Dienstag, 15. Juni 2021

Die Wurzeln des Glücks

Wie die Natur unsere Psyche schützt lautet der Untertitel und ist auch der Grund, weswegen ich mich für dieses Buch interessiere. Ich habe schon viel über das Verhältnis Natur und Mensch gelesen und darunter viel Anregendes, doch der Begriff der "Naturdefizit-Störung" von Richard Louv war für mich neu. "Er beschreibt den Preis, den der Mensch angesichts seiner mangelnden Verbindung zur Natur zahlt: eine Unterentwicklung der Sinne, Konzentrationsschwierigkeiten und die Zunahme von körperlichen und seelischen Krankheitsbildern." Diese Abspaltung, die auch in vielen anderen Bereichen charakteristisch für den modernen Menschen ist, scheint mir die Hauptkrankheit unserer Zeit.

"Doch trotz unserer Entfremdung beziehen wir uns noch immer auf die Natur. Sogar im Internet: 'Web' ('Netz'), 'Stream' ('Strom/Fluss'), 'Bug' (Käfer'). Linguistisch und mental sind wir stark mit der Natur verwoben ...". Dies auch praktisch zu erfahren, ist natürlich noch einmal etwas anderes. "Kein Arzt hatte mir 'Natur' verschrieben oder mir angeraten, Zeit im Freien zu verbringen. Ich war mehr oder weniger darüber gestolpert. Doch ich stellte zusehends fest, dass ich die Natur brauchte und ähnlich von ihr Gebrauch machte wie vom Alkohol, der mich früher benebelt hatte. Grosses Plus: Von der Natur bekommt man keinen Kater."

Bereits in den 1760ern habe man geglaubt, dass die Erde sich positiv auf psychisch Kranke auswirken würde. Dass Erde in der Tat wohltuend ist, wissen auch Kinder. "Alle Babys, die man sich selbst überlässt, essen Erde", so Graham Rook, emeritierter Professor und medizinischer Molekularbiologe vom University College London. Auch Erwachsene schätzen den erdigen Geruch nach einem Regenschauer, wenn die Pflanzen bestimmte Öle in die Luft abgeben. Geosmin heisst die organische Verbindung, die für den metallischen Geruch der Erde verantwortlich ist.

Dass sich die Natur positiv auf unser Wohlbefinden auswirkt, lässt sich übrigens messen. Roger Ulrich, Architekturprofessor des schwedischen Center for Healthcare Architecture Research der Chalmers University of Technology, hat herausgefunden, dass bei Patienten, die nach der OP auf Bäume blicken konnten, kürzere Krankenhausaufenthalte, weniger negative Vermerke der Pfleger sowie geringere Schmerzmitteldosen die Folge waren.

Schon einmal von E.O. Wilson gehört? Mir war er bislang als Sozialbiologe bekannt, der sich vor allem mit Insekten befasst hat. Jetzt lerne ich (und das ist höchst spannend erzählt), dass er als junger Teenager ein Auge verlor, so dass ihm nur noch ein kurzsichtiges Auge blieb und er deswegen seine Vogel-, Frösche- und Bären-Beobachtungen aufgeben und sich Wesen zuwenden musste, die sich aus der Nähe betrachten liessen. Und so begann seine Erforschung der Ameisen, die ihn weltberühmt machen sollte.

In seinem 1984 erschienen "Biophilia" befasste er sich mit der Frage, ob die Menschheit mit der Ausbeutung der Natur ihre geistige Gesundheit verliert. "Wenn eine unserer Hauptaufgaben darin bestand, so Wilson, geeigneten Lebenstraum zu finden, ist es sehr wahrscheinlich, dass unsere Gehirne und Sinne dafür hilfreiche Charakteristika herausgebildet haben. Der moderne Mensch – Sie, ich, wir alle – kommt nicht auf die Erde, als stiege er aus einem Zug. Unser Fleisch und Blut und unsere DNA und Gedanken und Vorlieben werden von der Vergangenheit geprägt." Sich auf diese Einsicht wirklich einzulassen, bedeutet, das Leben zu verstehen: Unsere Existenz ist eingebettet in ein grösseres Ganzes.

