„Lange nicht gesehen! Wie geht es Dir?“, fragt mich mein Bekannter. „Es gibt zwei Antworten darauf“, antworte ich, obwohl es natürlich noch ganz viele mehr gäbe. „Die erste: Ich bin total frustriert; die zweite: ich habe immer mal wieder Super-Momente.“ Mein Bekannter zeigt sich ob der ersten Antwort bestürzt, die zweite scheint ihn nicht zu interessieren. „Frustriert?! So kenne ich Dich gar nicht, auf mich wirkst Du überhaupt nicht so. Wieso frustriert?“ „Weil so ziemlich alles im Leben nicht so ist, wie es meiner Meinung nach sein sollte.“ „Geht es auch konkreter?“ „In meiner Vorstellung sollten die Anständigen an der Spitze stehen, in der Realität ist das überhaupt nicht so. Auch finde ich, dass Lügner und Inkompetente aus dem Amt gejagt werden sollen, doch auch das ist nicht der Fall.“ „Du scheinst ganz unrealistische Vorstellungen von der Welt zu haben“, sagt mein Bekannter, der glaubt, sein Direktorengehalt sei seinen Fähigkeiten geschuldet.
Doch wie gesagt: Ich habe immer mal wieder Super-Momente. Sie treten meist dann ein, wenn ich meine Erwartungen vergessen habe, wenn ich nicht denke, wenn ich einfach wahrnehme, was ist. Doch kann man seine Erwartungen eigentlich vergessen? Nur für Momente, denn unser Gehirn ist antizipierend eingestellt, ist also immer schon bei dem, was kommt oder kommen könnte, es flieht das Hier und Jetzt.
Seit ich das Fotografieren entdeckt habe, gehe ich anders durch die Welt. Aufmerksamer. Letzthin, in Marseille, in einer engen Gasse entdeckte ich am Himmel über mir ein Stück Stoff, das sich in Stromleitungen verfangen hatte und nun vom Wind durch die Luft gewirbelt wurde, so dass immer wieder neue, nicht vorherzusehende Formationen entstanden. Ich blieb stehen und versuchte das Schauspiel mit meiner Kamera einzufangen. Jede Aufnahme zeigte one moment in time, mein Fotografieren wurde zur Meditation – ich tat, was ich tat, nicht mehr, nicht weniger, nur gerade das.
Die meiste Zeit gehe ich jedoch mit einer mir selten bewussten Erwartungshaltung durch die Gegend. So erwarte ich etwa, dass wenn ich jemanden anständig behandle, mir ebenfalls anständig begegnet wird. Auch erwarte ich, dass ich nicht angelogen werde, dass die Menschen sagen, was sie denken, dass diejenigen, die die Steuerzahler viel Geld kosten, sich ihres Amtes fähig und würdig erweisen. Meines Erachtens sind dies absolut berechtigte Erwartungen, doch meine Erfahrung zeigt, dass ihnen eher selten entsprochen wird.
Das liegt unter anderem daran, dass unsere Kultur von uns verlangt, Heuchler zu sein. Das ist notwendig, um „unser“ System, das im Kosten-Nutzen-Denken gefangen ist, am Laufen zu halten. Gibt es eigentlich etwas Fantasieloseres als alles unter dem Aspekt von Kosten und Nutzen zu betrachten? Sollte es im Leben darum gehen, möglichst an dem Wunder teilzuhaben, dass wir für eine gewisse Zeit auf diesem Planeten unterwegs sein dürfen, dann eher nicht.
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