Sonntag, 22. Dezember 2024

Problem no good

 In the 1990s I spent much time in Thailand, and mostly in Bangkok, where one will regularly get to hear this famous Thai-English saying: Problem, no good. Right, I then thought, but why constantly state the obvious? Yet after a while I began to wonder whether this was actually true. Well, at that time, I did in fact like problems for they gave me something to do. In addition, to be able to solve problems felt gratifying.

Problems, problems, problems fill the minds of today's concerned people. And, big problems demand of course big minds. It was then clear to me that only distinguished people were able to solve complicated problems.

It took me considerable time to come up with a different view. Nowadays I believe most problems are fabricated, they give us permission not to do what we know we should do. 

Here's an example: If you were to go and see a psychologist or a lawyer, their first question will be: What's your problem? An hour later you will leave with many more problems tjhat you had very probably never heard of. The reason given is simple: You lacked the knowledge that would have allowed you to see the complexity of it all.

Needless to say, the real reason is differen for the lawyer and the psychologist need to make a living. Problems are their business model. The complexity they present to you is entirely made up and totally unnecessary. This is not to say that all things are easy, this is to say that if you want to change something you need to act instead of pondering problems.

Again an example: A man with a drinking problem wants to know what to do about it. Stop drinking, I said. Her looked at me wondering whether I was taking him for a ride. You do not seem to understand, he said, this is my problem. It is not, I replied, for what you need to do is obvious. However, you do not want to do what you know you need to do and so you call it a problem. To label something a problem is an excuse for not acting the way you know you should.


Mittwoch, 18. Dezember 2024

Yesterday ... Today ... Tomorrow

  There are two days in every week about which we should not worry, two days which should be kept free from fear and apprehension. 

One of these days is Yesterday with its mistakes and cares, its faults and blunders, its aches and pains. Yesterday has passed forever beyond our control.
All the money in the world cannot bring back Yesterday. We cannot undo a single act we performed; we cannot erase a single word said. Yesterday is gone.

The other day we should not worry about is Tomorrow with its possible adversities, its burdens, its large promise and poor performance. Tomorrow is also beyond our immediate control.
Tomorrow's sun will rise, either in splendor or behind a mask of clouds - but it will rise. Until it does, we have no stake in Tomorrow, for it is yet unborn.

This leaves only one day - Today. Any man can fight the battles of just one day; it is only when you or I add the burdens of those two awful eternities - Yesterday - and Tomorrow - that we break down.

It is not the experience of Today that drives men mad - it is the remorse or bitterness for something which happened Yesterday and the dread of what Tomorrow may bring.
Let us, therefore, live but One Day at a Time

Author Unknown

Mittwoch, 11. Dezember 2024

Die Geschichte einer Landärztin

Dass ich überhaupt auf dieses Buch gestossen bin, liegt wohl wesentlich daran, dass mein Vater als Arzt (genauer: als Spezialarzt für ORL) auf dem Land praktizierte. Dazu kommt, dass Geschichte eines Landarztes von John Berger und Jean Mohr bei mir im Regal steht (dessen englischer Originaltitel lautet: A Fortunate Man. The Story of a Country Doctor) und die in diesem Buch porträtierte Ärztin heute die Praxis des von John Berger geschilderten Arztes führt (der englische Originaltitel von Polly Morlands Werk heisst übrigens: A Fortunate Woman. A Country Doctor's Story).

Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen den beiden Büchern. Höchst aufschlussreich ist auch, was man alles über John Bergers Buch, das für angehende britische Ärzte damals als Pflichtlektüre galt, erfährt. Bewegt hat mich vor allem dies: Die Frau des Arztes spielte eine überaus wichtige Rolle im Leben des Manisch-Depressiven, den man heute als bipolar charakterisieren würde. So wusste sie etwa, wann es an der Zeit war, wieder einmal das Gewehr wegzuschliessen. Ein Jahr nachdem sie mit 61 Jahren an einem Herzschlag starb, erschoss sich ihr Mann. Dass Berger die Rolle der Frau nicht gebührend erwähnte, wurde ihm zu Recht als unverzeihlich angekreidet.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Landärztin und einer Ärztin im Krankenhaus? Zum einen hat man auf dem Land kein Privatleben, zum andern ist das Vertrauen, das persönliche Verhältnis ganz besonders wichtig. Wegen Kinkerlitzchen geht man auf dem Land nicht zum Arzt; eine Landärztin braucht ein gutes Gespür für ihre Klientel, die vor allem hören will, dass es so recht eigentlich nichts zu behandeln gibt und alles in Ordnung ist. Dass es das manchmal überhaupt nicht ist, erfährt man an zahlreichen Beispielen. Trotzdem gilt: Das Beruhigen ist die wichtigste Vorsorge.

Die Patientenvielfalt in dieser Landpraxis ist schlicht umwerfend. Das geht von der postnatalen Depression zur Frau mittleren Alters, die von der Ärztin will, dass sie ihrer Schwester verbietet, das Scheckbuch der betagten Mutter egoistisch zu eigenen Zwecken zu verwenden; vom Raucher, der nichts von Nikotinpflastern hören will bis zur Vierzehnjährigen, die mit einem viel älteren Mann schläft. Auch Patienten mit Selbstmordgedanken oder der Neigung zur Selbstverletzung finden den Weg in ihre Sprechstunde. „2018 stellte eine Studie fest, dass in den Nachwehen eines Suizids bis zu 135 Menschen Unterstützung suchen, sei es medizinisch oder seelsorgerisch.“

Polly Morland ist ein bemerkenswertes Porträt dieser mit heftigen Emotionen geschlagenen Landärztin gelungen. „Ihre Emotionen waren immer noch heftig und zwingend, aber sie lernte, einen Zwischenraum zwischen ihre Gefühle und den in einer Krise notwendigen Schritten einzuziehen. Zu Beginn war das eine Zufallsentdeckung, eine spontane, intuitive Simulation der einstudierten Gelassenheit ihrer Mutter, aber als sie herausfand, dass es funktionierte und ihr bei der Arbeit half, wurde es zu einem Verhalten, das die Ärztin innerlich einstudierte. Fast fünfundzwanzig Jahre später ist es genau das, was ihre Kollegen in der Landpraxis immer wieder hervorheben: wie ruhig sie bleibt, ganz gleich, was auch geschieht.“