Es gibt ja heute kaum mehr ein Phänomen, zu dem nicht geforscht wird. Lucy F. Jones erwähnt auch den Psychologen Dacher Keltner von der University of California in Berkeley, der die Emotion des Staunens untersucht hat. "Wenig überraschend stellte Keltner fest, dass Staunen zu gesteigertem Glücksempfinden führt und Stress reduziert." Staunen, es versteht sich, kann man über das, was man wahrnimmt bzw. wahrnehmen kann. Schwinden die Lebensräume, schwinden auch die Möglichkeiten des Staunens und der Welterfahrung. Staunen hat auch das Potential, unser Interesse von uns selbst weg, zu anderen hin zu führen. Und ist damit ein Gegenmittel gegen den grassierenden Narzissmus, der sich auch oft in Süchten entlädt, bei denen das Kreisen ums eigene Ego zentral ist.
 
Die Forschung zeige, so Lucy F. Jones, dass wir alle zum Erhalt unserer geistigen Gesundheit in irgendeiner Form auf die Natur angewiesen sind. "Ohne Zugang zu naturbelassenen Landschaften und der gesamten Bandbreite an Biodiversität, zu Blumen, Pflanzen, Tieren und Bäumen, können wir uns sehr viel weniger effektiv erholen, Ruhe und psychische Nahrung finden." Es gilt einzuhalten und dies zu bedenken. Jetzt, denn uns rennt die Zeit davon, wie Klimaforscher und Wissenschaftler uns schon lange predigen.

Die Wurzeln des Glücks ist eine faszinierende, informative und überaus anregende Lektüre.

Lucy F. Jones
Die Wurzeln des Glücks
Wie die Natur unsere Psyche schützt
Blessing, München 2021

Dienstag, 1. Juni 2021

Borderline und Narzissmus

Von den vielen Büchern über Borderline, die ich gelesen habe, ist dies erst das zweite, das im Titel Borderline und Narzissmus zusammenbringt, obwohl die Verbindung doch, jedenfalls in meiner Vorstellung, offensichtlicher kaum sein könnte: Eine von Impulsen dirigierte Gefühlsachterbahn, gekoppelt mit einer Unfähigkeit zur Empathie, dabei süchtig nach Bestätigung, das jedes Mass sprengt. Und nicht zu vergessen: Wut, Hass und ein Sich-An-Schuldzuweisungen-Klammern, das einem den Schnauf abdreht.

Borderliner suchen hauptsächlich Liebe, Narzissten Bewunderung und Schizoide Sicherheit, so die Gestalttherapeutin Elinor Greenberg. Dass sie diese drei Störungen zusammen nimmt, erachte ich als sehr sinnvoll, ist doch für alle drei die Abspaltung charakteristisch. Wie unterschiedlich sich diese manifestiert, erfährt man in diesem Buch. Und auch wie man darauf sinnvoll regiert. Das Buch richtet sich an Therapeuten und Therapeutinnen. Wie sich Persönlichkeitsstörungen ausserhalb des geschützten Therapie-Raums manifestiert, ist noch einmal eine andere Geschichte.

Doch was ist eigentlich eine Persönlichkeitsstörung? Elinor Greenberg zieht den Begriff "Persönlichkeitsanpassung" vor "um zu betonen, dass der Ursprung dieser Schwierigkeiten in kreativen Anpassungen an eine schwierige Kindheitssituation liegt." Charakteristisch für die Betroffenen ist, dass sie sich selbst und andere durch eine extrem polarisierte Brille sehen, also entweder als rundum gut oder rundum schlecht. Auch fehlt ihnen die Objektkonstanz. "Ohne die Fähigkeit, gilt buchstäblich das Prinzip 'Aus den Augen, aus dem Sinn'." Überdies projizieren sie von den Eltern nicht erfüllte Bedürfnisse auf ihr Gegenüber, reagieren wütend, wenn diese die ihnen zugedachte Rolle nicht spielen wollen, lassen jedoch nicht davon ab, diesen besonderen Menschen zu suchen, den sie in der Kindheit entbehren mussten.

