Mittwoch, 28. Dezember 2022

Über Borderline & Therapie

Otto Kernberg gilt zusammen mit Marsha M. Linehan als führende Autorität der Borderline-Störung. Was die beiden denn auszeichne, wurde John G. Gunderson, selber eine einschlägige Autorität, gefragt. Sie hätten beide charismatische Ausstrahlung und verkörperten Zuversicht, Klarheit, Kraft und Sicherheit, erwiderte er. Daran fühlte Tim sich erinnert, als er las, was Kernberg als die Kriterien definiert, die einen guten Psychotherapeuten ausmachen: 'Wissen, Ehrlichkeit, authentische Wärme, Interesse für Menschen, Empathie und die Fähigkeit, sich anzupassen, und die eigenen Fehler zu erkennen und von ihnen zu lernen.'

All das hatte Sara, dachte er. Und dass sie in ihrem Job viele Illusionen verloren hat, trägt auch dazu bei, die Welt und die Menschen realistisch zu sehen. Man könne nicht auf der Welt sein, ohne zu leiden, hatte sie ihm einmal gesagt. Sie stellte es einfach fest, ohne Bedauern. Und fügte dann hinzu, dass es zwischendurch aber eben auch immer temporary relief gebe, mehr sei nicht drin, das müsse genügen. Ihm hatte das mehr als nur eingeleuchtet, er empfand beim Gedanken daran auch eine angenehme Leichtigkeit.

Hans Durrer: Auf der Flucht vor dem Augenblick, neobooks, 2022

Mittwoch, 21. Dezember 2022

Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn

Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn schildert die Gedankengänge und Empfindungen des siebzigjährigen Harry, der in seinen alten Texten liest und dabei vor allem ernüchternde Entdeckungen macht – es ist eine philosophische und selbstironische Auseinandersetzung mit den Welträtseln, der Suche nach Sinn und unserem Bedürfnis nach Orientierung.

Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn ist gleichzeitig Reiseerzählung, Essay und Tagebuch. Szenen aus der Wirklichkeit wechseln ab mit Erfundenem. Gedankensplitter, Zitate, Beobachtungen von vor zwanzig Jahren und aus der Gegenwart stehen neben- und hintereinander, in verschiedenen Sprachen, ohne Kontext, ganz so wie das eben im richtigen Leben auch der Fall ist, in dem einem gleichzeitig alles Mögliche durch den Kopf geht. 

Grosse Teile handeln von Harrys Erlebnissen in Brasilien, Südostasien und China, wo die Menschen, entgegen seinen Erwartungen und Hoffnungen auch nicht besser zu leben wissen als im vertrauten Europa.

Nichts geht auf, alles ist im Fluss, Bedeutungsvolles und Gescheites steht bequem neben Banalem und Komischem. Im schlechtesten Fall, so Harrys Erkenntnis, dreht man durch, im besten Fall lernt man das Leben leicht zu nehmen.

Hans Durrer
Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn
Ansichten und Einsichten
neobooks, München 2019

Mittwoch, 14. Dezember 2022

Von den Erwartungen

Lange nicht gesehen! Wie geht es Dir?“, fragt mich mein Bekannter. „Es gibt zwei Antworten darauf“, antworte ich, obwohl es natürlich noch ganz viele mehr gäbe. „Die erste: Ich bin total frustriert; die zweite: ich habe immer mal wieder Super-Momente.“ Mein Bekannter zeigt sich ob der ersten Antwort bestürzt, die zweite scheint ihn nicht zu interessieren. „Frustriert?! So kenne ich Dich gar nicht, auf mich wirkst Du überhaupt nicht so. Wieso frustriert?“ „Weil so ziemlich alles im Leben nicht so ist, wie es meiner Meinung nach sein sollte.“ „Geht es auch konkreter?“ „In meiner Vorstellung sollten die Anständigen an der Spitze stehen, in der Realität ist das überhaupt nicht so. Auch finde ich, dass Lügner und Inkompetente aus dem Amt gejagt werden sollen, doch auch das ist nicht der Fall.“ „Du scheinst ganz unrealistische Vorstellungen von der Welt zu haben“, sagt mein Bekannter, der glaubt, sein Direktorengehalt sei seinen Fähigkeiten geschuldet.

Doch wie gesagt: Ich habe immer mal wieder Super-Momente. Sie treten meist dann ein, wenn ich meine Erwartungen vergessen habe, wenn ich nicht denke, wenn ich einfach wahrnehme, was ist. Doch kann man seine Erwartungen eigentlich vergessen? Nur für Momente, denn unser Gehirn ist antizipierend eingestellt, ist also immer schon bei dem, was kommt oder kommen könnte, es flieht das Hier und Jetzt.

Seit ich das Fotografieren entdeckt habe, gehe ich anders durch die Welt. Aufmerksamer. Letzthin, in Marseille, in einer engen Gasse entdeckte ich am Himmel über mir ein Stück Stoff, das sich in Stromleitungen verfangen hatte und nun vom Wind durch die Luft gewirbelt wurde, so dass immer wieder neue, nicht vorherzusehende Formationen entstanden. Ich blieb stehen und versuchte das Schauspiel mit meiner Kamera einzufangen. Jede Aufnahme zeigte one moment in time, mein Fotografieren wurde zur Meditation – ich tat, was ich tat, nicht mehr, nicht weniger, nur gerade das.

Die meiste Zeit gehe ich jedoch mit einer mir selten bewussten Erwartungshaltung durch die Gegend. So erwarte ich etwa, dass wenn ich jemanden anständig behandle, mir ebenfalls anständig begegnet wird. Auch erwarte ich, dass ich nicht angelogen werde, dass die Menschen sagen, was sie denken, dass diejenigen, die die Steuerzahler viel Geld kosten, sich ihres Amtes fähig und würdig erweisen. Meines Erachtens sind dies absolut berechtigte Erwartungen, doch meine Erfahrung zeigt, dass ihnen eher selten entsprochen wird.

Das liegt unter anderem daran, dass unsere Kultur von uns verlangt, Heuchler zu sein. Das ist notwendig, um „unser“ System, das im Kosten-Nutzen-Denken gefangen ist, am Laufen zu halten. Gibt es eigentlich etwas Fantasieloseres als alles unter dem Aspekt von Kosten und Nutzen zu betrachten? Sollte es im Leben darum gehen, möglichst an dem Wunder teilzuhaben, dass wir für eine gewisse Zeit auf diesem Planeten unterwegs sein dürfen, dann eher nicht.

Mittwoch, 7. Dezember 2022

Inspirationen für ein anderes Leben

Felicitas von Aretin porträtiert in diesem Werk 21 Ordensfrauen. Katholische, evangelische, buddhistische und orthodoxe. Bei der Vorbereitung ihrer Reise durch deutsche und österreichische Klöster lernte sie, "dass im richtigen Moment stets das Richtige passiert, wenn die innere Bereitschaft stimmt." Damit diese stimmen konnte, musste sie zuallererst loslassen von ihren Prägungen. "Mit Ordensfrauen hatte ich während meiner Gymnasialzeit hinlänglich schlechte Erfahrungen gemacht und eine Mischung aus Intoleranz und Ignoranz erfahren. Gläubigkeit vermittelte sich für mich daraus ebenso wenig, wie sie mich überzeugte."

Die Autorin leitet das Münchner Büro der Agentur für History Marketing hpunkt kommunikation. Kein Wunder also, findet man viel Geschichtliches in diesem Buch – etwas arg viel für meinen Geschmack, denn ich habe keinen Bezug dazu und finde nicht wirklich relevant, wer was wo gesagt hat; für mich sind das zumeist recht willkürliche Zuschreibungen und überdies unwesentlich, jedenfalls für mein Weltbild.

Starke Schwestern ist gut geschriebener, solider Journalismus, der mich immer mal wieder Verblüffendes lehrt. So war mir überhaupt nicht geläufig, dass viele Benediktinerinnen halbtags "als Juristin, Sozialarbeiterin, EDV-Spezialistin, Lehrerin oder Ärztin und Krankenschwester tätig" sind und bei persönlichen Krisen einen Therapeuten oder eine Therapeutin aufsuchen. Auch dass es im Konvent nicht darum geht, "befreundet zu sein, sondern eine verbindliche Lebensgemeinschaft aller Generationen und Charaktere zu leben", wie eine Äbtissin erläutert, war mir neu  und einleuchtend.