Studien haben gezeigt, dass die Tatsache, über einen langen Zeitraum den gleichen Doktor aufzusuchen, sowohl medizinische als auch finanzielle Vorteile hat. „Diese umfassen das bessere Befolgen von medizinischen Ratschlägen, eine höhere Akzeptanz von Impfungen, einen zurückgehenden Bedarf an Bereitschaftsdiensten, niedrigere Überweisungsraten, grössere Praxistreue, höhere Zufriedenheit der Patienten und weniger Notaufnahmen im Krankenhaus.“ Auch sinkt die Todesrate bei kontinuierlicher Versorgung. Mit anderen Worten: Vertrauen, Verlässlichkeit und Empathie machen zu einem wesentlichen Teil eine gute Gesundheitsfürsorge aus.

Und dann kam Covid-19 und Distanz war angesagt. Man glaubt, die nun vollkommen veränderte Situation nicht nur vor Augen zu haben, sondern vor Ort mit dabei zu sein, so eindrucksvoll beschreibt Polly Morland die nunmehr ganz neuen Umstände. Dabei wird die Ärztin auch mit medizinischen Unmöglichkeiten konfrontiert. „Es gibt Fälle, in denen der Patient offenbar ohne Beschwerden mit dem Doktor ein Schwätzchen hält oder in einem Magazin liest und in der nächsten Minute tot umfällt.“

Medizinische Diagnosen gründen nicht selten in auf Erfahrung beruhenden Ahnungen bzw. Vorahnungen. Doch nicht immer hat die Ärztin das richtige Gespür, und natürlich kann es vorkommen, dass sie einmal etwas übersieht. Dann geht sie der Sache nach, doch nicht immer wird sie auch fündig. Es gehört zu den Stärken dieses Buch, dass die Autorin deutlich zu machen versteht, dass Mediziner letztlich auch nur (gelegentlich fehlbare) Menschen sind, ohne Antworten auf die Rätsel des Lebens. Worum es geht: „Mensch zu sein und anderen Menschen mit Wärme und Anstand zu begegnen.“

Ein glückliches Tal ist illustriert mit gut komponierten Fotografien von Richard Baker, bei denen sich zu verweilen lohnt, da sie sehr geeignet sind, die durch den Text hervorgerufenen Eindrücke noch zu vertiefen.

Fazit: Ein wunderbar erzähltes, sehr berührendes Dokument des menschlichen Mit- und Füreinander.

Polly Morland
Ein glückliches Tal
Die Geschichte einer Landärztin
Fischer, Frankfurt am Main 2024

Mittwoch, 4. Dezember 2024

Wer bin ich?

 Wer bin ich?

Meine Beine – das bin nicht ich, die Arme auch nicht, der Kopf auch nicht, die Gefühle auch nicht, sogar die Gedanken nicht. Was ist dieses Ich?

Ich ist ich, das heisst, meine Seele.

Von welcher Seite ich auch zu Gott komme, es ist immer dasselbe: Der Ursprung meines Denkens, meiner Vernunft ist Gott, der Ursprung meiner Liebe ist ebenfalls er, der Ursprung der Materie ist ebenfalls er.

Dasselbe gilt auch für den Begriff Seele. Wenn ich mein Streben nach Wahrheit betrachte, so weiss ich, dass es der unstoffliche Keim in mir ist, meine Seele; wenn ich meine Liebe zum Guten betrachte, so finde ich die Ursache meiner Liebe in der Seele.

Selbst der strengste und konsequenteste Agnostiker erkennt Gott an, ob er will oder nicht. Er kann nicht umhin, anzuerkennen, dass es ein Lebensgesetz gibt, ein Gesetz, dem er sich unterwerfen oder entziehen kann. Dieses Anerkennen eines dem Menschen unzugänglichen, wohlbekannten höheren Lebensgesetzes – das ist Gott oder wenigstens Gottes Offenbarung.

Lew Tolstoi

Sonntag, 1. Dezember 2024

On Dancing

 
Klosters, Switzerland, 29 November 2024

Many years ago, in Berlin, an actress took me to the zoo, where she wanted to show me the tigers. When preparing for a role, I come here, she said, and try to immerse myself into the movements of the tigers for they do effortlessly what I want to learn.

Of this I felt reminded when I recently watched a video of running horses for they did it so elegantly that I thought of dancing. Well, it was more than just a passing thought, it was a sensation that I experienced and that, a few days later, when on a morning walk; I sort of started to copy. 

Needless to say, I wasn't exactly dancing on the street. This isn't what you do in Switzerland. But the images of the running horses made me walk with easiness, and with joy. For some moments, that is.

Mittwoch, 27. November 2024

Der Infantilismus unserer Zeit

Viktor Frankl sagte einmal, es gebe nur zwei Rassen: Die Anständigen und die Unanständigen. Und da die Anständigen in der Minderheit seien, gelte es, diese zu stärken.

Nur Unanständige wählen Unanständige.

Warum führt der zivilisierte Mensch Krieg?, wurde Sigmund Freud nach dem Ersten Weltkrieg gefreut. Weil der Mensch gar nicht zivilisiert sei, gab dieser zur Antwort,

***

Von William Golding, Nobelpreisträger für Literatur 1983, wurde 1979 Das Feuer der Finsternis veröffentlicht, worin er die Zerstörung der Ordnung durch junge Menschen beschreibt, in denen sich der Narzissmus und Infantilismus der Zeit verkörpert.

Heutzutage wird der Narzissmus und Infantilismus auch von alten Männern verkörpert, die nie erwachsen geworden sind, nicht einmal ansatzweise.

