In Dharamsala trafen sich der Religionswissenschaftler Michael von Brück (Jahrgang 1949) und der Dalai Lama (Jahrgang 1935) und unterhielten sich ausführlich über persönliche Erfahrungen, Bildung, Erziehung, Politik, Religion, Medien, Ökologie und Technologie sowie anderes mehr. Diese höchst aufschlussreichen Gespräche liegen nun unter dem Titel Wagnis und Verzicht als Buch vor.
Wer denn ein besonderer Mensch in seinem Leben gewesen sei, fragte Michael von Brück einleitend, worauf der Dalai Lama meint, jeder Mensch solle sein eigener Lehrer sein. "Es kommt auf selbstständiges Denken und gültige Argumente an, und nicht auf autoritäre Botschaften, die einige für wichtig halten, die für andere jedoch irrelevant sind."
Nicht nur eine überaus vielfältige Palette an Themen wird in diesen Gesprächen angesprochen – im Gegensatz zu vielen anderen Büchern, geht es in diesem sehr praktisch zu und her. So plädiert der Dalai Lama nicht nur für gute Bildung, sondern erläutert auch konkret, was er darunter versteht.
"Der richtige Gebrauch der Vernunft muss erlernt werden. Menschen müssen so erzogen werden, dass sie sich der Komplexität der Welt bewusst werden, und auch der Tatsache, dass Lösungen, ganz gleich auf welchem Gebiet, ebenfalls komplex sind. Nur auf der Basis von Wissen lassen sich Ängste überwinden und Mut entwickeln."
Bildung bedeutet die Schulung der inneren Werte und des inneren Friedens, die heutigen Schulen sind hingegen Orte der Ausbildung für das materialistisch ausgerichtete Leben.
Von der Vernunft Gebrauch zu machen heisst auch "unsere Wahrnehmung zu schulen und dann die tatsächlichen Wahrnehmungen korrekt zu interpretieren. Die meisten unserer negativen Emotionen sind Reaktionen auf das, was vermeintlich passiert, doch beruhen sie nicht auf der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern auf Unwissenheit."
Als Kind habe er seinen aufbrausenden Vater gehasst, sagt der Dalai Lama. "Wie hast Du diesen Hass überwunden?", fragt Michael von Brück. "Die Zeit hat ihn geheilt." (sie hatten keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten). Es sind diese klaren und unprätentiösen Antworten, die mir dieses Buch speziell teuer machen. Auch auf die Frage: "Hast Du Angst vor dem Tod?", antwortet der Dalai Lama simpel und direkt. "Nein." Und führt dann aus: "Da ich weiss, dass ich dem Tod nicht entgehen kann, hat es in meinen Augen keinen Sinn, Angst davor zu haben. Ich sehe den Tod so, als würde man abgetragene Kleider wechseln, doch ist das nicht das Ende aller Dinge."
Besonders beeindruckt haben mich die Ausführungen über Leerheit und Verbunden-Sein. Leerheit meint, dass Lebewesen und Objekte nicht aus sich selbst beziehungsweise aus eigener Kraft entstehen. Anders gesagt: Ein klares getrenntes Ich gibt es nicht, denn alles ist miteinander verbunden, existiert nur in Abhängigkeit voneinander. Nichts exisitert so, wie es scheint. "Dinge und Ereignisse sind nicht unabhängig voneinander, vielmehr ist alles miteinander verknüpft. Ein beliebiges Etwas ist das, was es ist, nur in Beziehung zu etwas anderem."
Wie kann man also gegen seine egoistische, selbstbezogene Haltung angehen? Durch Reflexion, die uns erlaubt, zu erkennen, dass dem Ego nachzugeben meist zu Angst, Isolation und Unglücklichsein führt. Falls man diesem krank machenden Separatismus entgehen will, empfiehlt sich als logische Konsequenz die Nächstenliebe. Das geduldige Einüben einer altruistischen Einstellung wird uns zufriedener machen.
"Mein Erkennen geht in Erleben über" zitiert Michael von Brück Albert Schweitzer und kommentiert das so: "Damit sagt er doch Folgendes: Ich weiss, dass alle Dinge miteinander verbunden sind. Sowohl die modernen Naturwissenschaften als auch unsere je eigene Lebenserfahrung lehren uns genau das. Doch auch wenn ich dies weiss und vielleicht auch eine tiefere Einsicht in solche Zusammenhänge gewinne, folgt daraus für das Leben meist nichts, wenn nicht eine emotionale Empfindung und das Gefühl von Ehrfurcht hinzukommen, erst dann nämlich wird dieses Wissen um die Einheit der Dinge zur prägenden Erfahrung. Eine solche Erfahrung verbindet Herz und Verstand, sie verändert meine Motivation wirklich."
Fazit: Differenziert, anregend und ausgesprochen hilfreich.
Dalai Lama
Michael von Brück
Wagnis und Verzicht
Kösel, München 2019
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