 Ganz unterschiedlich sind die Einsichten, die Felicitas von Aretin vermittelt. So berichtet sie etwa über  den Generationenkonflikt in manchen Konventen  wie auch darüber, dass Ordensschwestern  von Klerikern missbraucht wurden und werden. Aber auch zur Architektur äussert sie sich: "Wer die langen, geräumigen Flure entlang geht, dessen Seele und Geist kommen zur Ruhe und der erlebt Geborgenheit", notiert sie über ein Karmelitinnen-Kloster. Meine eigene Erfahrung in einem ungarischen Karmelitinnen-Kloster, das heute als Hotel und Begegnungsstätte fungiert, war genauso. 

So vielfältig und aufschlussreich dieses Werk auch ist, die spirituellen Anregungen, die ich mir erhoffte, kommen zu kurz. Wobei: es gibt sie durchaus. Etwa: "Gott entdecke ich in jedem Sonnenstrahl, in jedem Wassertropfen, wie in einem inneren Gebet." Oder: "Stundenlange Meditationen hebeln unser Denken völlig aus." Doch in der Hauptsache ist Starke Schwestern eine informative Bestandesaufnahme vom Leben in Frauenklöstern in Deutschland und Österreich.

Ganz unterschiedliche Frauen entscheiden sich für ein Leben im Kloster. Da gibt es die Mutter mit fünf Kindern, die mit Ende fünfzig eintrat, da ist die Fachkrankenschwester, der schon als Kind klar war, dass sie einmal ein geistliches Leben führen würde, da ist die einstige Marxistin, die sich vom Christentum loslöst und sich dem Zen-Buddhismus zuwendet.

Das Klosterleben hat sich vielerorts gewandelt. Heutzutage werden Meditations- und Achtsamkeitskurse angeboten, leben Schwestern in Wohngemeinschaften mit jungen Frauen, arbeiten einige halbtags im Krankenhaus. Starke Schwestern ist auch mit einem überaus nützlichen Glossar, einem Personenverzeichnis, in dem sowohl Katharina von Siena als auch Thich Nhat Hanh zu finden sind, als auch einem anregenden Literaturverzeichnis versehen.

"Nichts scheint dem menschlichen Geist fremder als das Innehalten", so Felicitas von Aretin in ihrem Fazit. Aufgegangen ist ihr bei ihrer Reise von Kloster zu Kloster auch dies: "Regelmässiges Fasten, Beten und Meditieren tragen offenbar ebenso zum seelischen Wohlbefinden bei wie Loslassen und der Verzicht auf materielle Güter, Karriere und Leistung." Ein solcher Weg verlangt beharrliches Üben; nur wenige gehen ihn.

Felicitas von Aretin
Starke Schwestern
Klosterreisen – Inspirationen für ein anderes Leben
Herder, Freiburg Basel Wien 2022

Mittwoch, 30. November 2022

Zen und das alltägliche Wunder

Charlotte Joko Beck (1917-2011) begann mit Ende vierzig unter der Anleitung von Maezumi Roshi den Zen-Übungsweg zu gehen. Zen und das alltägliche Wunder beruht auf unveröffentlichten Vorträgen, die von ihrer Tochter, Brenda Beck Hess, aus dem Nachlass zusammengestellt wurden.

Aus dem Vorwort von Jan Chozen Bays erfährt man, dass auch eine Freundin, die an Krebs erkrankt war, mit Hingabe meditierte und sich um die Menschen um sie herum kümmerte, für Charlotte Joko Beck eine Quelle der Inspiration war. "Joko war bei ihr, als sie den Übergang aus diesem Leben vollzog und 'zu einem einzigen Strahlen' wurde. Diese Erfahrung hat Joko zutiefst beeindruckt und geprägt. Als sie anschliessend über Stunden am Strand spazieren ging, wurde ihr bewusst, dass sie jegliche Angst vor dem Tod verloren hatte."

Als bekannt wurde, dass Maezumi Roshi sich hatte Verfehlungen zuschulden kommen lassen (es ist befremdlich, dass nicht klar gesagt wird, worum es gegangen ist, deshalb:  Er war nach eigenen Aussagen Alkoholiker und unterhielt, obwohl verheiratet, sexuelle Beziehungen mit einigen seiner Schülerinnen), brach sie die Verbindung zu ihm ab und gründete in San Diego die Ordinary Mind School.

"Therapie gibt Linderung, Sitzen schenkt Freiheit", pflegte sie zu sagen. "Wenn wir lange und intensiv genug praktizieren und unsere Konditionierungen entdecken, brauchen wir keine Therapie. Statt wie zuvor selbstbezogen zu sein, werden wir lebensbezogen."

Viele, der in diesem Buch ausgeführten Gedanken, sind mir nicht neu, und doch muss ich ständig daran erinnert werden, denn ob ich etwas wirklich begriffen habe oder nicht, zeigt sich allein in der Praxis. Vor einigen Tagen, in einem Hotelflur in Prag, "wusste" ich für einen Moment, dass alles stimmt wie es eben ist. "Erleuchtung ist das Ende unserer Hoffnung auf etwas anderes als das, wie sich das Leben für uns gestaltet."

Im Spanischen bedeutet esperar sowohl warten als auch hoffen. Das Wort beschreibt damit akkurat, was wir die meiste Zeit unseres Lebens tun: Uns wegwünschen von dem, was gerade ist, sofern das, was gerade ist, uns nicht behagt. "Hoffnung aufgeben", lautet einer der Zwischentitel in diesem Buch. Siehe auch meine eigenen Gedanken dazu. Charlotte Joko Beck lehrt, dass die Zen-Praxis bewirkt, dass wir gelassen erleben können, was gerade ist.

Zen und das alltägliche Wunder ist ein wunderbar pragmatisches und witziges Buch, das mich immer mal wieder zum Lachen brachte. "Die abendländische Kultur lehrt uns, es müsse immer, wenn uns etwas nicht gefällt, wenn wir verunsichert sind oder uns etwas falsch erscheint, sofort ein Gegenmittel geben." Man sollte bei diesem Satz etwas verweilen, auf dass sich einem erschliesse, wie absurd unsere Einstellung so recht eigentlich ist. 

Wir wissen, dass es ohne Licht keine Dunkelheit und ohne Höhen keine Tiefen gibt. "Doch wenn es um unsere Gedanken und Gefühle geht, wollen wir durchgehend im Licht verweilen." Mit anderen Worten: Kopfeinsichten helfen wenig; die Achterbahn des Lebens lässt sich dadurch nicht beeindrucken. Der nächste emotionale Absturz wird bestimmt kommen, denn so ist nun einmal das Leben. Und wir werden ihn nicht mögen. Das müssen wir auch gar nicht.

Zen und das alltägliche Wunder ist auch ein erfrischend persönliches Buch. So berichtet die Autorin unter anderem davon, wie sie langsam, ganz langsam "weniger das Bedürfnis habe, andere zu ändern." Und macht dabei die Erfahrung, dass die Menschen es spüren, wenn sie nicht bewertet und analysiert werden. "Die meisten von uns brauchen das Gefühl, von anderen angenommen zu sein, und das mit all unseren unschönen Seiten, ganz so, wie wir sind."

Ein Kind entwickelt Strategien, um zu bekommen, was es gerne hätte. "Spätestens im Alter von zwei bis drei Jahren haben wir alle, ohne Ausnahme, eine solche Konditionierung ausgebildet – das liegt einfach in der Natur des Menschen." Doch so sinnvoll dies für das kleine Kind ist, im Erwachsenenalter ist diese Konditionierung nicht mehr angemessen, sie schadet uns. "Egozentriert zu sein ist nicht nur für uns selbst Gift, sondern auch für jene, die das Glück oder Pech haben, uns zu begegnen."

Das Leben so zu erfahren, wie es ist – dazu leitet dieses Buch an. Aber was ist es denn? Das, was existiert, also unglaublich schnell sich verändernde Energiefelder. Am besten fahren wir, wenn wir unsere Konditionierungen loslassen. Das kann man üben. Wie das geht, zeigt Charlotte Joko Beck höchst eindrücklich anhand vieler praktischer Beispiele.

Fazit: Ein erhellendes und überaus hilfreiches Werk.

Charlotte Joko Beck
Zen und das alltägliche Wunder
Wie wir lernen, das Leben anzunehmen, wie es ist
O.W. Barth, München 2022

Mittwoch, 23. November 2022

Sobre a morte

Não escrevo muito sobre a morte: na verdade ela é que escreve sobre nós – desde que nascemos vai elaborando o roteiro de nossa vida. Ela é a grande personagem, o olho que nos comtempla sem dormir, a voz que nos convoca e não queremos ouvir, mais pode nos revelar muitos segredos.

O maior deles talvez seja: a morte torna a vida maravilhosa. Porque vamos morrer precisamos poder dizer hoje que amamos, fazer hoje o que desejamos tanto, abraçar hoje o filho ou o amigo, temos de ser decentes hoje, generosos hoje, felizes hoje.