We want the world and we want it now gehörte zu den Leitsprüchen meiner Jugend. Diese Mentalität, die ich damals nichts als Mehrheitseinstellung wahrgenommen hatte, hat sich eigenartigerweise durchgesetzt, denn heute wollen viele Menschen alles sofort, weshalb denn auch fast food so erfolgreich ist. Dass es keine gute Idee ist, jedem Impuls unverzüglich nachzugeben, ist offenbar vielen abhanden gekommen. Stattdessen: Ich will, ich will, ich will ... und zwar jetzt sofort.

***

Entscheidungen zu treffen setzt entscheidungsfähige Menschen voraus, die willens und imstande sind, sich sachlich zu informieren. Wer ausschliesslich seinen Gefühlen folgt, ist nicht nur ein Trottel (Frauen und Nicht-Binäre eingeschlossen), sondern schlicht nicht zivilisiert, und das meint, nicht von der Vernunft geleitet.

Zivilisiert sein ist keine Frage der Intelligenz, sondern eine Frage der Haltung. Zivilisiert sein meint anständig zu sein.

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Dass der Mensch von der Vernunft geleitet sei, ist ein Irrtum, Das zeigt sich besonders bei Wahlen, wo man in der Regel die wählt, mit denen man sich am besten identifizieren kann. Oder die man bewundert. Leider gehört die Bewunderung ganz vieler den windigen und rücksichtslosen Gangstern (man denke an die Popularität von Mafia-Filmen), die es mit Tricks und Schweinereien schaffen, erfolgreich zu sein. Der ehrliche Arbeiter geniesst hingegen kein hohes Ansehen, bestenfalls läuft er unter der Kategorie lieb, aber eben blöd. Auf dieser Mentalität gründet der Infantilismus unserer Zeit.

Sonntag, 24. November 2024

Freeing oneself up

Politics ist the art of preventing people 
from taking care of what concerns them.
Paul Valéry

 For many, many years, my focus on the world was directed by the media – for the media fascinated me. In my younger years, hardly a day went by without newspapers and magazines, later came televison (from Good Morning Britain to Channel 4 news to the various talk shows); the time I spent reading the news online during the last couple of years does border on addiction. From The Guardian to The New York Times, from the Tagesanzeiger to Der Spiegel – I simply could not get enough.

Although I knew enough about the mechanics of the media to not fully trust them, my worldview nevertheless depended largely on what I read. My focus was mostly on politics and on culture. And, while I often felt appalled and bored by what l learned (it essentially all boiled down to vanity), I did not seem to be able to let go of something that was unduly consuming my time.

And then, November 6, 2024 arrived: the morning news predicted that the American election would be won by a man who was not only utterly unfit to run a grocery store but whose character was a total disgrace, an insult to any decent being. My faith in humanity not only took a beating, it was gone.

The public performances of this old man were a lesson in savegeness for which the media provided a platform. Sure, they checked his statements, criticised him, and made it clear how dangerous he was. However, their reasoned information had no tangible effect, yet their providing a daily platform for this man had – for the media cannot tell us what to think, they can however direct our attention. I can't think of anyone who was more showered with attention than this moron. He was given exactly what he needed – and it payed off.

On November 6, 2024, my attention shifted. Since then my daily TV-news ritual (BBC, CNN, Sky News) ceased to exist, likewise my online news intake (from The Independent to The Daily Telegraph to Watson) was gone. Skimming what I'm told are news is now enough. To my suprise, no conscious decision was needed, it happened automatically. 

Little by little I started to understand (understanding is a feeling) that the responsibilty for where to direct my attention was with me. Also, contrary to what I had been taught (and believed), there was no need whatsoever to be politically informed (I cannot recall a single political event that has affected my personal life). To be free to choose what to focus on however isn't easy if you're as media-conditioned as I am. Nowadays, I'm in the process of trying to figure out what to concentrate on. Richard Rorty once indicated the direction: "... the emphasis falls less on knowing than on imagining, more on freeing oneself up than on getting something right."

Santa Cruz do Sul, 22 December 2022

Mittwoch, 20. November 2024

Verhaltenssüchte personenzentriert verstehen und behandeln

Was beim Einen funktioniert, kann bei der Anderen fehlschlagen. Was dem einen guttut, führt bei der Anderen ins Desaster. Das wissen wir. Und so gehen wir-in der Folge davon aus, dass das eigene Problem ein ganz spezielles sei und stellen uns vor, dass es eine auf uns abgestimmte Therapie geben müsste, die den spezifischen Eigenheiten unserer Person Rechnung trägt. Ob der personzentrierte Ansatz genau dies meint, weiss ich nicht, denn er wird in diesem Buch nicht erklärt, vielleicht habe ich es aber auch überlesen. Im Internet erfuhr ich  dann, dass der personzentrierte Ansatz den Menschen in den Mittelpunkt stelle und auf seine Fähigkeiten vertraue, sich selbst zu entwickeln. Mir gefällt dieser Ansatz, der meinem Ego schmeichelt. Für mich (ich habe eine Suchtpersönlichkeit auf meinen Lebensweg mitbekommen – Nein, nicht von meinen Eltern) ist das der falsche Ansatz, das weiss ich bereits nach einem Blick ins Inhaltsverzeichnis, wo Themen wie "Sucht und Migration", "Sucht und Traumatisierung" wie "Sucht und Männlichkeit" aufgeführt sind, denn mein Ego sollte nicht gehätschelt werden, ganz im Gegenteil. Klar doch, für andere mag das funktionieren.

Was meines Erachtens für dieses Buch spricht, ist sein Verständnis von Sucht, das erfreulicherweise nicht auf Substanzabhängigkeit beschränkt ist, sondern Glückspielsucht, Gaming, Streaming, Surfen im Internet. Sexsucht und Kaufsucht als Süchte begreift. Ich selber gehe noch viel weiter: Für mich ist Sucht dadurch definiert, dass man nicht fühlen will, was man fühlt. Und das meint: Man kann nicht bei sich verweilen, rennt dauernd davon. Zum Teil ist das biologisch bedingt (unser Gehirn ist antizipatorisch angelegt); zum Teil leben wir in einer Suchtgesellschaft, in der nichts jemals genug ist, sondern immer mehr und anderes gewollt werden soll. So ist der Kapitalismus.

