"Hochsensible müssen einen grösseren mentalen Aufwand treiben und brauchen ein gewisses Know-how, wenn sie sich seelisch gesund erhalten, sich privat und beruflich entfalten wollen", schreibt Rolf Sellin, selbst hochsensibel, in Wenn die Haut zu dünn ist. Doch was macht eigentlich Menschen zu Hochsensiblen? Sie nehmen mehr Reize auf als andere, werden von Reizen geradezu überflutet. Einschlägige Forschungen legen den Schluss nahe, dass dieses Temperament angeboren ist und sich wie ein roter Faden durch das ganze Leben zieht. Doch auch Umwelteinflüsse spielen eine Rolle.
"Wahrnehmung ist der zentrale Punkt im Leben eines Hochsensiblen. Sie ist seine grösste Stärke und Begabung und kann zugleich sein grösster Schwachpunkt sein, wenn er nicht gelernt hat, damit umzugehen." Mehr, intensiver und differenzierter wahrzunehmen ist für eine gewisse Zeit höchst bereichernd (wie etwa Drogenkonsumenten wissen), doch wenn dies ständig der Fall ist, laugt es einen Menschen energetisch aus.
Es gilt also zu lernen, mit dieser Reizüberflutung umzugehen. Und dazu bietet dieses gut aufgebaute Buch praktische Anregungen. Da finden sich Selbsttests, Begriffserklärungen (hochsensibel und hochbegabt sind nicht deckungsgleich), Übungen und kurze, prägnante Zusammenfassungen. Rolf Sellin erläutert die Entstehung des Hochsensibel-Seins in drei Stufen. 1) Das Kind lernt, seinen Körper und seine Empfindsamkeit nicht zu beachten. Anders gesagt: Es lernt, gegen die eigene Komplexität vorzugehen 2) Widersprüchlichkeit ist in unserem Denken nicht vorgesehen. Anders gesagt: Unsere Welt funktioniert nach Entweder/oder beziehungsweise Schwarz/Weiss 3) Das Kind übernimmt die Perspektive der anderen. Anders gesagt: Weil sie gelernt haben, nicht auf sich selber zu hören, müssen sie sich andere als Referenz-Personen suchen.
Rolf Sellin legt mit Wenn die Haut zu dünn ist eine veritable Wahrnehmungsschulung vor, die nicht zuletzt deswegen überzeugt, weil sie auf die Praxis ausgerichtet ist. Wie alles, ist auch Wahrnehmung relativ. Wir wissen nicht, was andere genau wahrnehmen, ja, wir wissen meist selber nicht, was wir wahrnehmen, da es sich dabei um einen automatischen Prozess handelt. Doch: "Wahrnehmen ist ein aktiver Akt, er kann durch bewusste Entscheidungen verändert werden." Nicht notwendigerweise durch Achtsamkeit (die ist für den Hochsensiblen problematisch, wie der Autor ausführt), sondern durch bessere Selbstzentrierung: "Wer sich selbst nicht wahrnimmt und seine Aufmerksamkeit überwiegend nach aussen richtet, ist energetisch nicht bei sich."
Ich selber bin nicht hochsensibel, doch einige der hier geschilderten Phänomene sind mir durchaus vertraut und Rolf Sellins Ratschläge willkommen. Insbesondere das Kapitel "Kraft, Energie und Wachstum durch Abgrenzung" empfand ich als überaus hilfreich. Seine eigenen Grenzen zu kennen, ist nicht nur für Hochsensible entscheidend, denn Grenzen geben Sicherheit, bieten Schutz und erlauben Kontrolle. "An unseren Grenzen wachsen wir", schreibt Rolf Sellin, denn das meint letztlich: Wir können (und sollen) verantwortlich sein für das, was innerhalb unserer Grenzen passiert.
"Die Grundvoraussetzung für gelungene Abgrenzung besteht zunächst einmal darin, überhaupt bei sich zu sein und sich selbst körperlich wahrzunehmen." Den eigenen Körper wahrzunehmen kann (und soll) man üben. Anregungen dazu finden sich in diesem Buch zuhauf.
Wir haben die Wahl, müssen uns entscheiden, ob wir uns als Opfer oder als Gestalter unserer Wahrnehmung verstehen. Die Verantwortung für die Steuerung und Dosierung unserer Wahrnehmung und für die Verarbeitung der Reize und Informationen selbst zu übernehmen, eröffnet die Möglichkeit, dass Hochsensibilität zum Segen werden kann.
Fazit: Ein überaus hilfreiches Buch!
Rolf Sellin
Wenn die Haut zu dünn ist
Hochsensibilität - vom Manko zum Plus
Kösel, München 2020
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