A morte não nos persegue: apenas espera, pois nós é que corremos para o colo dela. Talvez o melhor de tudo é que ela nos lembra da nossa transcendência. Somos mais que corpo e sangue e compromissos, susto e ansiedade: somos mistério, o que nos torna maiores do que pensamos ser.

E o amor, quando se aproxima desse território do estranho, tem de se curvar: com dor, com terror, com enorme ansiedade dá um salto irrevogável para essa prova maior. E então começa a ser ternura; e então se aproxima, muito vagamente, de alguma coisa chamada permanência.

Lya Luft: Secreta Mirada

Mittwoch, 16. November 2022

Auf der Flucht vor dem Augenblick

An einer Fotoausstellung in Zürich treffen Sara, 43, Bankdirektorin in Südbünden, und Tim, 59, der sich seinen Lebensunterhalt als Englischlehrer an einer Privatschule in Südbrasilien verdient, aufeinander. Beide sind neugierig, rastlos, viel herumgekommen, und setzen sich leidenschaftlich mit der Welt der Ideen auseinander.

 Während Sara nach ihrem Abschluss an einer Elite-Universität den klassischen Karriere-Weg einschlug, gelang es Tim nicht, sich an das herrschende System, das seines Erachtens die Ungeeignetsten an die Spitze katapultierte, anzupassen. In der Folge treffen sie sich in unregelmässigen Abständen für jeweils ein paar Tage, um sich übers Leben auszutauschen. Ihre intensiven Gespräche lassen sie mit der Zeit erkennen, dass sie weit mehr gemeinsam hatten, als ihre jeweiligen Lebensentwürfe vermuten liessen.

Tim war trockener Alkoholiker und hatte sich eingehend mit Sucht und Verhaltensänderungen auseinandergesetzt; Sara hatte zwei Borderline-Beziehungen hinter sich, die sie an Abgründe führten, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie existierten. Beide wollten nicht fühlen, was sie fühlten; ihre Angst, von der sie auch wussten, dass sie oft hilfreich war, lähmte sie  und liess sie die Flucht antreten: In den Alkohol, die Karriere, das Lösen von Problemen, das Lesen von Büchern, das Surfen im Internet, das Sich-Beweisen-Müssen im Wettbewerb um persönliche Eitelkeiten. 

Allmählich realisieren sie, dass sich das zwar nicht ändern lässt, doch das Leben leichter wird, wenn man alles, absolut alles, akzeptiert, genau so wie es ist. Erst auf dieser Grundlage lässt sich ändern, was geändert gehört – nicht weil wir es wollen, sondern weil es uns gut tut.

Auf der Flucht vor dem Augenblick liegt die Überzeugung zugrunde, dass ausgesprochene Gedanken (und nicht etwa Meinungen, die keinen Denkprozess voraussetzen), die auf ein interessiertes und teilnehmendes Gegenüber stossen, nicht nur klärend und befreiend sein können, sondern jeder üblichen Therapie weit überlegen sind, da ein solcher Austausch auf gleichwertigen Partnern beruht.

Ein Plädoyer für ein Dasein in der Gegenwart, das nur auf der Grundlage einer radikalen "Umwertung alles Werte" möglich ist.

Hans Durrer
Auf der Flucht vor dem Augenblick
neobooks, Berlin 2022

Mittwoch, 9. November 2022

Silence is the answer

When the mind has lost all its nonsense and noise, when the mind traffic is nil, when the mind has stopped completely, has come to a standstill, suddenly in that silence you experience a presence that has always been there within and without, but of which you were unaware because the mind was too noisy. It was impossible to hear the still, small voice. And once you have heard it your life is transformed. Then for the first time you know the taste of religion.

And the taste of religion is the taste of neither Christianity, nor Hinduism, nor of Judaism, nor of Mohammedanism; the taste of religion is simply the taste of religiousness. It has nothing to do with all those cults and sects and dogmas and churches, synagogues, temples, mosques – it has nothing to do with these. This is sheer politics played in the name of religion.

I teach a religion less religiousness – and that is the need of today and of all the tomorrows that are going to follow. The old kind of religion is outdated, its time is finished, in fact it has been living a posthumous kind of existence for centuries. It is dead already, we are only carrying a corpse and it is stinking.

Meditation is the only way to experience god, to experience religion. You cannot get it from the Bible, from the Gita, from the Koran, from the Talmud – no words, no scriptures can give it to you. Only silence is able to receive god, is able to become pregnant with god, to carry god in your belly, in your very heartbeat, in your breathing, to feel him everywhere, in everybody!..

Silence is presence of your awareness, your being. Fill your silence with your own presence, radiance, and feel it as a positive phenomenon; don't look at it as absence of words. It is not absence. If you can be positively silent, if you can enjoy it, if you can rejoice it, you will be tremendously benefitted. And not only you – others who come in contact with you, they will also be tremendously benefitted. Then sometimes be silent with them, when it is the season to be silent...

You have to listen in silence to silence. Neither words nor deeds but utter silence. And then your very life becomes a sweetness, and your very life becomes expressive, then your existence has a grace. And that is the song, that is your sermon.

Osho: Silence is the answer 

Mittwoch, 2. November 2022

Plötzlich sehe ich ...

 Früher, sagt der Vierzigjährige in der Selbsterfahrungsgruppe, habe er alle für Vollidioten gehalten. Heutzutage finde er alle nur noch Idioten. Ein Fortschritt, zweifellos; die vollständige Genesung in Reichweite, so scheint es.

Eine Diskussionsrunde im Schweizer Radio: Drei Alt-Nationalräte, denen man nicht zuzuhören braucht, da man aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit bereits weiss, was sie sagen werden.

„Die Politik war in ihren Augen eine Tätigkeit für Rentner oder Snobs, ein Hobby, irgendwo zwischen dem Sammeln von Briefmarken und Golf angesiedelt. Man muss viel Zeit haben, sagte sie, um sich für Männer zu interessieren, die sich einen Dreck um andere scheren. Und Marie hatte viel zu wenig Zeit, um sie mit Diskussionen über Dinge zu vergeuden, die sowieso nichts brachten.“ (Jean-Paul Dubois: Ein französisches Leben).

Ein Leben lang hatte ich geglaubt, wider besseres Wissen, in der Bücherwelt, ja, in der Kunst generell, gehe es anders zu als im „normalen“ Leben – aufrichtiger, genuin unprätentiös, an der Sache interessiert. Ich glaubte das, weil ich es glauben wollte. In Petra Morsbachs Opernroman lese ich: „Theaterkunst vollzieht sich im Ablauf. Um diesen Ablauf zu koordinieren, wird geprobt. Es geht da um Technik, Metrik, Choreographie; um Können, Konzentration, Kondition. Die Künstler aber sind Menschen mit Leidenschaften. Angst, Ehrgeiz und Neid sind oft stärker im Spiel als die Vision des Kunstwerks, die schwieriger zu erschliessen ist und sowieso nicht allen zugänglich; deshalb wird oft schlecht geprobt. Damit wird Zeit vergeudet, die alle dringend für die eigentliche Aufgabe bräuchten, es ist also wie im richtigen Leben.“

Plötzlich sehe ich, was ich nie wirklich habe sehen wollen. Dass die Welt der Bücher und Ideen kein Ausweg, sondern Ablenkung ist. Wie fast alles im Leben. Die einzigen, die sich ernsthaft, wie ich mir vorstelle, ums Leben bemühen, sind die, die sich dem Hamsterrad entziehen und dem Konsumwahnsinn (wozu der Kulturbetrieb genauso gehört wie der Sport) entsagen.

Mittwoch, 26. Oktober 2022

When a rainbow appears

When a rainbow appears we see many beautiful colors. Yet a rainbow is not something we can cloth ourselves with or wear as an ornament. It simply appears through the conjunction of various conditions. Light, moister, air, with the right conditions a rainbow appears. Thoughts arise in the mind in just the same way. They have no tangible reality or intrinsic existence at all.

There is therefore no logical reason why thoughts should have so much power over us, nor any reason why we should be enslaved by them. Once we recognize that thoughts are empty, the mind will no longer have the power to deceive us. But as long as we take our deluded thoughts as real, they will continue to torment us mercilessly as they have been doing through countless past lives.

Joseph Goldstein: Dharma Teaching

Mittwoch, 19. Oktober 2022

De-automatise

 De-automatise, Osho once said, is key to awareness. And nothing, absolutely nothing, in my view, could be more true. And, I hasten to add, could be more helpful. In fact, it is the best advice I've ever heard if you aspire to be in the present.

