Zu Leslie Jamisons Themen, mit denen sie sich schreibend auseinandersetzt, gehört wesentlich die Sucht. Sie tut dies in Form des Sachbuchs, mittels Essays oder, im vorliegenden Fall, als Roman. Mit Sucht ist hier nicht primär eine Substanzabhängigkeit gemeint, sondern eine Lebenshaltung, die sich dadurch auszeichnet, dass nichts jemals genügt. Jamisons Schreiben zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich aufrichtig darum bemüht, sich selbst und dem Leben gerecht zu werden. Das setzt unter anderem voraus, dass man nicht vor seinen Gefühlen flieht, sondern sich ihnen stellt, und bereit ist, vom Schmerz zu lernen.
Der Gin-Trailer wird alternierend von Stella und ihrer Tante Tilly erzählt. Zu Beginn der Geschichte lebt Stella in New York, wo sie sich auch um ihre Oma Lucy kümmert, was einfacher ist, als sich mit der eigenen Alkoholabhängigkeit auseinanderzusetzen. "Ich hatte mir angewöhnt, so lange weiterzutrinken, bis ich mich im Delirium und in dessen absoluter Stille auflöste, bis ich mich vollkommen unbeobachtet fühlte." Dabei brechen auch immer wieder Konflikte mit ihrer Mutter auf, die "in einer deutlich zuverlässigeren und gefestigteren Welt lebte" als sie selber, die die Welt als etwas erfährt, das ihr zustösst, und nicht als etwas, das sie gestaltet.
Tilly schmeisst ein paar Monate vor dem Abschluss die Schule, trinkt sich, vorzugsweise mit Gin, ins Vergessen und verdingt sich als Hure. "Ständig hatte ich mir vorgebetet: Das ist nicht dein richtiges Leben. Noch nicht." Sie wird schwanger, kriegt ein Kind. "Das Einzige, was ich nie bereuen würde."
Stella macht Tilly in ihrem Trailer in Nevada ausfindig. Und will sie retten. Merkt dann aber, dass sie sich selber retten will. Das geht oft Hand in Hand und soll keineswegs als Argument gegen das Helfen verstanden werden, denn dass man sich auch selber hilft, wenn man andern hilft, versteht sich so recht eigentlich von selbst. Und gehört übrigens zu den Grundüberzeugungen der Anonymen Alkoholiker.
Dass einmal Stella und dann wieder Tilly zu Wort kommt, ist auch deswegen eine gute Strategie, weil das Bild, das wir von uns selber haben, immer unvollständig ist, da wir uns nicht von aussen sehen können. Anders gesagt: Unser Selbstbild bedarf der Ergänzung.
Sowohl Stella als auch Tilly äussern Wesentliches zur Sucht. Etwa, dass es den Süchtigen an Wertschätzung mangelt und sie darunter leiden, dass sie sich selber nicht wertschätzen. Oder, dass sie ständig auf die Lösung des Lebensrätsels hoffen. "Auch mir ging ein Licht auf – welch dämliche Versuche wir ständig unternahmen, um der Welt irgendeinen Sinn abzugewinnen. Ich zog die Knie an die Brust und lachte. Und sah meinem Sohn zu, der ebenfalls lachte."
Der Gin-Trailer ist auch ein Roman über "unsere" vollkommen durchgeknallte Welt, in der Tilly, als sie eine nüchterne Phase hat, durch Vermittlung ihres Sohnes einen Job in einer Bank kriegt und dort in einem Raum arbeitet, der keine Fenster hat. "Ich fragte ihn, warum wir wohl keine Fenster hatten. Er meinte, das habe mit der Filiale in Miami zu tun. Dort war jemand aus dem neunzehnten Stock gesprungen, weswegen eine Richtlinie erlassen worden sei."
Leslie Jamison versteht es ausgezeichnet, ihre Figuren so menschlich zu zeichnen wie Menschen nun einmal sind. Und sie hat ein gutes Gespür für die Absurditäten des Lebens. "Sie war eine Frau, die im Büro fluchte. Worauf man nicht kommen würde, wenn man sie in ihren Samtröcken und hauchdünnen Halstüchern sah, aber es fiel auch anderen auf, und ich merkte, dass es einige störte." Oder: "Sie war netter, als sie aussah, und erzählte mir, wie es so war, als Kleinstadtkind aufzuwachsen." Oder: "Sylvia war eine kleine, vollbusige Frau aus Kolumbien. Wegen ihres Akzents klang sie so, als ob sie andauernd alles lustig fände." Oder, als sich Stella um einen Job in einem Bed & Breakfast bemüht: "Sie wollten nicht wissen, wo ich zur Schule gegangen war oder was ich studiert hatte, sondern fragten nur, ob ich backen könnte. Als ich verneinte, war das aber anscheinend auch nicht weiter wichtig."
Tilly hat zwar Phasen, in denen sie nicht trinkt, aber eben auch immer wieder Rückfälle. Das liegt auch daran, dass sie (wie viele andere auch) Mühe hat, sich helfen zu lassen. Aus Scham. Dieser Scham nicht nachzugeben, gehört zu den für mich wesentlichen Botschaften dieses berührenden Romans.
Leslie Jamison
Der Gin-Trailer
Suhrkamp, Berlin 2021
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