Mittwoch, 28. Juni 2023

Der Gin-Trailer

Zu Leslie Jamisons Themen, mit denen sie sich schreibend auseinandersetzt, gehört wesentlich die Sucht. Sie tut dies in Form des Sachbuchs, mittels Essays oder, im vorliegenden Fall, als Roman. Mit Sucht ist hier nicht primär eine Substanzabhängigkeit gemeint, sondern eine Lebenshaltung, die sich dadurch auszeichnet, dass nichts jemals genügt. Jamisons Schreiben zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich aufrichtig darum bemüht, sich selbst und dem Leben gerecht zu werden. Das setzt unter anderem voraus, dass man nicht vor seinen Gefühlen flieht, sondern sich ihnen stellt, und bereit ist, vom Schmerz zu lernen.

Der Gin-Trailer wird alternierend von Stella und ihrer Tante Tilly erzählt. Zu Beginn der Geschichte lebt Stella in New York, wo sie sich auch um ihre Oma Lucy kümmert, was einfacher ist, als sich mit der eigenen Alkoholabhängigkeit auseinanderzusetzen. "Ich hatte mir angewöhnt, so lange weiterzutrinken, bis ich mich im Delirium und in dessen absoluter Stille auflöste, bis ich mich vollkommen unbeobachtet fühlte." Dabei brechen auch immer wieder Konflikte mit ihrer Mutter auf, die "in einer deutlich zuverlässigeren und gefestigteren Welt lebte" als sie selber, die die Welt als etwas erfährt, das ihr zustösst, und nicht als etwas, das sie gestaltet. 

Tilly schmeisst ein paar Monate vor dem Abschluss die Schule, trinkt sich, vorzugsweise mit Gin, ins Vergessen und verdingt sich als Hure. "Ständig hatte ich mir vorgebetet: Das ist nicht dein richtiges Leben. Noch nicht." Sie wird schwanger, kriegt ein Kind. "Das Einzige, was ich nie bereuen würde."

Stella macht Tilly in ihrem Trailer in Nevada ausfindig. Und will sie retten. Merkt dann aber, dass sie sich selber retten will. Das geht oft Hand in Hand und soll keineswegs als Argument gegen das Helfen verstanden werden, denn dass man sich auch selber hilft, wenn man andern hilft, versteht sich so recht eigentlich von selbst. Und gehört übrigens zu den Grundüberzeugungen der Anonymen Alkoholiker.

Dass einmal Stella und dann wieder Tilly zu Wort kommt, ist auch deswegen eine gute Strategie, weil das Bild, das wir von uns selber haben, immer unvollständig ist, da wir uns nicht von aussen sehen können. Anders gesagt: Unser Selbstbild bedarf der Ergänzung.

Sowohl Stella als auch Tilly äussern Wesentliches zur Sucht. Etwa, dass es den Süchtigen an Wertschätzung mangelt und sie darunter leiden, dass sie sich selber nicht wertschätzen. Oder, dass sie ständig auf die Lösung des Lebensrätsels hoffen. "Auch mir ging ein Licht auf – welch dämliche Versuche wir ständig unternahmen, um der Welt irgendeinen Sinn abzugewinnen. Ich zog die Knie an die Brust und lachte. Und sah meinem Sohn zu, der ebenfalls lachte."

Der Gin-Trailer ist auch ein Roman über "unsere" vollkommen durchgeknallte Welt, in der Tilly, als sie eine nüchterne Phase hat, durch Vermittlung ihres Sohnes einen Job in einer Bank kriegt und dort in einem Raum arbeitet, der keine Fenster hat. "Ich fragte ihn, warum wir wohl keine Fenster hatten. Er meinte, das habe mit der Filiale in Miami zu tun. Dort war jemand aus dem neunzehnten Stock gesprungen, weswegen eine Richtlinie erlassen worden sei."