There is nothing more difficult than to be in the here & now for our brains are wired in an anticipatory mode: We are constantly anticipating what might come next. Needless to say, this is most useful when walking, driving and engaging in arguments. It is however slightly less useful when trying to mentally be where we physically are - hence de-automatise.

Mittwoch, 12. Oktober 2022

Helping each other

"We are here to help each other get through this thing, whatever it is", Kurt Vonnegut once penned

A novel by James Lee Burke, in which Vietnam figures prominently, brought an encounter in Bangkok with a guy from California to mind. He had fallen in love with a young Vietnamese and now didn't know what to do: Should he leave his wife and children and join his new love in Vietnam? I told him not to do it, that falling in love with exotic women had probably more to do with his longings and desires than with the reality of daily life.

Needless to say, I haven't the foggiest idea whether I was right or not. I simply told him what was then going through my mind. I'm immensely thankful for your advice, he said to me two days later, when he checked out of the hotel to return to California. 

By the side of the road
Genova, Italy, 21 June 2022

When, some years ago, I told a friend of mine, a resident of Chiang Mai from Chicago, that I was aware that to be grateful was important but, sadly, I did not feel grateful at all. If you're not grateful, he said, you deprive yourself of lots of good feelings. 

It goes without saying that his comment did not change my feelings yet it had an impact on my thinking. Differently put: I can direct my thinking, I'm able to decide what to focus on. I nowadays make regular efforts to remind myself of what I could be grateful for  and invariably something comes to mind, and makes me feel good.

Mittwoch, 5. Oktober 2022

Von der Sucht

 Sucht bezeichnet eine Haltung. Süchtig sein kann man nach allem und jedem. Ich selber bin unter anderem süchtig nach Büchern. Ganz viele von denen, die ich gekauft habe, habe ich nicht gelesen. Das erhebende Gefühl nach einem gerade getätigten Kauf, ganz besonders, wenn es sich um ein günstiges (gebundenes!) Restexemplar handelt, ist jedesmal sensationell, hält jedoch (wie bei jeder anderen Droge auch) leider nicht lange an.

Süchtige kriegen den Hals nicht voll. Sie sind gierig. Nie haben sie genug, immer müssen sie mehr und Neues und Anderes haben. Unsere Gesellschaft braucht Süchtige, sie werden Konsumenten genannt. Ohne sie würde „unser“ Wirtschaftssystem zusammenbrechen.

Gier macht abhängig. Den meisten scheint das egal und denen, die damit ein Problem haben, hilft die Einsicht wenig. Denn Gier ist ein Gefühl und dagegen kommt der Verstand nicht an, hingegen hilft häufig ein anderes, stärkeres Gefühl. Wer Veränderung will, muss ein solches hegen und pflegen. Es geht darum, sich in ein neues Gefühl hineinzuhandeln.

Seit einiger Zeit stelle ich mich immer mal wieder vor meine Regale, betrachte die Bücher, nehme einige zur Hand, blättere darin und lese mich gelegentlich fest. Zum Beispiel bei Rodney Smith: Frei von Selbsttäuschung: „Es ist unser Widerstand gegen die Realität, nicht die Realität selbst, was Leiden schafft.“ Und bei Hans Albrecht Moser: Auf der Suche: „Alles muss geübt sein, nicht nur Turnen, Klavierspielen, Reden … auch die Loslösung von dieser Welt. Es wäre eine härtere Welt denkbar, wo alle Übung vergebens wäre.

Ich merke, dass ich die Bücher bereits habe, die ich zu brauchen glaube. Und dazu noch ganz viele, die darauf warten entdeckt zu werden. Jetzt gilt es nur noch zu tun, was ich weiss, das ich tun sollte: Mich auf das zu konzentrieren, was ich habe und vor meiner Nase liegt. Tue ich das, dann stellen sich auch die Gefühle ein, die der Gier Paroli bieten.

Übrigens: Zu den Büchern, die ich zwar gelesen, aber überhaupt keine Erinnerung an den Inhalt hatte, gehört Dainin Katagiris You have to say something. Manifesting Zen Insight. Ich hatte mir ein paar Stellen darin angestrichen und bin heute bass erstaunt, wie genau sie treffen, was mich mein Leben lang wichtig gedünkt hat und ich auch immer wieder gespürt, gemerkt und gefühlt habe. If you really want to please yourself, just forget your longing and attend to your daily life. In this we find goldenness. Ich habe das Buch auf meinen Tisch, also vor meine Nase, gelegt, als Erinnerungsstütze, denn mein Üben besteht darin, immer wieder auf diese mir den Alltag wertvoll machende Philosophie zurückzukommen.

Mittwoch, 28. September 2022

Life at 69




These photos were taken by Blazenka Kostolna on 12 August 2022 on the banks of the Sihl near Adliswil. What we see in a picture, we bring to it. Knowing that I'm turning 69 today has a calming effect on me for to confront my age feels somewhat liberating. 

Needless to say, I did not expect that. Well, expectations are killers – the present doesn't stand much of a chance against them. Now, they seem to be largely gone. Or am I fooling myself? In any case, there are these moments when I'm glad that there is no other option than to concentrate on the present.

That however does not mean that I'm going to to do it for my mind usually does what it wants. And, a birthday does not change that – but it is a good reminder that to focus on the present is what I need to do for whenever I'm doing it life feels strange and okay.

Mittwoch, 21. September 2022

Die Masken der Psychopathen

Was für ein glänzender Einfall, das Buch mit dem Psychogramm eines Mannes zu beginnen, bei dem wohl die wenigsten an einen Psychopathen denken: James Bond. Gefolgt wird 007 dann von Napoleon Bonaparte und Pablo Picasso, bei denen die Psychopathie-Assoziation schon näher liegt. Jedenfalls für mich. Ich blättere vor zum Index, wo ich auf Namen hoffe, bei denen ich automatisch an Psychopathen denke, ob das nun wissenschaftlich belegt werden kann oder nicht, doch ein solcher Index fehlt. Schade. 

Dass sich den Autoren die Frage nach dem Index auch gestellt hat, zeigt sich im Epilog, wo sie begründen, weshalb sie darauf verzichtet haben, "keine lebenden Vertreter des grossen Psychopathen-Pools namhaft zu machen." Keine Fern-Diagnosen. Für mich bedeutet das: Man will sich nicht in die Karten schauen lassen, sein Geschäftsmodell nicht gefährden. Der andere Grund, den sie anführen, finde ich hingegen überzeugend: "Taten von Staatenlenkern und ihren Regimen, insbesondere Verbrechen an der Menschlichkeit, sollte man nicht versuchen durch ein Persönlichkeitsmerkmal, im Extremfall einer einzelnen Person, zu erklären, zu vereinfachen und schlimmstenfalls zu rechtfertigen."

Gleich vorweg: Was der Untertitel verspricht, Wie man sie durchschaut und nicht zum Opfer wird, ist natürlich dem Marketing geschuldet, also nicht wörtlich zu nehmen, denn ernsthafte Wissenschaftler verfügen über keine Patentrezepte. Und behaupten das auch gar nicht. Vielmehr fragen sie sich, was Psychopathie "eigentlich konkret und aus wissenschaftlicher Sicht" bedeutet. Das ist eine Frage, zu der sich Wissenschaftler kompetent äussern können, viel mehr geht nicht.

Doch zurück zu James Bond, diesem Supermann, der auch ein Emotionskrüppel sondergleichen ist. "Das Mass an Kollateralschäden, die seine Aktionen mit sich bringen, bekümmert ihn nicht erkennbar. Generell kennen wir Reue oder Schuldgefühle nicht an ihm." Die Autoren führen noch etliche andere Charaktereigenschaften auf, die den Mann zum Psychopathen machen, doch die Unfähigkeit zur Empathie sowie die Absenz von Reue und Schuldgefühlen gehören für mich zu den Eigenschaften, die mir besonders fremd und nicht nachvollziehbar sind. Kein Wunder, zeigt der beigefügte Selbsttest bei mir keinen Indikator für Psychopathie.

Wie bei Büchern von Professoren üblich, werden ausführlich Begriffe geklärt, Geschichte und Kontext erläutert. Und natürlich wimmelt es von Studien, sehr aufschlussreichen, notabene. So wurden etwa bei den Inuit in Alaska und den Yoruba in Nigeria Verhaltensweisen von Personen aufgezeichnet, "die andauernd Regeln brechen, nur an sich denken, rücksichtslos sind, stehlen, betrügen, die Gemeinschaft und die Frauen von anderen missbrauchen – alles Aspekte, die auch heute, 'bei uns' in der westlichen Welt, definitorischer Bestandteil von Psychopathie sind ...".

