Erachtens die gegenwärtige Situation, in der zunehmend auch Aberwitziges wie etwa  Verschwörungstheorien an Boden gewinnen, recht gut.

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin und Kritikerin und lehrt Philosophie und chinesisches Denken und behauptet unter anderem: "Alles, was geschieht, hat einen Grund, doch es ist nicht unbedingt sinnvoll – schon gar nicht auf eine Weise, die sich uns Menschen mit unserer beschränkten Wahrnehmungskapazität erschliessen würde." Ein Satz, der unsere beschränkte Wahrnehmungskapazität treffend illustriert, denn schliesslich ist auch ein Denken vorstellbar, in dem es keine Gründe gibt.

Ariadne von Schirach geht ihr Thema Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden so an, wie das alle, die an Hochschulen unterrichten, tun – sie erzählt von ihrem Fachgebiet. Und so erfahren wir, dass Platons und Aristoteles' Denken das Trennende (und den Einzelnen) betonte, während das Denken des alten China den Einzelnen in seinem Bezug zum Ganzen sah. Und wir lesen von Kierkegaard, der meinte, der Mensch solle der werden, der er sei. "Zu werden, der man ist, heisst, sowohl ein Gefühl für seine eigenen Beschränkungen als auch für seine Potenziale zu entwickeln und Letztere zu verwirklichen", hält die Autorin fest, die mit diesem Buch eine weltanschauliche Ideengeschichte (von Martin Heidegger über Eugen Bleuler zu Naomi Klein) vorlegt..

Obwohl ich diesen Ansatz dem psychologischen, der sich häufig in recht banalen Allerweltsweisheiten erschöpft, vorziehe, habe ich mich gefragt, was denn nun praktisch zu tun sei, um Angst und Ohnmacht zu überwinden. Sich dem eigenen Dasein bewusst zu stellen, meint Ariadne von Schirach. "Angst und Ohnmacht zu überwinden heisst, sich ihnen endlich zu stellen." Nur eben: das erfordert Mut – und der fehlt den meisten

Nichtsdestotrotz: wir brauchen ihn nicht nur, diesen Mut – er ist unabdingbar, damit wir nicht noch kränker werden, denn wir leben in einer Zeit, "die das Eitle, Bequeme und Gierige im Menschen fördert und bestärkt." Das Resultat ist eine kranke Gesellschaft, die auf den eigenen Untergang zusteuert.

Es spricht sehr für dieses Buch, dass sich die Autorin auch die wirtschaftlichen Bedingungen, die eine psychotische Gesellschaft ermöglichen und befördern, vornimmt. Sie tut das unter anderem unter Bezugnahme auf Ayn Rand, die gemeinhin als glühende Verfechterin des Kapitalismus gilt. Ariadne von Schirach geht sie wesentlich differenzierter an und schält Wesentliches heraus: "Rands Figuren sind emotionslos, kompetent und kontrolliert." Und: "Wer nur für sich lebt, ist durch ebendieses Selbst begrenzt ...".  Die Folge ist das generelle Abgetrennt-Sein, von sich, den anderen und überhaupt allem, womit wir verbunden sind.

Gemäss Ariadne von Schirach gibt es einen Ausweg. "Kann ein Mensch, der verrückt war, wieder normal werden? Meistens. Wenn er Hilfe bekommt. Und sie annehmen kann. Heilung ist das Finden eines neuen Sinns."  Einverstanden. Das Problem ist nur, dass der Mensch sich nicht ändern will. Keiner. Ausser er muss.

Ariadne von Schirach
Die psychotische Gesellschaft
Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden
Tropen, Stuttgart 2019