Der Autor dieses Werkes leitet die Ambulante Suchthilfe Bethel in Bielefeld und erläutert sein Vorgehen an vielen Beispielen aus der Praxis. Diese Fallstudien sind höchst aufschlussreich. Etwa über die Therapie von Menschen mit Migrationshintergrund, die von ihren Familien häufig mit folgenden Aussagen konfrontiert werden: Hör doch einfach auf. Verliere niemals dein Gesicht. Bring keine Schande nach Hause. Probleme sind privat (und werden in der Familie gelöst). Erfülle die Rolle als Mann. Denk an Stolz und Ehre.

Nun ja, Solches hören auch viele Menschen ohne Migrationshintergrund. So könnten alle diese Aussagen auch locker von Asiaten (von China über Thailand bis Indonesien; ich habe selber einige Jahre in Asien zugebracht) stammen. Zudem: Dass muslimische Migranten die Glücksspielsucht häufig nicht als Krankheit akzeptieren und vom Therapeuten erwarten, dass er ein Rezept dagegen hat, ist auch in Europa und Amerika eine gängige Auffassung. Anstatt den Unterschieden (Frauen, Männer, Kultur, soziale Stellung etc.) Rechnung zu tragen, scheint mir sinnvoller, Gemeinsamkeiten zu betonen, denn so speziell wie wir meinen, sind wir alle nicht. 

Der personzentrierte Ansatz geht jedoch einen anderen Weg, bei dem der Therapeut einen behutsamen, verständnisvollen Ansatz pflegt. Das zeigt sich sehr schön in den Gesprächen in diesem Buch, die überaus aufschlussreich sind. Ja, so recht eigentlich lohnt sich die Lektüre allein dieser Gespräche wegen, weil sich darin zeigt, wie der Therapeut denkt. Und auch: Wovon er ausgeht: Dass die Erfahrungen der ersten Lebensjahre prägend sind, dass Schuld und Schamgefühle bearbeitet gehören, dass der Veränderungswunsch gestärkt werden soll usw.  So ist das gängige Denken der heutigen Zeit.

Der Therapeut hört zu, bestätigt, fasst zusammen, wiederholt in seinen Worten, was der Patient/Klient sagt. Dass der Patient/Klient so einsichtsvoll rüberkommt, hat natürlich wesentlich damit zu tun, dass da eine Grundbereitschaft zur Veränderung da zu sein scheint. Vieles an dem, was der Therapeut beiträgt, mag einem banal vorkommen. Das ist es auch – und liegt daran, dass es das auch ist. Dass eine Therapie gelingen kann, liegt nicht am Fachwissen des Therapeuten, sondern an seiner Fähigkeit, präsent zu sein, als ruhiger, unaufgeregter, verständnisvoller Pol.

Der Therapeut in diesen Gesprächen ist ausgesprochen einfühlsam, kontrolliert und sehr rational. Erstaunlich finde ich, wie rational zugänglich und einsichtsvoll sich die Patienten/Klienten zeigen. Zugegeben: Mich verblüfft die Vorstellung generell, dass Einsichten zu Verhaltensänderungen führen können, doch die angeführten Beispiele sind allesamt Erfolgsgeschichten

Frank Gauls
Verhaltenssüchte personzentriert verstehen und behandeln
Ernst Reinhardt Verlag, München 2024

Mittwoch, 13. November 2024

Glücklich ohne Alkohol

"Ein Guide für Frauen" heisst es auf dem Umschlag der deutschen Aufgabe, bei der englischen Ausgabe, die übrigens Not Drinking Tonight heisst, fehlt der Hinweis. Mit anderen Worten: Der Titel der deutschen Ausgabe ist irreführend und allein dem Marketing geschuldet, denn ob ein Mann oder eine Frau süchtig ist, ist der Sucht egal – sie macht solche Unterscheidungen nicht.

Im Feld der Sucht (ich unterscheide nicht zwischen Alkoholismus, Drogensucht, Gaming, oder Handysucht) gibt es viele, ganz unterschiedliche Ansätze. Was beim einen wirkt, hat bei der anderen keine Chance. Und so ist natürlich auch durchaus möglich, dass bei einigen Frauen eine Therapeutin mehr bewirken kann als ein Therapeut. Das Gegenteil stimmt aber eben auch.

Auch mit den Anonymen Alkoholikern hat Amanda E. White Erfahrungen gemacht. "Diese Gruppe wurde zu meinem Unterstützungssystem, meinem Rettungsanker und machte mein Sozialleben aus. Einige meiner besten Freunde habe ich auf diesem Treffen kennengelernt."  Sie findet einen Grossteil des Programms moralgetränkt, zudem könne die Starrheit des Programms Scham hervorrufen. Ich teile diese Auffassung nicht, finde im Gegenteil, dass Moral und Scham heutzutage leider fast ausschliesslich negativ besetzt oder kein Thema sind, weshalb denn auch gerade ein Mann ohne jegliche Moral zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde.

"Für mich besteht Schadensbegrenzung an erster Stelle. Es gibt so viele Menschen, die es nicht geschafft haben, abstinent zu werden, und sich dafür zutiefst schämten. In diesem Falle empfehle ich Ihnen, sich einen zugelassenen Therapeuten zu suchen." Die Autorin klingt, als ob Scham zu empfinden, ganz furchtbar sei. Sicher, das ist möglich, doch Scham kann auch ein exzellenter Motivator sein. Ob da zugelassene (d.h. diejenigen, die gemäss den gängigen Schulmodellen praktizieren) Therapeuten helfen können? Falls ja, dann meist trotz der standardisierten Ausbildung.