Leslie Jamison versteht es ausgezeichnet, ihre Figuren so menschlich zu zeichnen wie Menschen nun einmal sind. Und sie hat ein gutes Gespür für die Absurditäten des Lebens. "Sie war eine Frau, die im Büro fluchte. Worauf man nicht kommen würde, wenn man sie in ihren Samtröcken und hauchdünnen Halstüchern sah, aber es fiel auch anderen auf, und ich merkte, dass es einige störte." Oder: "Sie war netter, als sie aussah, und erzählte mir, wie es so war, als Kleinstadtkind aufzuwachsen." Oder: "Sylvia war eine kleine, vollbusige Frau aus Kolumbien. Wegen ihres Akzents klang sie so, als ob sie andauernd alles lustig fände." Oder, als sich Stella um einen Job in einem Bed & Breakfast bemüht: "Sie wollten nicht wissen, wo ich zur Schule gegangen war oder was ich studiert hatte, sondern fragten nur, ob ich backen könnte. Als ich verneinte, war das aber anscheinend auch nicht weiter wichtig."

Tilly hat zwar Phasen, in denen sie nicht trinkt, aber eben auch immer wieder Rückfälle. Das liegt auch daran, dass sie (wie viele andere auch) Mühe hat, sich helfen zu lassen. Aus Scham. Dieser Scham nicht nachzugeben, gehört zu den für mich wesentlichen Botschaften dieses berührenden Romans.

Leslie Jamison
Der Gin-Trailer
Suhrkamp, Berlin 2021

Mittwoch, 21. Juni 2023

Psychotherapie und körperliche Erkrankungen

Dass Körper und Seele zusammenhängen, dürfte heutzutage kaum noch jemand bestreiten, wie genau sie jedoch auf einander wirken, bleibt weitestgehend ungeklärt. Jedenfalls dann, wenn man unser Ursache-Wirkung-Denken zum Massstab nimmt. So bewundernswerte Resultate dieses Denken auch liefert, es gibt auch andere Arten, um zu Erkenntnissen zu kommen. So weiss etwa Charlie Brown von den Peanuts, dass man seinen Kopf hängen lassen muss, wenn man seine Depression behalten will, wie Gabriele Eßing in Wie Psychotherapie bei körperlichen Erkrankungen wirkt (Ernst Reinhardt Verlag München 2023) ausführt.

Doch von Anfang an: Der Titel Wie Psychotherapie bei körperlichen Erkrankungen wirkt ist eine Behauptung, die die Autorin mit wissenschaftlichen Methoden nicht belegen kann. Nützen kann  Psychotherapie trotzdem, schaden ebenso. In diesem Buch geht es um Ersteres.

"Die einen Unterschied zwischen Körper und Seele machen, haben keines von beiden", ist diesen Ausführungen vorangestellt. Ich glaube zu ahnen, was damit gemeint sein könnte, halte den Satz jedoch für blanken Unsinn, denn was wir haben oder nicht, hängt nicht von unserem Denken ab. "If you understand, things are just as they are; if you don't understand, things are just as they are.", so die Zen-Einsicht.

"Körper und Psyche gehen gemeinsame oder getrennte Wege" lautet eine Kapitelüberschrift und macht damit klar, was jeder Disziplin, die an der Universität gelehrt wird, eigen ist: Es kann so oder anders sein bzw. es kommt drauf an. Trotzdem: es bestehen vielschichtige Wechselbeziehungen zwischen Genaktivität, Nervensystem und Immunsystem, auf welche Gabriele Eßing anschaulich und differenziert eingeht. Womit wir uns füttern (im weitesten Sinne des Wortes), beeinflusst, wie wir uns fühlen.

Besonders anregend fand ich die beiden Kapitel "Behandlung" und "Therapiegeschichten", denn da wird es konkret, wie sich die seelische Komponente auswirken kann. Ein Beispiel: Bei einem 50jährigen Mann wird grüner Star diagnostiziert. Er reagiert darauf mit Angst, diese führt zu Stress und dieser wiederum erhöht die Cortisolwerte, die den Augeninnendruck erhöhen, "der wiederum als Risikofaktor für die Erkrankung gilt, Darum sollte Stress reduziert werden, um auf diesem Weg den Krankheitsprozess nicht noch weiter zu befördern."

