Es entbehrt nicht der Ironie, wenn ein überaus produktiver Autor über die Untätigkeit schreibt. Es sei gleich vorweggenommen: Die Lektüre ist bereichernd und horizonterweiternd. Auch, weil Byung-Chu Han grundsätzlich argumentiert: "Der Kapitalismus wird von der Illusion genährt, mehr Kapital erzeuge mehr Leben, mehr Vermögen zum Leben. Aber dieses Leben ist ein nacktes Leben, ein Überleben."
Wir leben in hektischen Zeiten, alles muss rasch rasch gehen, Zeit zum Innehalten glauben wir uns nicht erlauben zu dürfen. "Wir haben vergessen, dass gerade die Untätigkeit, die nichts produziert, eine Intensiv- und Glanzform des Lebens darstellt", notiert Byung-Chul Han, womit er mir aus dem Herzen spricht, auch wenn ich nicht so sicher bin, ob wir das vergessen haben. Meine Vermutung ist, dass die meisten das gar nie wussten und immer noch nicht wissen.
Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit packt mich gleich von Anfang an. Das liegt, so vermute ich, daran, dass da Sätze wie Gewehrsalven abgefeuert werden. "Ohne Moment des Zögerns oder des Innehaltens sinkt das Handeln zur blinden Aktion und Reaktion herab. Ohne Ruhe entsteht eine neue Barbarei. Schweigen vertieft das Sprechen. Ohne Stille gibt es keine Musik, sondern nur Lärm und Geräusch. Spiel ist die Essenz der Schönheit." Auf mich wirkt dieses Sperrfeuer von Behauptungen, die einfach so in die Luft geschossen werden, irritierend und anregend. Und: Es macht mich innehalten. Und die Aussagen bedenken.
Zu einigen dieser Behauptungen fällt mir nicht viel ein, höchstens, dass mit begrifflichem Unterscheiden dem Leben eindeutig nicht beizukommen ist. "Handeln ist zwar konstitutiv für die Geschichte, ist aber keine kulturbildende Kraft. Nicht der Krieg, sondern das Fest, nicht die Waffe, sondern der Schmuck ist der Ursprung der Kultur. Geschichte und Kultur sind nicht deckungsgleich." And if so, so what?
Andererseits kann die Klärung von Begriffen von praktischem Nutzen sein. "Soziale Medien beschleunigen den Abbau der Gemeinschaft. Der Kapitalismus verwandelt die Zeit selbst in eine Ware. Dadurch verliert sie jede Festlichkeit." So zutreffend ich das auch finde, Festlichkeit ist weit entfernt von Untätigkeit. Das sieht Byung-Chul Han entschieden anders. "Das Fest ist frei vom Bedürfnis des schieren Lebens. Das Festmahl sättigt nicht, stillt keinen Hunger." Doch, doch, das tut es manchmal auch ...
Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit verschafft mir Einsichten, die ich höchst treffend und überraschend finde. "Die Erfahrung beruht auf Gabe und Empfang. Ihr Medium ist das Lauschen. Der gegenwärtige Informations- und Kommunikationslärm setzt aber der 'Gesellschaft der Lauschenden' ein Ende. Niemand lauscht. Jeder produziert sich."
In einfachen, klaren und deswegen überzeugenden Sätzen führt Byung-Chul Han aus, was die Untätigkeit ausmacht: "Wir tun zwar, aber zu nichts. Dieses Zu-nichts, diese Freiheit vom Zweck und Nutzen ist der Wesenskern der Untätigkeit. Es ist die Grundformel des Glücks." Umgekehrt liesse sich sagen: Die Umtriebigkeit, die unsere Gegenwart ausmacht, ist ein Rezept für Unglück.
Unsere Standardeinstellung ist zweckgerichtet, wir tun etwas, weil wir uns davon Positives versprechen. Absichtslos etwas zu betreiben ist uns nicht nur fremd, sondern erfüllt christlich geprägte Menschen (klar doch, ich rede von mir) zudem mit Schuldgefühlen. Das Handeln ist uns imperativ. Und genau deshalb sind die Ausführungen in diesem Band wichtig; sie helfen, zur Besinnung zu kommen. "Das Sein hat eine zeitliche Dimension. Es wächst im Langen und Langsamen. Die heutige Kurzfristigkeit baut es ab."
Wie bei Büchern von akademisch Tätigen üblich, werden ganz viele und ganz unterschiedliche Werke zitiert. Nietzsche, Proust, Benjamin, Barthes, Deleuze, Arendt, Novalis, Musil, Handke usw. Besonders beeindruckend: Wie Heideggers Weg vom Handeln zum Sein nachgezeichnet wird.
Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit illustriert auch meine Lieblingsaufforderung, die von einem brasilianischen Zen-Buddhisten stammt, Não pense, veja (Denke nicht, schau) anhand von Zitaten von George Santayana und Aristoteles, der über die Götter meinte: "Und doch hat man immer geglaubt, dass sie leben, also tätig sind, denn niemand denkt, dass sie schlafen wie Endymion. Nimmt man aber dem Lebendigen jenes Handeln und noch viel mehr das Schlafen, was bleibt dann noch ausser dem Betrachten?"
Fazit: Wesentlich, vielfältig anregend, hellsichtig und gelegentlich ärgerlich.
Byung-Chul Han
Vita Contemplativa oder Von der Untätigkeit
Ullstein, Berlin 2022
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