Amanda E. White ist lizenzierte Therapeutin, kennt Alkoholabhängigkeit aus eigener Erfahrung und will mit diesem Buch umfassend über Alkohol aufklären. Sie tut dies unter anderem anhand von Gesprächen mit einer 24jährigen Peruanerin, einer 21jährigen Weissen und einer 34jährigen Schwarzen. Vor allem kennzeichnend für diesen Ratgeber sind die vielen praktischen Anleitungen

"Im ersten Teil, Warum Sie trinken, erfahren Sie mehr über Ihre Psyche und darüber, wie Scham und Traumata mit Ihrem Alkoholkonsum verwoben sind." Nun ja, kein Mensch weiss, weshalb jemand wirklich trinkt. Dazu kommt, dass unsere Erklärungsmodelle mehr über unser Denken aussagen als darüber, was sie zu erklären glauben.

Zu den Erklärungsmodellen von Amanda E. White gehört die Evolution. Fressen oder gefressen werden, so funktioniert Evolution. Überlebt haben dabei die, so die Autorin, die vorsichtig gewesen sind. Unsere Vorfahren lebten in Kleingruppen, in denen es wichtig war, was andere über einen denken. Gut möglich, doch woher wollen wir das wissen? "Allerdings  interessieren uns gemäss unserer evolutionären Entwicklung nur die Meinung von Menschen, die uns sehr gut kennen, und das sind maximal 150 Personen." 150 Personen, die uns sehr gut kennen? Das hat offenbar ein Professor aus Oxford herausgefunden. Nun ja, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selber 150 Personen auch nur entfernt kenne ....

Die Ausführungen zur Scham (unter der die Autorin sehr gelitten hat) und zum Trauma sind nachvollziehbar, doch fehlt es an der Evidenz, denn wie alle Gefühlszustände sind sie nicht wirklich fassbar. Es handelt sich um Zuschreibungen. Auch die Vorstellung, man müsse über Verstecktes sprechen können, ist nicht viel mehr als ein Glaube. Wer daran glaubt, dem kann es helfen. Darüber hinaus ist das Darüber-Sprechen das Business-Modell der Therapeuten. Kein Wunder blüht in Asien das Therapie-Geschäft nicht, denn Asiaten verstehen nicht, weshalb man über alles sprechen sollte.

Fazit: Eine sachliche, gut aufgebaute Zusammenfassung der derzeit gängigen Überzeugungen in Sachen Umgang mit Alkohol.

Amanda E. White
Glücklich ohne Alkohol
Ein Guide für Frauen
Knaur Menssana, München 2024

Mittwoch, 6. November 2024

Von der Hoffnung, meiner Feindin

 Ich habe nur einen Feind: die Hoffnung.

Ständig sagt sie mir, alles werde nicht nur gut, sondern noch besser werden; immerzu treibt sie mich an, nie lässt sie mich sein, wo und wie ich bin.

Was wäre der Mensch ohne Hoffnung? habe ich einmal gelesen. Nicht nur Hemingway hat sich dies gefragt, doch ihm, als Alkoholiker (wenn, was wir über ihn gelesen, der Wahrheit entspricht), war die Hoffnung wohl überlebensnotwendiger als anderen, die vielleicht etwas weniger leiden und deshalb dieser tröstenden Vorstellung, dass alles, in der Zukunft, der fernen, eigentlich immer nur besser werden kann, nicht so stark bedürfen.

Wer in der Gegenwart lebt, bedarf der Hoffnung nicht. Vorausgesetzt natürlich, er (oder sie – die künftig immer mit gemeint werden soll) lebt gerne in dieser Gegenwart. Ein solcher muss nicht vertröstet werden, ein solcher schätzt, was er hat.

***

Der Mensch ist grundsätzlich unzufrieden angelegt, und deswegen ein sehnsüchtiges Wesen. Um mit Wilhelm Busch zu reden: was er hat, das will er nicht, und was er will, das hat er nicht. Und deshalb braucht er die Hoffnung, dass er eines (meist fernen) Tages (vielleicht aber auch erst im Himmel), haben wird, was er jetzt schon will (und dann möglicherweise nicht mehr haben möchte – doch das wäre eine andere Geschichte).

Ständig also hofft der Mensch auf bessere Zeiten. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als warten. Dem Spanisch sprechenden Latino ist das eh dasselbe, für ihn bedeuten sowohl hoffen als auch warten esperar, was uns zum Schluss zwingt, dass wenn der Latino hofft, er zur gleichen Zeit auch wartet, und wenn er wartet, er ganz offenbar sogleich hofft. So richtig unmittelbar eingeleuchtet hat mir das, als ich letzthin auf den Bus wartete und dabei hoffte, dass er auch käme.

Für die Latinos ist also der Fall gelöst: sie haben absolut Null-Chance, jemals in der Gegenwart leben zu können. Und scheinen auch gar kein Problem damit zu haben, man denke nur an ihr andauerndes mañana. Oder meint das vielleicht das Gegenteil? Dass also das Heute das Wichtige und alles andere bis morgen warten könne?

Wir andern aber, die wir so gewiss sind, dass wir im Hier und Jetzt leben sollten (möglichst entspannt natürlich), wir haben ein Problem damit, dass wir, so sehr wir es auch wollen, es einfach nicht können.

Wo ein Wille, da kein Weg, sagt uns dazu der Psychologe von heute, und wir glauben zu ahnen, dass da was dran sein könnte, nur haben wir nicht den leisesten Schimmer, wie wir das jetzt praktisch umsetzen sollten. Im Gegensatz zum Psychologen – der fordert für solche Weisheiten Honorar.

Wir trotten also weiterhin ratlos durch die Gegend, wobei wir von Zeit zu Zeit auf Leute treffen, die behaupten, im Grunde sei alles ganz einfach, man müsse nur in der Gegenwart leben. Es sind dies in der Regel Menschen, die den Anblick in Blüte stehender Blumen unweigerlich mit Begeisterungsschreien kommentieren. Ich gestehe, mir ist ein solches Naturell nicht gegeben, und ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich wünschte, mir wäre ein solches mitgegeben worden. Und wenn ich schon beim Gestehen bin: mir ist von den mir bekannten drei Zeitzonen – der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft – die Gegenwart am wenigsten lieb. Nicht dass ich das gut finde, doch es ist so.

