Diesem sehr schön gestalteten Buch ist ein Zitat von Rabindranath Tagore vorangestellt, das eine Lebenseinsicht vermittelt, die von tiefer Weisheit zeugt. "Der Schmetterling zählt nicht Monate, sondern Momente. Und er hat genug Zeit."
Welt der Wunder handelt von wilden Pflanzen und Kreaturen, mit denen die Autorin Aimee Nezhukumatathil während ihrer Kindheit im Mittleren Westen Bekanntschaft machte und die sie seither begleiten. Dazu gehört auch der Catalpa, ein Laubbaum, der bis zu achtzehn Meter in die Höhe schiesst und an dessen Ästen lange Bohnenschoten herunterbaumeln. "Diese Schoten brachten die Menschen dazu, sie 'Zigarrenbäume', 'Trompetenbäume' oder 'Catawba' zu nennen."
Sie berichtet von Glühwürmchen, von denen es welche gibt, die synchron blinken können, ohne dass jemand wirklich weiss warum. Und von Indigofinken, die immer ihren Weg nach Hause finden. Und von Pfauen, den indischen Nationalvögeln, die sie in der amerikanischen Grundschule nicht zeichnen durfte, obwohl es sie auch in Amerika gibt.
Als sie vier Jahre alt ist, schickt ihr ihre Grossmutter Armreifen aus Glas. "Als Erwachsene fühle ich mich immer noch von lichtdurchfluteten Farbspielen angezogen." Welt der Wunder ist wesentlich eine Reise in die Kindheit von Aimee Nezhukumatathil, in der unsere Beziehung zur Realität geformt wird. Sich daran zu erinnern, was in jungen Jahren von Bedeutung war, lässt einen auch erkennen, dass diese Prägungen unser Leben bestimmen.
Es ist bereichernd, an den Entdeckungen der Autorin teilzunehmen, auch wenn ich gelegentlich das Gefühl nicht los wurde, es gehe ihr eigentlich vor allem darum, von ihrer Familie und ihrem wunderbaren Mann zu schwärmen, was für mich in die Kategorie klingt etwas zu schön, um wahr zu sein gehört.
Welt der Wunder ist auch ein höchst lehrreiches Werk. So lerne ich etwa, "dass Pflanzen eine Temperatur haben und je nach Notwendigkeit kalt oder warm werden, dass sie Signale an andere Pflanzen schicken, die ihnen helfen, anstatt ihnen Schaden zuzufügen." Und ich erfahre, dass es Tanzfrösche gibt und sie als gefährdete Art klassifiziert sind. Und dass Hutaffen typisch für Indien sind. Allerdings fand ich den Satz: "Die Hutaffen erinnerten mich daran, wie gut es tat zu lachen." ziemlich befremdend: Muss man daran wirklich erinnert werden?
Schmunzeln machte mich die Schilderung eines Stromausfalls anlässlich eines Besuchs bei der Grossmutter im ländlichen Indien. "Meine Grossmutter nennt sie Stromlücken. Zum Beispiel: "Wir müssen die Wäsche am Vormittag waschen, vor der Stromlücke." Oder: "Iss dein Eis, sonst schmilzt es in der Stromlücke." Oder: "Es gibt zu viele Babys in diesem Ort wegen der Stromlücke."
Irritierend waren für mich die Bemühungen um die korrekte Sprache. Warum ein Mädchen mit einem indischen Vater und einer philippinischen Mutter als Mädchen of Color bezeichnet wird, da ihre Hautfarbe doch braun ist, entzieht sich mir. Eine differenzierte Sichtweise findet sich in den Ausführungen der Übersetzerin Anna von Rath am Schluss des Buches.
Fazit: Gut geschrieben und vielfältigst anregend.
Aimee Nezhukumatathil
Welt der Wunder
Über Glühwürmchen, Walhaie und andere Erstaunlichkeiten
btb, München 2022
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