Die Behandlungsvorschläge, die Elinor Greenberg macht, richten sich daran aus, dass der Therapeut dem Klienten zu lernen hilft, "Freude an sich selbst zu haben." Borderliner sind gefühlsmässig in der Kindheit steckengeblieben, da sie in der Regel emotional dafür belohnt wurden, sich nicht von ihren Eltern abzulösen. Oder sie wurden mit Liebesentzug und Beschimpfungen bestraft, wenn sie es trotzdem versuchten. Und was macht nun der Therapeut oder die Therapeutin? Sie ermuntert sie (unter anderem), sich dem Schmerz zustellen. Ein trockener Alkoholiker gab dazu einmal diesen Rat: "Ich lasse es wehtun. Und mit jedem Mal ist der Schmerz ein wenig schwächer."

Schaffen Sie ein sicheres, verlässliches Umfeld, Finden Sie einen angemessenen Umgang mit Wut, Übernehmen Sie bei Bedarf Hilfs-Ich-Funktionen, Fördern Sie die Ich-Entwicklung, Ermutigen Sie zu Ablösung und Individuation, Selbstwertgefühl aufbauen, Ändern Sie allzu strafende Über-ichs und negative Introjekte, Nutzen Sie eine angemessene Art der Konfrontation, Finden Sie Ihren Klienten oder Ihre Klientin liebenswert. So lauten die 10 Punkte, die bei der Behandlung von Borderline-Patienten zur Anwendung kommen sollten. Es handelt sich hier nicht um eine abschliessende Liste. "Es wäre unmöglich, alles aufzulisten, was ich tue, zumal meine besten Interventionen spontan sind." Was die aufgeführten Punkte klar machen, ist vor allem, dass Elinor Greenberg auch nur mit Wasser kocht. Wie so recht eigentlich alle, die Borderliner zu therapieren versuchen.

"All das verlangt Therapeuten eine Menge ab", hält sie fest. Das ist zweifellos richtig, zutreffender wäre allerdings zu sagen, dass Borderliner Therapeuten schlicht überfordern. Übrigens nicht nur Therapeuten, sondern auch Partner, Freunde und Familienangehörige, und zwar in weit höheren Masse, also fast rund um die Uhr und nicht nur ein-, zweimal die Woche für eine Stunde. Die Borderline-Anpassung nimmt übrigens den weitaus grössten Teil dieses Buches ein. 

Elinor Greenberg unterscheidet den gesunden Narzissmus vom defensiven oder pathologischen Narzissmus, bei dem "das Selbstwertgefühl der Person von der Meinung anderer abhängt." Die Gründe werden wie üblich in der Kindheit verortet. Das Bemühen des Therapeuten sollte sich auf eine realistische Selbsteinschätzung des Klienten zubewegen. Dies geschieht wesentlich dadurch, dass seine Stärken und Erfolge betont und seine negativen Selbsteinschätzungen in Frage gestellt werden.

Sehr schön beschreibt die Autorin wie wir alle in einem Kontakt-Rückzug-Zyklus gefangen sind, der so charakterisiert werden kann: Gewahrwerden – Verlangen – Handlung – Kontakt – Übersättigung – Rückzug. "Aber was geschieht, wenn wir Angst vor dem haben, wonach es uns am meisten verlangt?" Und vor allem: Was tun wir dann? Aktiv in die Therapie eingebunden zu werden, stösst mitunter auf Widerstand, was die Therapeutin Greenberg schon mal dazu bewegt, das Handtuch zu werfen. An diesem Punkt jedoch geschieht manchmal Faszinierendes ...

Elinor Greenberg
Borderline und Narzissmus
Wie Menschen nach Liebe und Bewunderung streben
Kösel Verlag, München 2021