Speziell geschätzt habe ich den Hinweis auf Leopold Szondi, der nicht daran glaubte, dass sich die Menschheit zum Besseren entwickle. "Das Gros der Geschichte macht die ewig wiederkehrende Geschichte Kains aus." Nach Szondi nehmen Menschen mit psychopathischen Zügen, bei denen eine 'tötende Gesinnung' sowie "Zorn, Hass, Neid, Eifersucht und Furcht" überwiegen, "die höchsten Positionen in Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft in unserer Gesellschaft ein." Belege, die auch Skeptiker überzeugen, seien allerdings rar, führen die beiden Autoren aus. Na ja, wie wär's mit Lebenserfahrung?

Szondi war übrigens der Auffassung, dass zwischen Polizisten und den von ihnen verfolgten Straftätern eine Wesensverwandtschaft existiere. Der gesunde Menschenverstand sagt das auch. Übrigens gibt es tatsächlich Berufe (Vorstandsvorsitzende, Rechtsanwälte, Finanzdienstleister) bei denen der Anteil der Psychopathen höher ist als in der Normalbevölkerung. Das liegt auch daran, dass psychopathienahe Merkmale (Ausblendung jeglicher Emotion und persönlicher Anteilnahme, zum Beispiel) bei gewissen Berufen gefragt sind, man denke an Chirurgen oder Piloten.

Es ist die Komplexität des Lebens, die einfache Zuordnungen nicht wirklich möglich macht. Darüber hinaus gibt es Überschneidungen mit Narzissmus und Borderline sowie anderen schwierigen seelischen Befindlichkeiten. Zusätzlich erschwerend ist, dass Psychopathen sich hinter der Maske der Normalität zu verstecken wissen. Nicht ohne Grund heisst dieses Buch Die Masken der Psychopathen.

Doch weshalb gibt es eigentlich Psychopathen? Das lässt sich nur hypothetisch beantworten, hat aber vermutlich mit der Evolution zu tun. Genauer: Mit dem Überlebenskampf, bei dem "Recht immer nur das Recht des Stärkeren, Aggressiveren, Raffinierteren, Skrupelloseren war." Was wir heutzutage als antisozial bezeichnen wurde als "adaptive Strategien" gesehen. Meines Erachtens ist das immer noch so, auch wenn wir es vorziehen, das sprachlich zuzudecken.

Zu wissen, ob man es mit Psychopathen zu tun hat, ist nicht nur für die Therapie, sondern auch für die Strafjustiz wichtig. "Sie sind nicht verwirrt, unzurechnungsfähig oder leben und handeln in einer Traumwelt oder Wahnvorstellung, wie etwa Schizophrene zuweilen." Doch sind Psychopathen eigentlich therapierbar?

Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, sagt die Hirnforschung, sind die Besonderheiten, die im Hirn von Psychopathen gefunden wurden, von Geburt an festgelegt. Dazu kommt, dass "es sich bei dieser Persönlichkeitsstörung um ein sehr komplexes Zusammenwirken vielfältiger Einzelmerkmale handelt." Eine erfolgreiche Therapie scheint am ehesten noch bei Jugendlichen möglich. Und wie verhält man sich gegenüber erwachsenen Psychopathen? Man geht ihnen tunlichst aus dem Weg.

Fazit: Spannende, gut geschriebene und hilfreiche Aufklärung.

Heinz Schuler
Dominik Schwarzinger
Die Masken der Psychopathen
Wie man sie durchschaut und nicht zum Opfer wird
C.H. Beck, München 2022

Mittwoch, 14. September 2022

Vita Contemplativa


Es entbehrt nicht der Ironie, wenn ein überaus produktiver Autor über die Untätigkeit schreibt. Es sei gleich vorweggenommen: Die Lektüre ist bereichernd und horizonterweiternd. Auch, weil Byung-Chu Han grundsätzlich argumentiert: "Der Kapitalismus wird von der Illusion genährt, mehr Kapital erzeuge mehr Leben, mehr Vermögen zum Leben. Aber dieses Leben ist ein nacktes Leben, ein Überleben."

Wir leben in hektischen Zeiten, alles muss rasch rasch gehen, Zeit zum Innehalten glauben wir uns nicht erlauben zu dürfen. "Wir haben vergessen, dass gerade die Untätigkeit, die nichts produziert, eine Intensiv- und Glanzform des Lebens darstellt", notiert Byung-Chul Han, womit er mir aus dem Herzen spricht, auch wenn ich nicht so sicher bin, ob wir das vergessen haben. Meine Vermutung ist, dass die meisten das gar nie wussten und immer noch nicht wissen.

Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit packt mich gleich von Anfang an. Das liegt, so vermute ich, daran, dass da Sätze wie Gewehrsalven abgefeuert werden. "Ohne Moment des Zögerns oder des Innehaltens sinkt das Handeln zur blinden Aktion und Reaktion herab. Ohne Ruhe entsteht eine neue Barbarei. Schweigen vertieft das Sprechen. Ohne Stille gibt es keine Musik, sondern nur Lärm und Geräusch. Spiel ist die Essenz der Schönheit." Auf mich wirkt dieses Sperrfeuer von Behauptungen, die einfach so in die Luft geschossen werden, irritierend und anregend. Und: Es macht mich innehalten. Und die Aussagen bedenken.

Zu einigen dieser Behauptungen fällt mir nicht viel ein, höchstens, dass mit begrifflichem Unterscheiden dem Leben eindeutig nicht beizukommen ist. "Handeln ist zwar konstitutiv für die Geschichte, ist aber keine kulturbildende Kraft. Nicht der Krieg, sondern das Fest, nicht die Waffe, sondern der Schmuck ist der Ursprung der Kultur. Geschichte und Kultur sind nicht deckungsgleich." And if so, so what?

Andererseits kann die Klärung von Begriffen von praktischem Nutzen sein. "Soziale Medien beschleunigen den Abbau der Gemeinschaft. Der Kapitalismus verwandelt die Zeit selbst in eine Ware. Dadurch verliert sie jede Festlichkeit." So zutreffend ich das auch finde, Festlichkeit ist weit entfernt von Untätigkeit. Das sieht Byung-Chul Han entschieden anders. "Das Fest ist frei vom Bedürfnis des schieren Lebens. Das Festmahl sättigt nicht, stillt keinen Hunger." Doch, doch, das tut es manchmal auch ...

Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit verschafft mir Einsichten, die ich höchst treffend und überraschend finde. "Die Erfahrung beruht auf Gabe und Empfang. Ihr Medium ist das Lauschen. Der gegenwärtige Informations- und Kommunikationslärm setzt aber der 'Gesellschaft der Lauschenden' ein Ende. Niemand lauscht. Jeder produziert sich."

In einfachen, klaren und deswegen überzeugenden Sätzen führt Byung-Chul Han aus, was die Untätigkeit ausmacht: "Wir tun zwar, aber zu nichts. Dieses Zu-nichts, diese Freiheit vom Zweck und Nutzen ist der Wesenskern der Untätigkeit. Es ist die Grundformel des Glücks." Umgekehrt liesse sich sagen: Die Umtriebigkeit, die unsere Gegenwart ausmacht, ist ein Rezept für Unglück.

Unsere Standardeinstellung ist zweckgerichtet, wir tun etwas, weil wir uns davon Positives versprechen. Absichtslos etwas zu betreiben ist uns nicht nur fremd, sondern erfüllt christlich geprägte Menschen (klar doch, ich rede von mir) zudem mit Schuldgefühlen. Das Handeln ist uns imperativ. Und genau deshalb sind die Ausführungen in diesem Band wichtig; sie helfen, zur Besinnung zu kommen. "Das Sein hat eine zeitliche Dimension. Es wächst im Langen und Langsamen. Die heutige Kurzfristigkeit baut es ab."

Wie bei Büchern von akademisch Tätigen üblich, werden ganz viele und ganz unterschiedliche Werke zitiert. Nietzsche, Proust, Benjamin, Barthes, Deleuze, Arendt, Novalis, Musil, Handke usw. Besonders beeindruckend: Wie Heideggers Weg vom Handeln zum Sein nachgezeichnet wird.

Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit illustriert auch meine Lieblingsaufforderung, die von einem brasilianischen Zen-Buddhisten stammt, Não pense, veja (Denke nicht, schau) anhand von Zitaten von George Santayana und Aristoteles, der über die Götter meinte: "Und doch hat man immer geglaubt, dass sie leben, also tätig sind, denn niemand denkt, dass sie schlafen wie Endymion. Nimmt man aber dem Lebendigen jenes Handeln und noch viel mehr das Schlafen, was bleibt dann noch ausser dem Betrachten?"

