Was für ein glänzender Einfall, das Buch mit dem Psychogramm eines Mannes zu beginnen, bei dem wohl die wenigsten an einen Psychopathen denken: James Bond. Gefolgt wird 007 dann von Napoleon Bonaparte und Pablo Picasso, bei denen die Psychopathie-Assoziation schon näher liegt. Jedenfalls für mich. Ich blättere vor zum Index, wo ich auf Namen hoffe, bei denen ich automatisch an Psychopathen denke, ob das nun wissenschaftlich belegt werden kann oder nicht, doch ein solcher Index fehlt. Schade.
Dass sich den Autoren die Frage nach dem Index auch gestellt hat, zeigt sich im Epilog, wo sie begründen, weshalb sie darauf verzichtet haben, "keine lebenden Vertreter des grossen Psychopathen-Pools namhaft zu machen." Keine Fern-Diagnosen. Für mich bedeutet das: Man will sich nicht in die Karten schauen lassen, sein Geschäftsmodell nicht gefährden. Der andere Grund, den sie anführen, finde ich hingegen überzeugend: "Taten von Staatenlenkern und ihren Regimen, insbesondere Verbrechen an der Menschlichkeit, sollte man nicht versuchen durch ein Persönlichkeitsmerkmal, im Extremfall einer einzelnen Person, zu erklären, zu vereinfachen und schlimmstenfalls zu rechtfertigen."
Gleich vorweg: Was der Untertitel verspricht, Wie man sie durchschaut und nicht zum Opfer wird, ist natürlich dem Marketing geschuldet, also nicht wörtlich zu nehmen, denn ernsthafte Wissenschaftler verfügen über keine Patentrezepte. Und behaupten das auch gar nicht. Vielmehr fragen sie sich, was Psychopathie "eigentlich konkret und aus wissenschaftlicher Sicht" bedeutet. Das ist eine Frage, zu der sich Wissenschaftler kompetent äussern können, viel mehr geht nicht.
Doch zurück zu James Bond, diesem Supermann, der auch ein Emotionskrüppel sondergleichen ist. "Das Mass an Kollateralschäden, die seine Aktionen mit sich bringen, bekümmert ihn nicht erkennbar. Generell kennen wir Reue oder Schuldgefühle nicht an ihm." Die Autoren führen noch etliche andere Charaktereigenschaften auf, die den Mann zum Psychopathen machen, doch die Unfähigkeit zur Empathie sowie die Absenz von Reue und Schuldgefühlen gehören für mich zu den Eigenschaften, die mir besonders fremd und nicht nachvollziehbar sind. Kein Wunder, zeigt der beigefügte Selbsttest bei mir keinen Indikator für Psychopathie.
Wie bei Büchern von Professoren üblich, werden ausführlich Begriffe geklärt, Geschichte und Kontext erläutert. Und natürlich wimmelt es von Studien, sehr aufschlussreichen, notabene. So wurden etwa bei den Inuit in Alaska und den Yoruba in Nigeria Verhaltensweisen von Personen aufgezeichnet, "die andauernd Regeln brechen, nur an sich denken, rücksichtslos sind, stehlen, betrügen, die Gemeinschaft und die Frauen von anderen missbrauchen – alles Aspekte, die auch heute, 'bei uns' in der westlichen Welt, definitorischer Bestandteil von Psychopathie sind ...".
Speziell geschätzt habe ich den Hinweis auf Leopold Szondi, der nicht daran glaubte, dass sich die Menschheit zum Besseren entwickle. "Das Gros der Geschichte macht die ewig wiederkehrende Geschichte Kains aus." Nach Szondi nehmen Menschen mit psychopathischen Zügen, bei denen eine 'tötende Gesinnung' sowie "Zorn, Hass, Neid, Eifersucht und Furcht" überwiegen, "die höchsten Positionen in Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft in unserer Gesellschaft ein." Belege, die auch Skeptiker überzeugen, seien allerdings rar, führen die beiden Autoren aus. Na ja, wie wär's mit Lebenserfahrung?
Szondi war übrigens der Auffassung, dass zwischen Polizisten und den von ihnen verfolgten Straftätern eine Wesensverwandtschaft existiere. Der gesunde Menschenverstand sagt das auch. Übrigens gibt es tatsächlich Berufe (Vorstandsvorsitzende, Rechtsanwälte, Finanzdienstleister) bei denen der Anteil der Psychopathen höher ist als in der Normalbevölkerung. Das liegt auch daran, dass psychopathienahe Merkmale (Ausblendung jeglicher Emotion und persönlicher Anteilnahme, zum Beispiel) bei gewissen Berufen gefragt sind, man denke an Chirurgen oder Piloten.
Es ist die Komplexität des Lebens, die einfache Zuordnungen nicht wirklich möglich macht. Darüber hinaus gibt es Überschneidungen mit Narzissmus und Borderline sowie anderen schwierigen seelischen Befindlichkeiten. Zusätzlich erschwerend ist, dass Psychopathen sich hinter der Maske der Normalität zu verstecken wissen. Nicht ohne Grund heisst dieses Buch Die Masken der Psychopathen.
Doch weshalb gibt es eigentlich Psychopathen? Das lässt sich nur hypothetisch beantworten, hat aber vermutlich mit der Evolution zu tun. Genauer: Mit dem Überlebenskampf, bei dem "Recht immer nur das Recht des Stärkeren, Aggressiveren, Raffinierteren, Skrupelloseren war." Was wir heutzutage als antisozial bezeichnen wurde als "adaptive Strategien" gesehen. Meines Erachtens ist das immer noch so, auch wenn wir es vorziehen, das sprachlich zuzudecken.
Zu wissen, ob man es mit Psychopathen zu tun hat, ist nicht nur für die Therapie, sondern auch für die Strafjustiz wichtig. "Sie sind nicht verwirrt, unzurechnungsfähig oder leben und handeln in einer Traumwelt oder Wahnvorstellung, wie etwa Schizophrene zuweilen." Doch sind Psychopathen eigentlich therapierbar?
Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft, sagt die Hirnforschung, sind die Besonderheiten, die im Hirn von Psychopathen gefunden wurden, von Geburt an festgelegt. Dazu kommt, dass "es sich bei dieser Persönlichkeitsstörung um ein sehr komplexes Zusammenwirken vielfältiger Einzelmerkmale handelt." Eine erfolgreiche Therapie scheint am ehesten noch bei Jugendlichen möglich. Und wie verhält man sich gegenüber erwachsenen Psychopathen? Man geht ihnen tunlichst aus dem Weg.
Fazit: Spannende, gut geschriebene und hilfreiche Aufklärung.
Heinz Schuler
Dominik Schwarzinger
Die Masken der Psychopathen
Wie man sie durchschaut und nicht zum Opfer wird
C.H. Beck, München 2022
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