Inwiefern ist der Mensch ein selbstbestimmt handelndes Geschöpf? Wie viel ist in uns angelegt, vorbestimmt, unveränderlich? Glaubt man der Hirnforschung, so sind wir weitestgehend unbewusst, ja, automatisch unterwegs. Und auch die Psychoanalytiker meinen, dass unsere Möglichkeiten, uns zu verändern, höchst begrenzt seien.
Seit jeher hat der Mensch danach getrachtet, Einfluss auf sein Schicksal zu nehmen. Und dieses hängt entscheidend von den Genen ab. "Wir sind letztlich nur Träger von Genen ... Wir haben Glück oder Pech mit ihnen, aber sie wissen nichts davon", meint Haruki Murakami und William Bateson behauptet: "Eine genaue Bestimmung der Vererbungsgesetze wird die Weltsicht des Menschen und seine Macht über die Natur vermutlich stärker verändern als jeder andere Fortschritt in der Naturerkenntnis, der absehbar ist."
Der Mediziner und Autor Siddharta Mukherjee, dessen Gesetze
der Medizin Pflichtlektüre sein sollte, hat sich in Das Gen. Eine persönliche Geschichte mit der Geschichte der Gene auseinandergesetzt. Angeregt durch seine Familiengeschichte – auffällig viele seiner Verwandten leiden an Schizophrenie – , hat er sich des Gens angenommen. "Das Atom ist die Grundeinheit der Materie, das Byte (oder 'Bit') die der digitalisierten Information und das Gen die der Vererbung und der biologischen Information."
Das Buch ist historisch angelegt, beginnt mit Mendel (der die Zulassung zum Lehramt zweimal nicht schaffte und sein Leben lang Hilfslehrer blieb) und Darwin – beide sehr unkonventionelle Charaktere – und ist glänzend erzählt. Dass ihre Erkenntnisse freudig entgegen genommen wurden, kann man nicht behaupten – die Kurzsichtigkeit des damaligen Establishments ist dieselbe wie heute (und so recht eigentlich das Wesen des Establishments).
Wir wissen nicht, wie Gene entstanden sind. Wir wissen auch nicht, woher sie kommen. "Ebenso wenig können wir wissen, warum gerade diese Methode des Informationstransfers uund der Datenspeicherung allen in der Biologie möglichen anderen Verfahren vorgezogen wurde. Wir können jedoch versuchen, den Ursprung der Gene im Labor zu rekonstruieren." Und genau dies wurde auch getan. Und noch vieles mehr – Das Gen gibt darüber umfassend Auskunft.
"Die gesamten Erbinformationen eines Organismus bezeichnet man als Genom (das man sich vorstellen kann wie eine Enzyklopädie sämtlicher Gene mit Fussnoten, Anmerkungen, Anweisungen und Verweisen). Das menschliche Genom umfasst 21 000 bis 23 000 Gene mit den Grundanweisungen für die Entwicklung, Reparatur und Erhaltung des menschlichen Körpers."
Der Autor weist unter anderem darauf hin, das Gene zu manipulieren und ein Genom zu verändern zwei ganz verschiedene Sachen sind – bei Ersterem verändern wir eine Zelle, bei Letzterem einen Organismus, also uns. Es verhält sich gegenwärtig wie bei der Atombombe im Jahre 1939: Alle dafür erforderlichen Schritten waren bereits erfolgt. Nur die Abfolge fehlte.
So sehr Eingriffe in das Erbgut wünschenswert sein können, so problematisch sind sie auch. Nicht zuletzt, weil wir aus der Geschichte wissen, dass es in der menschlichen Natur liegt, von grundsätzlich Positivem auch negativen Gebrauch zu machen, weshalb denn Siddharta Mukherjee ein Manifest für eine postgenomische Welt fordert. Grundlage dafür müssten die wissenschaftlichen, philosophischen und ethischen Erkenntnisse sein, über die wir heutzutage verfügen.
Eine ganz zentrale ist: "Die Geschichte wiederholt sich, teils, weil das Genom sich wiederholt. Und das Genom wiederholt sich, teils, weil die Geschichte es tut." Es wird uns kaum gelingen, aus dieser inneren Zirkularität heraus zu kommen, doch sie zu erkennen "und ihren Übertreibungen mit Skepsis zu begegnen, könnte die Schwachen vor dem Willen der Starken und die 'Mutanten' vor der Auslöschung durch die 'Normalen' schützen."
Das Gen ist notwendige Aufklärung vom Feinsten.
Siddharta Mukherjee
Das Gen
Eine sehr persönliche Geschichte
Fischer Taschenbuch, März 2019
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