Schon mein ganzes Leben begleitet mich ein unterschwelliges Wut-Gefühl. Vielleicht, muss ich hinzufügen, denn wirklich wissen kann ich das nicht. Als Philosophen des ‚Vielleicht‘ habe sich Nietzsche immer wieder gerne bezeichnet, so Sue Prideaux in ihrer grandiosen Biografie dieses Zertrümmerers herkömmlicher Gewissheiten.
Das geht doch nicht, meldet sich eine der zahlreichen Stimmen in meinem Kopf. Sowas zu schreiben suggeriert doch, Du würdest Dich als Philosophen sehen, gar als einen Geistesbruder von Nietzsche? Und überhaupt: Ganz am Anfang eines Buches auf eine vielgepriesene Biografie Bezug nehmen, das geht gar nicht. Schreib von Dir! Zitiere nicht andere! Wenn Du das nicht kannst, dann lass es sein!
Genau so habe ich mich ein Leben lang in meine Schranken verwiesen. Mich braucht niemand zu zensurieren, ich tue es selber. Und selbst in meinem 66sten Altersjahr bin ich grösstenteils meinen Konditionierungen ausgeliefert. Doch das akzeptiere ich nicht mehr, ich will hochkommen lassen, was in mir lodert und heraus will. Es ist nicht nur nötig, es ist meine Pflicht, das weiss ich nicht nur, das spüre ich auch. Schwierig? Sowieso. Nietzsche soll übrigens von Pindars Werde der, der du bist geleitet worden sein. Es ist so recht eigentlich das Einzige, was mich interessiert. Und es ist mehr als schwierig und vielleicht unmöglich. Meine diesbezüglichen Anstrengungen haben sich als zermürbend erwiesen, doch wenn mich überhaupt etwas zu motivieren vermag, dann das. Bei allem Anderen steht die Sinnlosigkeit schon von Anfang an fest. „Jedes Mal, wenn man dachte, man hätte es geschnallt, zeigte einem die Welt eine lange Nase und wechselte auf ihre eigene Spur zurück, wurde wieder unergründlich.“ (James Sallis: Driver).
Kam ich mit schlechten Noten nach Hause, war klar, dass der Fehler bei mir lag und nicht am möglicherweise unfähigen Lehrer. Und da das häufig auch stimmte („Fauler Hund“, schmunzelte mein Vater immer mal wieder – und hatte meist nicht Unrecht), war ich auf dem besten Weg, mich nahtlos in die Gesellschaft zu integrieren. Die Schule lehrte mich, dass meine Meinung nicht zählte, konnte ich hingegen eine anerkannte Grösse (Goethe eignete sich immer) mit derselben Meinung zitieren, war das in den Augen der Lehrer natürlich etwas anderes.
Unter den Dingen, auf die ich beim Aufräumen stosse, befinden sich auch Fotos und Notizen von V. Sie litt unter einem Herzklappenfehler, wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde und betäubte sich mit Drogen. Sie berührte mich tief und natürlich wollte ich sie retten. Sie war 26 als sie auf der Strasse tot zusammenbrach.
Ich predigte ihr, es sei wichtig, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen (ich selber war weit entfernt davon). Als es ihr zuviel wurde, sagte sie: Also, wenn Du Verantwortung so toll findest, kannst Du die für mich gleich mit übernehmen.
Ich lege wahllos eine Kassette in den Recorder als ich die Bilder von ihr betrachte. Ein Film läuft in meinem Kopf ab – wie wir durch den meterhohen Schnee durch Zürichs Strassen stapften, im Zug nach München Koks schnupften und viel miteinander lachten – und plötzlich merke ich, dass die Musik, die aus den Lautsprechern tönt, aus der Zeit stammt, in der wir zusammen waren. Zufall? Höchstens in dem Sinn, dass uns fast alles ohne unser bewusstes Tun zufällt.
Ich habe V. gegooglet. Natürlich fand ich nichts – ihr Tod liegt 35 Jahre zurück – , doch ich stiess auf eine Frau mit demselben Namen, eine Amerikanerin, die ihr verblüffend ähnlich sah und 2019 im Alter von 60 Jahren gestorben ist (was in etwa dem heutigen Alter von V entspräche).
In alten Sachen zu wühlen ist mehr als nur eigenartig. Unwirklich trifft es besser. Je mehr ich ausgrabe, desto verwirrender erlebe ich mein Leben, je weniger verstehe ich es. Ein Brief von einem englischen AA-Freund, den ich kaum kannte, der mich in Durban erreichte – ich google ihn und stosse auf seine Todesanzeige. Auch C google ich, einen Kanadier chinesischer Abstammung, der mich in Quanzhou darüber aufklärte, dass in jeder meiner Klassen ein Regierungsspion sitze (es sei der, der verstehe, was ich sage). Er ist vor zwei Jahren gestorben.
C und ich lasen beide gleichzeitig „Krieg und Frieden“ und als wir uns in der Folge darüber austauschten, stellten wir fest, dass wir genau die gleiche Stelle, in der Fürst Andrej verletzt auf dem Schlachtfeld liegt, am beeindruckendsten fanden: “Über ihm war nichts als der Himmel, der hohe Himmel, der zwar nicht klar, aber trotzdem unermesslich hoch schien. Graue Wolken glitten ruhig dahin. Wie still, wie ruhig, wie feierlich, dachte Fürst Andrej, gar nicht so, wie ich eben dahergestürmt bin, gar nicht so, wie wir rennen und schreien und kämpfen, und wie sich der Franzose und der Artillerist mit wütenden, entsetzten Gesichtern den Wischer zu entwinden suchten – ganz anders ziehen die Wolken über diesen hohen, unendlichen Himmel dahin. Wie kommt es, dass ich früher niemals diesen Himmel gesehen habe? Wie glücklich bin ich, dass ich ihn endlich sehe. Ja! Alles ist eitel, alles ist Lug und Trug, ausser diesem unendlichen Himmel. Es gibt nichts, nichts ausser ihm … Und auch er ist wohl nicht … nichts ist … ausser der Stille … der Ruhe … Gott sei Dank!”
Aus: Hans Durrer: Gregors Pläne, neobooks 2021
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