In einer Kultur gross geworden, die dem Sollen, dem Müssen, eine Prominenz zuweist, die einen in Null-Komma-Nix die Flucht in den Buddhismus antreten lässt, reagiere ich auf Aufforderungen, die mit „Du musst nur“ anfangen, automatisch mit Verweigerung und fühle mich dann fast augenblicklich auf eine mir nicht so recht erklärliche Art schuldig.

Doch so eine Sollens-Kultur bringt es eben auch mit sich, dass man immer weiss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Und darauf hofft, wenn man denn das Seinige zu tun bereit ist, dass die Dinge eines Tages so sein könnten, wie sie eigentlich sein sollten.


Sisyphus scheint davon nicht sonderlich überzeugt gewesen zu sein. Der konzentrierte sich darauf, den Stein den Hügel hinauf zu rollen. Und tat das und nur das und sonst gar nichts. Camus soll gesagt haben, man müsse sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen. Obwohl mir der Gedanke sympathisch ist, habe ich mir bisher Fliessbandarbeiter nicht als fröhliche Menschen vorgestellt, aber ich bin ja auch kein anerkannter Philosoph.

Lasst alle Hoffnung fahren! hatte ich ja eigentlich immer als Drohung interpretiert. Wenn dem nun aber gar nicht so wäre, wenn das in Wirklichkeit eine Aufforderung wäre, sich der Realität, also dem, was ist, zu stellen? Und einfach zu tun, was zu tun ist, und sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen?

Ich weiss nicht so recht. Es klingt mir doch ein bisserl arg nach „glücklich, wer nicht denkt“, und dazu mag ich mich eigentlich nicht äussern, schon deshalb nicht, weil es, das weiss jeder, eindeutig was für sich hat, doch eben genauso eindeutig ziemlicher Humbug ist. Schliesslich ist einer, der denkt, deswegen nicht schon gleich unglücklich.

Und überhaupt, so sagt man, zeichne das Denken den Menschen doch aus.

***

Es gehe darum, den Wald voller Affen im Kopf zur Ruhe zu bringen, sagt der buddhistische Mönch im Hauptsitz des „World Fellowship of Buddhists“ in Bangkok. Wir sollten den Atem beobachten, ihm einfach folgen, konstatieren, was passiere. Wenn Gedanken uns ablenkten, sie weder verscheuchen, noch ihnen nachgeben, sondern sich sagen, aha, ein Gedanke, und dann wieder zum Atem zurückkehren.

Ein Mann (der sei früher Professor in Berkeley gewesen, raunt mir mein Nachbar zu) meldet sich: er habe das schon oft geübt, doch nach zwei, drei Minuten sei er regelmässig weg von seinem Atem und voll in Gedanken.
Der Mönch lacht. Das sei normal. Er solle einfach weiter üben.

Mir geht es so wie diesem Mann: ganz schnell bin ich wieder bei meinen Gedanken (und sie bei mir). Das ist vertrautes Territorium. Und überhaupt finde ich meinen Atem zu beobachten ganz und gar nicht attraktiv.

Wir üben jetzt eine halbe Stunde lang Meditation im Gehen, sagt der Mönch. Stehen Sie gerade, fassen Sie den Punkt am Ende der Halle, wo Sie hinwollen, ins Auge. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihre Füsse: wie sie auf den Boden treffen, abrollen, sich heben.
Diesmal geht’s, diesmal spüre ich das Heben, Senken, Auftreffen, Abrollen der Füsse, die Vorwärtsbewegung des Körpers, und ohne dass mich Gedanken sofort wieder wegholen. Diesmal brauche ich nicht zu hoffen, diesmal bin ich ganz einfach – und tue, was ich tue.

Mittwoch, 30. Oktober 2024

It is by self-forgetting ... that one finds

"Lord make me a channel of Thy Peace, That where there is hatred ... I may bring love, That where there is wrong ... I may bring the spirit of forgiveness, That where there is discord ... I may bring harmony, That where there is error ... I may bring truth, That where there is doubt ... I may bring faith, That where there is despair ... I may bring hope, That where there are shadows ... I may bring light, That where there is sadness ... I may bring joy.

Lord, grant that I may seek rather to comfort ... than to be comforted, To understand ... .than to be understood, To love ... than to be loved.

For ... it is by self-forgetting ... that one finds, It is by forgiving ... that one is forgiven, It is by dying ... that one awakens to Eternal Life."

Saint Francis of Assisi

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Never enough

 One of the phenomena that doesn't cease to baffle me is the desire to always want more, that nothing does seem to be enough, never. The point is: I simply do not get it. Differently put: I know it but knowledge or mental insight does not help for it is (go figure!) not enough. What is needed in order to understand is action, to act my way into a new way of thinking.

For instance, I cannot get enough of books that promise me a good time as well as insights. Despite what public relations departments of publishing companies and reviews in renowned media suggest. I'm regularly disappointed for most new releases rarely offer anything new. In fact, most of non-fiction works start with the ancient Greeks and pretend that, despite lots of evidence to the contrary, we can learn from the past.

Most recently, I started to leaf through unread books that sit quite comfortably on my shelves. And, to my surprise, I've discovered that I had missed out on works that did not only intellegently entertain me but also provided me with useful insights. It couldn't have been more obvious that I already had what I thought that I needed to have. 

How come then that I still couldn't control my compulsion for new books? Because my mind is wired in such a way that it always looks ahead. Well, can I not change that? Sure, by acting differently. For what I truly understand lies in my actions. How I really (albeit unconsciously) think is revealed by my actions.

Mittwoch, 16. Oktober 2024

Mein weiser Narr

Im Februar 1986 erstand ich mir (zu der Zeit schrieb ich immer in die Bücher rein, wann ich sie gekauft hatte) Jacqueline C. Lairs und Walther H. Lechlers "Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll einer Heilung". Lair, die in Bozeman, Montana, lebt, hatte Alkoholprobleme und war medikamentenabhängig und suchte Hilfe beim Mediziner Walther H. Lechler in Bad Herrenalb im Schwarzwald. "Ich kann einfach keinen Grund sehen, weshalb ich lebe", schreibt sie und lernt bei Lechler, "dass man alles über Bord werfen muss, um das zu finden, was man braucht." Es ist ein Buch, das zu meinen intensivsten Leseerfahrungen überhaupt gehört.