Dass ein geschwächtes Immunsystem mannigfaltige Krankheiten begünstigt, ist offensichtlich. Dass Sich-Angespannt-Fühlen der Gesundheit nicht zuträglich ist, ebenso. Doch gibt es da einen direkten, nachweisbaren Zusammenhang? Nein, doch es gibt einen indirekten und oft einleuchtenden. Nur eben: Was einleuchtet bzw. Sinn macht, sagt mehr über unser Denken und Fühlen als über die Realität aus. Nichtsdestotrotz: Wir alle können die praktische Erfahrung machen, dass unsere Gedanken zu unserem Befinden beitragen. Und diese Gedanken lassen sich steuern, besonders dann, wenn wir anders als gewohnt handeln.

Wie Psychotherapie bei körperlichen Erkrankungen wirkt macht mich auch auf Zusammenhänge aufmerksam, an die ich nie gedacht hätte. "Entzündungen treten aber nicht nur als Folge von Verletzungen auf, sondern auch im Zusammenhang mit negativen Gefühlen wie Angst, Unsicherheit und anhaltenden Konflikten."

Dass Alles mit Allem zusammenhängt, ist für mich keine Frage. Wie genau dieses Ineinanderwirken von statten geht, empfinde ich als Rätsel. Als die 50jährige, an einer chronischen Blasenentzündung leidende Hanna, mit der Gabriele Eßing ausgiebig ihre Vergangenheit erkundete, zum Schluss kam, ihr Leben nicht mehr von Schmerzen bestimmen zu lassen, war da plötzlich die Vorstellung, "woher sie kam, kann sie nicht sagen: die Vorstellung, dass ein heilender Strahl den Körper durchläuft. Als Hanna ihr Auto erreichte, waren die Schmerzen weg. Es kommt ihr noch heute wie 'Hexerei' vor."

Für Gabriele Eßing handelt es sich hier jedoch keineswegs um 'Zauberei'. "Innere Bilder sind mit Gefühlen verbunden und wirken auf unser Gefühlszentrum im Gehirn." Schon klar, nur ist das keine Erklärung für das plötzliche Auftauchen von Hannas Vorstellung. Dass sie ihr jedoch rät, "diese Vorstellung vom heilenden Strahl, der ihr geholfen hat, so oft wie möglich durchzuführen", ist das, was man von einer Psychotherapie erwarten kann: Ein Schubs in die richtige Richtung.

Mittwoch, 14. Juni 2023

Älterwerden

 "Er wusste es, er wusste es … man stirbt an Lebensschwäche, lange bevor man an Altersschwäche stirbt, ja, noch war er Kohner, aber das ist er jeden Tag weniger. Das Gefühl des Alleinseins hatte ihn erreicht. Selbst die Freunde zogen sich von ihm zurück, seit er ihnen predigte, was er als Quintessenz seines Lebens empfand - dass sie nichts Besonderes sind und Probleme haben wie alle anderen Menschen auch … dass sie dieselben Fehler bis an ihr Lebensende wiederholen werden … dass alles im Leben Zufall ist und alles, das heisst alles … dass sie eines Tages entdecken werden, nicht derjenige zu sein, für den sie sich halten … dass sie alles im Leben tun, nur um nicht allein zu sein … dass sie bald jeden Tag wünschen werden, der Tag wäre schon vorbei … dass kein Mensch der Herr seines Schicksals ist … dass niemand ihnen sagen kann, wie sie leben sollen … dass das grösste Glück darin besteht, an nichts, an gar nichts zu denken."

Rainer Fabian: Das Rauschen der Welt, 2003

Mittwoch, 7. Juni 2023

If I Had My Life to Live Over ...

If I Had My Life to Live Over ... I'd relax.... I would take fewer things seriously. I would take more chances. I would climb more mountains and swim more rivers.... I'd start barefoot earlier in the spring and stay that way later in the fall. I would go to more dances. I would ride more merry go rounds. I would pick more daisies.

Nadine Stair