"Diese Welt verschlägt mir den Atem. Man kommt gar nicht mehr hinterher mit dem Mitdenken und Mitfühlen, und doch beginnt jede Veränderung mit dem Annehmen und Beschreiben dessen, was ist", hält Ariadne von Schirach treffend fest. Nur hält sie sich selber nicht dran und beginnt stattdessen mit einer Zuschreibung. Konkret: Sie behauptet, die gegenwärtige "Auflösung des Allgemeinen" erinnere "stark an das Krankheitsbild einer Psychose." Ich sehe das zwar ähnlich, doch "Annehmen und Beschreiben dessen, was ist", ist das nicht, sondern Denken in gängigen psychiatrisch-akzeptierten Kategorien.
Nun gut, warum auch nicht? Psychotisch meint primär Realitätsverlust. Grundsätzlich gilt: "Der psychotische Mensch hat seinen Geist und sein Urteilsvermögen verloren, sein Leben ist ihm fremd geworden." Dazu kommen – das psychiatrisch-diagnostische Feld arbeitet zwar mit wissenschaftlichen Methoden, ist jedoch keine Wissenschaft – Wahnideen, Ängste, Störungen des Ich-Erlebens, Ohnmachtsgefühle sowie mangelnde Krankheitseinsicht. Für die psychotische Gesellschaft bedeutet das, dass sie sich nicht mehr begreifen und deswegen auch nicht bewusst verändern kann. Das beschreibt meines Erachtens die gegenwärtige Situation, in der zunehmend auch Aberwitziges wie etwa Verschwörungstheorien an Boden gewinnen, recht gut.
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin und Kritikerin und lehrt Philosophie und chinesisches Denken und behauptet unter anderem: "Alles, was geschieht, hat einen Grund, doch es ist nicht unbedingt sinnvoll – schon gar nicht auf eine Weise, die sich uns Menschen mit unserer beschränkten Wahrnehmungskapazität erschliessen würde." Ein Satz, der unsere beschränkte Wahrnehmungskapazität treffend illustriert, denn schliesslich ist auch ein Denken vorstellbar, in dem es keine Gründe gibt.
Ariadne von Schirach geht ihr Thema Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden so an, wie das alle, die an Hochschulen unterrichten, tun – sie erzählt von ihrem Fachgebiet. Und so erfahren wir, dass Platons und Aristoteles' Denken das Trennende (und den Einzelnen) betonte, während das Denken des alten China den Einzelnen in seinem Bezug zum Ganzen sah. Und wir lesen von Kierkegaard, der meinte, der Mensch solle der werden, der er sei. "Zu werden, der man ist, heisst, sowohl ein Gefühl für seine eigenen Beschränkungen als auch für seine Potenziale zu entwickeln und Letztere zu verwirklichen", hält die Autorin fest, die mit diesem Buch eine weltanschauliche Ideengeschichte (von Martin Heidegger über Eugen Bleuler zu Naomi Klein) vorlegt..
Obwohl ich diesen Ansatz dem psychologischen, der sich häufig in recht banalen Allerweltsweisheiten erschöpft, vorziehe, habe ich mich gefragt, was denn nun praktisch zu tun sei, um Angst und Ohnmacht zu überwinden. Sich dem eigenen Dasein bewusst zu stellen, meint Ariadne von Schirach. "Angst und Ohnmacht zu überwinden heisst, sich ihnen endlich zu stellen." Nur eben: das erfordert Mut – und der fehlt den meisten
Nichtsdestotrotz: wir brauchen ihn nicht nur, diesen Mut – er ist unabdingbar, damit wir nicht noch kränker werden, denn wir leben in einer Zeit, "die das Eitle, Bequeme und Gierige im Menschen fördert und bestärkt." Das Resultat ist eine kranke Gesellschaft, die auf den eigenen Untergang zusteuert.
Es spricht sehr für dieses Buch, dass sich die Autorin auch die wirtschaftlichen Bedingungen, die eine psychotische Gesellschaft ermöglichen und befördern, vornimmt. Sie tut das unter anderem unter Bezugnahme auf Ayn Rand, die gemeinhin als glühende Verfechterin des Kapitalismus gilt. Ariadne von Schirach geht sie wesentlich differenzierter an und schält Wesentliches heraus: "Rands Figuren sind emotionslos, kompetent und kontrolliert." Und: "Wer nur für sich lebt, ist durch ebendieses Selbst begrenzt ...". Die Folge ist das generelle Abgetrennt-Sein, von sich, den anderen und überhaupt allem, womit wir verbunden sind.
Gemäss Ariadne von Schirach gibt es einen Ausweg. "Kann ein Mensch, der verrückt war, wieder normal werden? Meistens. Wenn er Hilfe bekommt. Und sie annehmen kann. Heilung ist das Finden eines neuen Sinns." Einverstanden. Das Problem ist nur, dass der Mensch sich nicht ändern will. Keiner. Ausser er muss.
Ariadne von Schirach
Die psychotische Gesellschaft
Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden
Tropen, Stuttgart 2019
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