Im Santiago Verlag sind nun unter dem Titel "Mein weiser Narr" Lairs "Nachgedanken an eine Therapie" erschienen. Es ist ein gelungener Text, weil er einen zum Nachdenken über Dinge bringt, die man in der Regel einfach zur Seite schiebt. Über Wut, zum Beispiel, die es, so der weise Narr Lechler, zu akzeptieren gilt: "... nimm einfach diese gewaltige Energie wahr, die sie auslöst ... man muss lernen, diese Energie und die innere Unruhe, die sie mit sich bringt, auf konstruktive Art und Weise auszudrücken, das ist alles."

Das Aussergewöhnliche an diesem Buch liegt darin, dass man erfährt, wie Lechler zu seinen Einsichten und Überzeugungen gekommen ist: er erzählt von Privatem und Schwierigem und lässt damit den Leser an seinem Leben teilhaben. "Ich war wütend auf das Leben, auf viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend, weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war ... Auch heutzutage bin ich immer noch auf mich selbst wütend, wenn ich an alle die Versuche denke, meine innere Wut zu verleugnen und zu verdrängen, nur weil ich soviel Angst vor dieser Wut hatte ...".
Schon mal von einem Arzt oder Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken, dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht nur aus Büchern. Das meint nicht, dass man Alkoholiker sein muss, um Alkoholikern helfen zu können (Veterinäre wären sonst arbeitslos), das meint, dass Klienten/Patienten spüren müssen, dass emotionale Identifikation (einer der Schlüssel für eine Genesung) möglich ist.

"Den Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt sie (Jaqueline Lair) für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch", liest man auf dem Schutzumschlag. In Gesprächen mit Lechler erfährt sie dann, dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht: "... mehr als alles andere habe ich gelernt, intellektuellem Wissen, das gleichzeitig gefühllos ist, zu misstrauen", denn "all' dieses Verstehen und all' dieses Wissen haben mir nie meinen eigenen emotionellen Schmerz genommen. Die einzige Hilfe für mich war, diese verdammte, negative Art und Weise zu verändern, wie ich über mich selbst dachte. Und selbst das war nicht die ganz grosse Hilfe, wenn ich ehrlich sein soll. Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen, die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren. Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag ein Sommererlebnis zu machen - und zulassen und aushalten lernen, dass das manchmal wehtut."
Ich finde dies eine ganz wunderbare und hilfreiche Maxime, nicht nur für Alkoholiker, Drogenabhängie oder Depressive, sondern so recht eigentlich für alle.

Akzeptieren ist das Eine, Handeln das Andere und im Gegensatz zu den Therapien, die auf eine Verhaltensänderung durch Einsicht hoffen, schlägt Lechler den klassischen 12-Schritte-Grundsatz vor, dass richtiges Handeln zum richtigen Denken führen wird: "Du musst lernen, 'so zu tun als ob' - so zu tun, als ob du bereits wüsstest, wie man ein liebevolles Leben lebt, selbst, wenn du noch gar nicht daran glaubst. Denn irgendwann wird dieses Verhalten ein Teil von dir und dann kannst du wieder in vollem Umfang zu deinem Nutzen an der menschlichen Gemeinschaft teilhaben." Auch wenn ich vorbehaltslos zustimme, sprachlich (es handelt sich um eine Übersetzung) ist das schon ziemlich hölzern.

Was es auch noch braucht, um zu gesunden? Den Mut aufzubringen, gegen unsere Hauptsorge "Was sollen denn die Leute denken?" anzugehen. In Lechlers Worten: "Diese Spielregel hat mehr Menschen in einen Tiefschlaf versetzt und mehr Beziehungen ruiniert, als jede andere, die ich kenne."

Übrigens: "Von mir aus nennt es Wahnsinn" ist ebenfalls beim Santiago Verlag erhältlich.

Santiago Verlag
Joachim Duderstadt e.K.
Asperheide 88
D-47574 Goch
http://santiagoverlag.de

Sonntag, 13. Oktober 2024

Das Jetzt ist nicht zu fassen

Unterwegs in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés, Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen, ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht, handeln die hier vorliegenden Texte.

Diese Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter, Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang, Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.

Unterwegssein ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine Gewohnheit zu denken.

*Das Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten, so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.


Hans Durrer
Das Jetzt ist nicht zu fasen
Notizen von Unterwegs
neobooks, Berlin 2024

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Das Licht der letzten Tage

Alexander Batthyány leitet das Viktor-Frankl-Forschungsinstitut für theoretische Psychologie und personalistische Studien in Budapest sowie das Viktor-Frankl-Institut in Wien. Er forscht über menschliche Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Dabei hat er auch festgestellt, dass die gesammelten Daten nicht nur ein unvollständiges Bild des Geschehens liefern, sondern für sich allein genommen auch zutiefst unbefriedigend sind. Die Geschichten, die ihm Angehörige Sterbender erzählen, sind weit aufschlussreicher. Und so lernt er, was jeder gute Forscher lernen muss und Viktor Frankl so formuliert hat: Er habe die Lehren seiner Lehrer (Sigmund Freud und Alfred Adler) vergessen und stattdessen seine Patienten als seine Lehrer erkennen müssen.

Der Autor hat Fragebogen erstellt, diese ausgewertet, Forschungsergebnisse von Kollegen studiert, vor allem jedoch hat er sich mit den Berichten von Angehörigen Sterbender auseinandergesetzt. Kurz und gut: Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Dabei ist ihm aufgegangen, "dass wir unsere gewohnten Anschauungen des unter allen Umständen und Bedingungen von intakter Hirnfunktion und -tätigkeit abhängigen Ichs infrage stellen müssen, sofern unsere vorläufigen Ergebnisse und Analysen halten." Vorsichtiger kann man sich kaum ausdrücken.