Fazit: Wesentlich, vielfältig anregend, hellsichtig und gelegentlich ärgerlich.

Byung-Chul Han
Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit
Ullstein, Berlin 2022

Mittwoch, 7. September 2022

Vor dem Denken

Vor gut hundert Jahren behauptete Sigmund Freud, wir seien nicht Herr im eigenen Haus. John Bargh, Professor für Psychologie an der Yale University, illustriert das in seinem Vor dem DenkenWie das Unbewusste uns steuert höchst eindrücklich. Wie von einem Akademiker nicht anders zu erwarten, zitiert er dabei eine Studie nach der anderen und die Resultate nicht weniger dieser Untersuchungen lassen einen staunen – und schmunzeln. So haben etwa gemeinsame Buchstaben im Namen einen Einfluss auf die Berufswahl, jedenfalls in englischsprachigen Ländern wie England und Amerika. „Es gibt verhältnismässig mehr Dennys, die Dentisten sind, und Larrys, die lawyers (Anwälte) sind, als das Zufallsprinzip erwarten liesse.“

Auch das Geburtsdatum hat vielfältigen Einfluss. Etwa auf die Wahl des Ehepartners. „Menschen heiraten unverhältnismässig oft jemanden, der oder die Ziffern ihres Geburtsdatums teilt.“ Zuneigung kann sich auch darauf gründen, am selben Kalendertag im selben Monat Geburtstag zu haben. Der Led Zeppelin-Fan John Bargh empfindet „ein seltsames und offensichtlich unverdientes Gefühl von Stolz, dass er seinen Geburtstag mit Led Zeppelin Leadgitarrist Jimmy Page teilt“ und ich selber fühle mich seit je Brigitte Bardot zugetan, die am selben Tag Geburtstag feiern kann wie ich auch.

Obwohl wir entscheidend von der Evolution geprägt sind, haben wir keine Erinnerung daran. „Bereits bei unserer Geburt sind wir mit fundamentalen inneren Antrieben ausgestattet, die sich in einer völlig anderen Periode der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben.“ Zudem sind wir bis vor nicht allzu langer Zeit davon ausgegangen, es gäbe einen Primat des Bewusstseins. Mittlerweile wissen wir, dass dem nicht so ist und wir weitestgehend unbewusst funktionieren. „Unser primärer, ultimativer und evolutionär am stärksten ausgeprägter Drang – zu überleben und körperlich geschützt zu sein – ist die Grundlage vieler unserer Haltungen und Überzeugungen.“

Wir treffen unsere Entscheidungen meist in Sekundenbruchteilen, aus dem Bauch heraus. Sollen wir solchen Eingebungen trauen? Wie immer, es kommt drauf an, denn unbewusstes Denken hat auch Schwächen. John Bargh empfiehlt acht Grundregeln, die ersten beiden lauten wie folgt: Regel Nr. 1: Sichern Sie Ihr Bauchgefühl zumindest mit ein wenig bewusster Überlegung ab, sofern dafür Zeit bleibt. Regel Nr. 2: Bleibt Ihnen keine Zeit zum Nachdenken, dann lassen Sie sich von Ihrem Bauchgefühl nicht verleiten, für mindere Ziele grosse Risiken einzugehen.

Interessant und hilfreich finde ich vor allem Regel Nummer 6: Wir sollten unserer Einschätzung anderer Menschen allein anhand ihres Gesichts oder von Fotos nicht trauen, solange wir nicht mit ihnen direkt zu tun hatten. Der Grund? Die Evolution „hat uns nicht mit der Fähigkeit ausgestattet, Persönlichkeitsmerkmale aus statischen Abbildungen oder allein aus Gesichtszügen herauszulesen. Wir sind vielmehr von der Entwicklung her darauf angelegt, sehr sensibel auf den emotionalen Ausdruck einer Person zu achten – ob sie zum Beispiel traurig, angewidert oder panisch dreinschaut – , wenn sie in Aktion ist, das heisst mit uns oder anderen interagiert.“

Vor dem Denken. Wie das Unbewusste uns steuert macht unter anderem deutlich, wie entscheidend und grundlegend das Vertrauen für unser Handeln ist. So zeigen bereits Kleinkinder spontan Hilfsbereitschaft, ohne dass man sie darum bittet oder sie dazu auffordert, sofern „die Vorstellung eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bei ihnen aktiv war.“ Und wir lernen sehr früh, ob unser Vertrauen gerechtfertigt war.

Doch wir sind unserem Unbewussten nicht einfach ausgeliefert, wir können es auch steuern. So wurden etwa Alkoholikern Bilder von alkoholbezogenen Objekten wie Flaschen, Korkenzieher, Krüge oder Weingläser gezeigt und sie aufgefordert, diese Objekte mittels eines Hebels von sich zu schieben. Das machten sie zwei Wochen lang regelmässig. In der Folge konnotierten sie Alkohol nicht mehr positiv, sondern negativ. Zudem: „Die Patienten zeigten eine signifikant niedrigere Rückfallquote (46 Prozent) gegenüber den Teilnehmern der Kontrollgruppe, die keine alkoholbezogenen Fotos gesehen hatten (59 Prozent).“

Wenn wir akzeptieren, dass wir keinen komplett freien Willen und auch keine allumfassende bewusste Kontrolle besitzen, so John Bargh, nimmt der Grad unseres wirklich vorhandenen freien Willens und unserer wirklich vorhandenen Kontrolle zu. Und das meint: Wir können lernen, die unbewussten Kräfte des Geistes effizient zu nutzen. Indem wir zum Beispiel unsere Vorsätze einhalten. Und unsere Umgebung verändern.

Vor dem Denken. Wie das Unbewusste uns steuert (Droemer Verlag, München 2018) ist ein spannendes, lehrreiches und überaus nützliches Buch!

Mittwoch, 31. August 2022

Gehirn, weiblich

 

Seit ich mich vor zwanzig Jahren einer Hirnoperation unterzogen habe, habe ich einige Bücher über das Gehirn gelesen, zuletzt dieses. Trotzdem ist mir die Funktionsweise des Gehirns nach wie vor ein Rätsel, und so mache ich immer wieder einen neuen Anlauf, um etwas besser zu verstehen, was da in meinem Oberstübchen abläuft.

Mein erster Eindruck von Iris Sommers Gehirn, weiblich: Das liest sich verständlich. Dazu kommt: Der Untertitel Unterschiede wahrnehmen, Stereotype überwinden zeigt die Stossrichtung an – und die ist mir sympathisch, denn sie verspricht ein genaues, nicht von Ideologie getränktes Hinschauen.

Dass wir von Gefühlen und nicht von der Vernunft regiert werden, ist für mich keine Diskussion wert. Doch Gefühle lassen sich bis zu einem gewissen Grad steuern, zum Beispiel durch Informationen. Sofern man bereit ist, sich von Fakten – ob sie uns passen oder nicht – leiten zu lassen.

Fakt ist: "Das Gehirn einer Frau ist im Durchschnitt deutlich kleiner als das eines Mannes." Fakt ist auch, "dass die Lebern und Herzen von Frauen und Männern keineswegs identisch ist." Ich finde es sehr beruhigend, dass Kardiologen und Pharmakologen dem Rechnung tragen.

Je grösser, desto besser? Je grösser das Gehirn, desto intelligenter? Ja und Nein, denn ein kleineres Gehirn ist imstande ebenso viel zu leisten wie ein grösseres. Denken Sie an amerikanische und europäische Fahrzeuge – die amerikanischen sind um einiges grösser, doch sind sie auch besser? Solche und ähnliche Hinweise finden sich in diesem aufschlussreichen Buch.

 Iris Sommer, Professorin für Psychiatrie am Universitätsklinikum Groningen, macht deutlich, dass neben den genetischen Faktoren auch Umgebung und Erfahrung den IQ und die Gehirngrösse beeinflussen. So wächst zum Beispiel das Gehirn, wenn man eine anspruchsvolle Ausbildung durchläuft oder sich mit komplexen Problemen auseinandersetzt. Anders gesagt: Intelligenz lässt sich trainieren.

Wie von akademisch Lehrenden nicht anders zu erwarten, zitiert Iris Sommer ganz viele Studien, die über ganz Unterschiedliches Aufschluss geben. Zu den für mich faszinierendsten gehört, wie sich bestimmen lässt, über wie viele Nervenzellen unser Hirn verfügt   im Durchschnitt etwa 83 Milliarden. Und die kann man wirklich zählen? Kann man. Eine Gruppe von Neurowissenschaftlern in Rio de Janeiro, angeführt von Suzana Herculano-Houzel, hat gezeigt wie das geht.

Besonders spannend fand ich, dass sich funktionale Netzwerke identifizieren lassen. "Das bekannteste Netzwerk ist das Default-Mode-Netzwerk (DMN). Es ist aktiv, wenn wir nichts Besonderes tun und unseren Gedanken freien Lauf lassen." Mit anderen Worten: Das DMN ist unser Autopilot, der immer dann zum Einsatz kommt, wenn die anderen Netzwerke (etwa das visuelle Netzwerk, das kognitive Kontrollnetzwerk, das auditive Netzwerk oder das sensomotorische Netzwerk) zur Ruhe kommen. "Je besser man zwischen der Aktivität des DMN und der Aktivität der anderen Netzwerke hin und her wechseln kann, und je weniger es dabei zu Überschneidungen kommt, desto effizienter nutzt man sein Gehirn." So einleuchtend das ist, mich selber faszinieren und irritieren die Überschneidungen mehr.

Gehirn, weiblich informiert zwar hauptsächlich über das Gehirn und seine Funktionsweise, befasst sich jedoch auch mit der Frage, wie man Stereotype überwinden kann. Das ist weit schwieriger als man sich das gemeinhin vorstellt, denn der Mensch will sich nun mal nicht ändern, ausser er muss. In Sachen Gender meint das: "Wir mögen es nicht, wenn sich ein Mann oder eine Frau nicht genderstereotyp verhält." Was nicht heisst, dass alles beim Alten bleiben soll. "Immer mehr Menschen haben den Mumm, von ihrer stereotypen Genderrolle abzuweichen. Frauen, die darauf pfeifen, ob man sie als Schreckschraube bezeichnet, und Männer, die es prima finden, ein Softie zu sein." Noch schöner wäre allerdings, wenn der Mensch generell nicht so viel darauf geben würde, was andere denken und sagen.

Fazit: Gut geschriebene, nützliche Aufklärung.

Iris Sommer
Gehirn, weiblich
Unterschiede wahrnehmen, Stereotype überwinden
C.H. Beck, München 2022

Mittwoch, 24. August 2022

Versager

 Wer in "unserem" System erfolgreich ist, ist ein Versager. 

Aus dir spricht der Neid bzw. die Wut darüber, dass du es nicht geschafft hast, erfolgreich zu sein, sagt Lorenz, der viel Geld damit macht, Kriminelle erfolgreich vor dem Gefängnis zu bewahren.

Das ist die gängige Sichtweise, die zwar dein Denken beschreibt, jedoch sich nicht mit meiner Aussage auseinandersetzt und das auch gar nicht will.

Weil deine Aussage nichts anderes als die Rationalisierung deines Scheiterns ist, kontert Lorenz.

Und wenn es etwas anderes wäre? Schliesslich ist auch anders zu denken möglich: Erfolgreich zu sein bedeutet ein immer grösseres Ego zu bekommen. Zwangsläufig. Und das ist dumm, ja, ein klarer Indikator für Versagen, denn je grösser das Ego, desto grösser das Leiden.

Mittwoch, 17. August 2022

Welt der Wunder

Diesem sehr schön gestalteten Buch ist ein Zitat von Rabindranath Tagore vorangestellt, das eine Lebenseinsicht vermittelt, die von tiefer Weisheit zeugt. "Der Schmetterling zählt nicht Monate, sondern Momente. Und er hat genug Zeit."

Welt der Wunder handelt von wilden Pflanzen und Kreaturen, mit denen die Autorin Aimee Nezhukumatathil während ihrer Kindheit im Mittleren Westen Bekanntschaft machte und die sie seither begleiten. Dazu gehört auch der Catalpa, ein Laubbaum, der bis zu achtzehn Meter in die Höhe schiesst und an dessen Ästen lange Bohnenschoten herunterbaumeln. "Diese Schoten brachten die Menschen dazu, sie 'Zigarrenbäume', 'Trompetenbäume' oder 'Catawba' zu nennen."

Sie berichtet von Glühwürmchen, von denen es welche gibt, die synchron blinken können, ohne dass jemand wirklich weiss warum. Und von Indigofinken, die immer ihren Weg nach Hause finden. Und von Pfauen, den indischen Nationalvögeln, die sie in der amerikanischen Grundschule nicht zeichnen durfte, obwohl es sie auch in Amerika gibt. 

Als sie vier Jahre alt ist, schickt ihr ihre Grossmutter Armreifen aus Glas. "Als Erwachsene fühle ich mich immer noch von lichtdurchfluteten Farbspielen angezogen." Welt der Wunder ist wesentlich eine Reise in die Kindheit von Aimee Nezhukumatathil, in der unsere Beziehung zur Realität geformt wird. Sich daran zu erinnern, was in jungen Jahren von Bedeutung war, lässt einen auch erkennen, dass diese Prägungen unser Leben bestimmen.

Es ist bereichernd, an den Entdeckungen der Autorin teilzunehmen, auch wenn ich gelegentlich das Gefühl nicht los wurde, es gehe ihr eigentlich vor allem darum, von ihrer Familie und ihrem wunderbaren Mann zu schwärmen, was für mich in die Kategorie klingt etwas zu schön, um wahr zu sein gehört.

Welt der Wunder ist auch ein höchst lehrreiches Werk. So lerne ich etwa, "dass Pflanzen eine Temperatur haben und je nach Notwendigkeit kalt oder warm werden, dass sie Signale an andere Pflanzen schicken, die ihnen helfen, anstatt ihnen Schaden zuzufügen." Und ich erfahre, dass es Tanzfrösche gibt und sie als gefährdete Art klassifiziert sind. Und dass Hutaffen typisch für Indien sind. Allerdings fand ich den Satz: "Die Hutaffen erinnerten mich daran, wie gut es tat zu lachen." ziemlich befremdend: Muss man daran wirklich erinnert werden?

Schmunzeln machte mich die Schilderung eines Stromausfalls anlässlich eines Besuchs bei der Grossmutter im ländlichen Indien. "Meine Grossmutter nennt sie Stromlücken. Zum Beispiel: "Wir müssen die Wäsche am Vormittag waschen, vor der Stromlücke." Oder: "Iss dein Eis, sonst schmilzt es in der Stromlücke." Oder: "Es gibt zu viele Babys in diesem Ort wegen der Stromlücke."

Irritierend waren für mich die Bemühungen um die korrekte Sprache. Warum ein Mädchen mit einem indischen Vater und einer philippinischen Mutter als Mädchen of Color bezeichnet wird, da ihre Hautfarbe doch braun ist, entzieht sich mir. Eine differenzierte Sichtweise findet sich in den Ausführungen der Übersetzerin Anna von Rath am Schluss des Buches.

Fazit: Gut geschrieben und vielfältigst anregend.

Aimee Nezhukumatathil
Welt der Wunder
Über Glühwürmchen, Walhaie und andere Erstaunlichkeiten
btb, München 2022

Mittwoch, 10. August 2022

Shunmyo Masuno: Don't Worry

90 Prozent deiner Befürchtungen treten gar nicht ein! behauptet der Untertitel. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass dem so ist, doch weshalb soll ich ein Buch über etwas lesen, das man offenbar auch in einem Satz sagen kann? Zum Einen, weil der Mensch es gerne ausführlich hat, zum Andern, weil wir Botschaften und Anregungen besser anhand von Geschichten als von programmatischen Aussagen begreifen, denn Geschichten erzeugen Bilder im Kopf und transportieren Emotionen. Understanding is a feeling hat mich meine Auseinandersetzung mit Fotografie gelehrt.

Das Vorwort wird mit diesen überaus einfachen und deswegen hilfreichen Sätzen eingeleitet. Rangiere die Dinge aus, die du nicht brauchst. Lebe ein unendlich einfaches Leben, frei von unnötigen Ängsten und Sorgen, ohne dich von den Werten anderer umstimmen zu lassen. Es sind dies Sätze, die man in jedem beliebigen Selbsthilfebuch finden kann; was hat das also mit Zen zu tun?

Beim Zen, wie ich ihn verstehe, geht es um eine Grundhaltung. Zu dieser gehört die Dankbarkeit. Und diese gilt es zu üben. "Ich beginne jeden Morgen, indem ich meine Hände zusammenlege und sage: 'Ich bin dankbar dafür, dass ich einen weiteren Tag bei guter Gesundheit begrüssen kann.' Und jeden Abend lege ich erneut die Hände zusammen und spreche meine Dankbarkeit aus: 'Ich bin dankbar dafür, dass ich einen weiteren Tag überstanden habe.'"

Don't Worry ist kein Buch, das man von Anfang bis Ende liest. Sicher, wer will, der kann das natürlich, doch sinnvoller scheint mir, diesen Band von Zeit zu Zeit hervorzuholen, irgendwo aufzuschlagen und das dort Gelesene wirken zu lassen. Je öfter, desto besser, denn die Ratschläge, die der Zen-Mönch Shunmyo Masuno gibt, sollten verinnerlicht werden, um wirksam  sein zu können.

So recht eigentlich dreht sich alles um Akzeptanz, also darum, das Leben so zu nehmen wie es nun mal ist. Und das meint unter anderem: Nicht zu vergleichen, denn das, was andere tun, hat nichts mit mir zu tun. "Es gibt keinen Vergleich. Wenn wir versuchen, Dinge zu vergleichen, die sich nicht vergleichen lassen, wird unser Geist von etwas eingenommen, was irrelevant ist, und das ist es, was Angst, Sorgen und Furcht erzeugt."

Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer sich mit Relevantem beschäftigt, hat weder Angst, Sorgen noch Furcht. Doch was ist relevant? Sich selber wertzuschätzen. Loszulassen. Sich nicht auf Dinge konzentrieren, auf die man keinen Einfluss hat. Shunmyo Masuno zählt noch viele weitere Beispiele auf, die uns helfen können, gelassen zu werden. Zu den für mich wichtigsten gehört, nichts als selbstverständlich zu betrachten sowie das Leben ohne Hast und Eile anzugehen.

Ekiho Myazaki wurde einhundertsechs Jahre alt. Zu den Ratschlägen, die er hinterlassen hat, gehört auch dieser: "Die Menschen fragen sich, wann der richtige Zeitpunkt zum Sterben ist, und sie denken: 'Wenn ich erleuchtet bin'. Aber das ist falsch. Friedlich und mit Gelassenheit zu leben, das ist Erleuchtung. Es ist nicht schwer, friedlich und mit Gelassenheit zu leben. Wenn es an der Zeit ist zu sterben, ist es das Beste zu sterben. Solange es an der Zeit ist zu leben, ist es am besten, friedlich und mit Gelassenheit zu leben."

Fazit: Eine überaus hilfreiche Anleitung, sich auf das wirkliche Leben einzulassen.

Shunmyo Masuno
Don't Worry
90 Prozent deiner Befürchtungen treten gar nicht ein!
48 Impulse eines Zen-Mönchs für ein gelassenes Leben
Lotos, München 2022

Mittwoch, 3. August 2022

Werde der, der du bist

 Schon mein ganzes Leben begleitet mich ein unterschwelliges Wut-Gefühl. Vielleicht, muss ich hinzufügen, denn wirklich wissen kann ich das nicht. Als Philosophen des ‚Vielleicht‘ habe sich Nietzsche immer wieder gerne bezeichnet, so Sue Prideaux in ihrer grandiosen Biografie dieses Zertrümmerers herkömmlicher Gewissheiten.

Das geht doch nicht, meldet sich eine der zahlreichen Stimmen in meinem Kopf. Sowas zu schreiben suggeriert doch, Du würdest Dich als Philosophen sehen, gar als einen Geistesbruder von Nietzsche? Und überhaupt: Ganz am Anfang eines Buches auf eine vielgepriesene Biografie Bezug nehmen, das geht gar nicht. Schreib von Dir! Zitiere nicht andere! Wenn Du das nicht kannst, dann lass es sein!

Genau so habe ich mich ein Leben lang in meine Schranken verwiesen. Mich braucht niemand zu zensurieren, ich tue es selber. Und selbst in meinem 66sten Altersjahr bin ich grösstenteils meinen Konditionierungen ausgeliefert. Doch das akzeptiere ich nicht mehr, ich will hochkommen lassen, was in mir lodert und heraus will. Es ist nicht nur nötig, es ist meine Pflicht, das weiss ich nicht nur, das spüre ich auch. Schwierig? Sowieso. Nietzsche soll übrigens von Pindars Werde der, der du bist geleitet worden sein. Es ist so recht eigentlich das Einzige, was mich interessiert. Und es ist mehr als schwierig und vielleicht unmöglich. Meine diesbezüglichen Anstrengungen haben sich als zermürbend erwiesen, doch wenn mich überhaupt etwas zu motivieren vermag, dann das. Bei allem Anderen steht die Sinnlosigkeit schon von Anfang an fest. „Jedes Mal, wenn man dachte, man hätte es geschnallt, zeigte einem die Welt eine lange Nase und wechselte auf ihre eigene Spur zurück, wurde wieder unergründlich.“ (James Sallis: Driver).

Kam ich mit schlechten Noten nach Hause, war klar, dass der Fehler bei mir lag und nicht am möglicherweise unfähigen Lehrer. Und da das häufig auch stimmte („Fauler Hund“, schmunzelte mein Vater immer mal wieder – und hatte meist nicht Unrecht), war ich auf dem besten Weg, mich nahtlos in die Gesellschaft zu integrieren. Die Schule lehrte mich, dass meine Meinung nicht zählte, konnte ich hingegen eine anerkannte Grösse (Goethe eignete sich immer) mit derselben Meinung zitieren, war das in den Augen der Lehrer natürlich etwas anderes.

Unter den Dingen, auf die ich beim Aufräumen stosse, befinden sich auch Fotos und Notizen von V. Sie litt unter einem Herzklappenfehler, wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde und betäubte sich mit Drogen. Sie berührte mich tief und natürlich wollte ich sie retten. Sie war 26 als sie auf der Strasse tot zusammenbrach.

Ich predigte ihr, es sei wichtig, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen (ich selber war weit entfernt davon). Als es ihr zuviel wurde, sagte sie: Also, wenn Du Verantwortung so toll findest, kannst Du die für mich gleich mit übernehmen.

Ich lege wahllos eine Kassette in den Recorder als ich die Bilder von ihr betrachte. Ein Film läuft in meinem Kopf ab – wie wir durch den meterhohen Schnee durch Zürichs Strassen stapften, im Zug nach München Koks schnupften und viel miteinander lachten – und plötzlich merke ich, dass die Musik, die aus den Lautsprechern tönt, aus der Zeit stammt, in der wir zusammen waren. Zufall? Höchstens in dem Sinn, dass uns fast alles ohne unser bewusstes Tun zufällt.

Ich habe V. gegooglet. Natürlich fand ich nichts – ihr Tod liegt 35 Jahre zurück – , doch ich stiess auf eine Frau mit demselben Namen, eine Amerikanerin, die ihr verblüffend ähnlich sah und 2019 im Alter von 60 Jahren gestorben ist (was in etwa dem heutigen Alter von V entspräche).

In alten Sachen zu wühlen ist mehr als nur eigenartig. Unwirklich trifft es besser. Je mehr ich ausgrabe, desto verwirrender erlebe ich mein Leben, je weniger verstehe ich es. Ein Brief von einem englischen AA-Freund, den ich kaum kannte, der mich in Durban erreichte – ich google ihn und stosse auf seine Todesanzeige. Auch C google ich, einen Kanadier chinesischer Abstammung, der mich in Quanzhou darüber aufklärte, dass in jeder meiner Klassen ein Regierungsspion sitze (es sei der, der verstehe, was ich sage). Er ist vor zwei Jahren gestorben.

C und ich lasen beide gleichzeitig „Krieg und Frieden“ und als wir uns in der Folge darüber austauschten, stellten wir fest, dass wir genau die gleiche Stelle, in der Fürst Andrej verletzt auf dem Schlachtfeld liegt, am beeindruckendsten fanden: “Über ihm war nichts als der Himmel, der hohe Himmel, der zwar nicht klar, aber trotzdem unermesslich hoch schien. Graue Wolken glitten ruhig dahin. Wie still, wie ruhig, wie feierlich, dachte Fürst Andrej, gar nicht so, wie ich eben dahergestürmt bin, gar nicht so, wie wir rennen und schreien und kämpfen, und wie sich der Franzose und der Artillerist mit wütenden, entsetzten Gesichtern den Wischer zu entwinden suchten – ganz anders ziehen die Wolken über diesen hohen, unendlichen Himmel dahin. Wie kommt es, dass ich früher niemals diesen Himmel gesehen habe? Wie glücklich bin ich, dass ich ihn endlich sehe. Ja! Alles ist eitel, alles ist Lug und Trug, ausser diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts ausser ihm … Und auch er ist wohl nicht … nichts ist … ausser der Stille … der Ruhe … Gott sei Dank!”

Aus: Hans Durrer: Gregors Pläne, neobooks 2021