Der Untertitel, Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens, fasst zusammen. wovon dieses Buch handelt. Die Berichte von Familienmitgliedern darüber, was geschah, als die Patienten im Sterben lagen, sind faszinierend. So erfährt man etwa, dass Menschen, die an fortgeschrittener Altersdemenz leiden, unmittelbar vor dem Tod Momente geistiger Klarheit erlebten. "In gewisser Weise scheinen solche Fälle also fast allem zu widersprechen, was wir über die Abhängigkeit des Ichs bzw. der Geistes von intakten Hirnfunktionen zu wissen glauben: Sie scheinen die materialistische Arbeitshypothese grundlegend in Frage zu stellen."

Das Phänomen der terminalen Luzidität lässt sich weder medizinisch noch wissenschaftlich  erklären. Nur eben: Es existiert. es kommt zwar nicht besonders oft vor (soweit man das beobachten kann), doch es kommt vor. Was den Schluss nahelegt, dass unsere Erklärungsmodelle der Revision bedürfen. Und dies stösst natürlich auf Widerstand, denn von etwas abzulassen, das sich als höchst tauglich erwiesen hat, ist dem Menschen nicht wirklich gegeben.

Viktor Frankl und der australische Neurophysiologe John C. Eccles, der zu den Pionieren der Hirnforschung gehört, glauben "an das unzerstörbare Wesen der 'inneren' Person jedes vordergründig auch noch so schwer eingeschränkten Patienten als humane Tatsache und als moralische Leitlinie medizinischen und therapeutischen Handelns." Ein sinnvoller und pragmatischer Ansatz, doch letztlich eben ein Glaube, "der sich einer weiteren Überprüfung zu entziehen scheint."

Was mich besonders für dieses Buch einnimmt, ist das Grundsätzliche, das es anspricht. So stellt der Autor etwa fest, dass wir heutzutage weit seltener über Traurigkeit reden als die Generation vor uns. "Stattdessen sprechen wir von Depression." Anders gesagt: Wir glauben mittels "neutraler" Wortwahl die Welt verstehen zu können, sind dermassen materialistisch orientiert, dass wir das Unerklärliche, das so recht eigentlich magisch ist, nicht mehr sehen können.

So meint der estnisch-russische Philosoph Valentin Tomberg: "Der Materialismus tut in Bezug auf die Welt etwas, was in Bezug auf ein Kunstwerk absurd wäre, nämlich es anhand der qualitativen   und quantitativen  Eigenschaften der Materialien zu erklären, aus denen es besteht, und nicht anhand des Stils, des Bedeutungszusammenhangs und der Intention, dies aus dem Kunstwerk spricht. Wäre es nicht absurd, zum Beispiel ein Gedicht von Victor Hugo verstehen zu wollen, indem man die Tinte, mit der es geschrieben wurde, und das Papier, auf dem es steht, chemisch analysiert oder indem man die Anzahl der Wörter und Buchstaben zählt?"

Alexander Batthyány ist es darum zu tun, die in Verruf geratene Hoffnung zu rehabilitieren, denn er versteht die Hoffnung als uns anvertraut. Zudem glaubt er, "dass Hoffnung und unsere Ideale nicht aus einem Mangel heraus entstehen, sondern grundlegend im Menschen angelegt sind: Sie sind unser grösstes Gut. Der wirkliche Mangel zeigt sich vielmehr in der Abwendung von Hoffnung und Sinn – es wäre die Abkehr von einem wesentlichen Merkmal unseres Selbst- und Weiterlebens."

Letztlich geht es in diesem Buch um die Frage, ob mit dem Tod alles zu Ende sein wird. Alexander Batthyány glaubt das nicht und sieht seine Hoffnung auf ein solides Fundament gegründet, das er in diesem Werk vorlegt. Treffender als John C. Eccles kann man es meines Erachtens nicht sagen: "Ich denke, wir müssen einfach anerkennen, dass unserer Existenz ein Geheimnis innewohnt, das jede biologische oder materialistische Logik übersteigt."

Alexander Batthyány
Das Licht der letzten Tage
Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens
O.W. Barth, München 2024

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Moments in time



Bad Ragaz, 19 September 2024

Pictures, says Blazenka, who took these pics,
are defined by their background. Rarely have I seen
this more convincingly demonstrated than on these photos.
that show me nine days short of my 71 birthday.

Mittwoch, 25. September 2024

Tennis Lessons

I was beginning to learn what all good pros and students of tennis must learn: 
that images are better than words, showing better than telling, too much instruction worse than none, and that conscious trying often produces negative results.
 
W. Timothy Gallwey: The Inner Game of Tennis

Sonntag, 22. September 2024

Das Leben ist der Ernstfall

Das Leben ist der Ernstfall, so der Titel des Buches, in dem Jürgen Leinemann seinen Umgang mit der Krebskrankheit schildert, von der er im Alter von 71 Jahren erfahren hatte. Jürgen Leinemann war Journalist, ein herausragender, der vor vielen Jahren seine Alkoholsucht erfolgreich zum Stillstand brachte und nicht wenige Politiker als Süchtige wahrnahm.

Sich einer Sucht zu stellen bedeutet letztlich, sich mit Grundfragen der menschlichen Existenz auseinanderzusetzen. Wie eine Sucht so ist auch der Krebs eine tödliche Krankheit. Jürgen Leinemann hat etwas Wesentliches verstanden, als er sich für Das Leben ist der Ernstfall als Buchtitel entschied. Denn dies wirklich zu begreifen bedeutet, anders als gewohnt zu leben. Wacher, verletzlicher, die Ungewissheit aushaltend.

Sargans, am 22. September 2024

Es gehört zu den eigenartigsten Dingen im Leben, dass wir, obwohl wir wissen (könnten), dass wir so recht eigentlich keine Zeit haben, wir nichtsdestotrotz glauben, wir hätten unendlich viel Zeit. Nur eben (und auch dies könnten wir wissen): Was gerade geschieht, kommt nicht zurück, ist bereits dann vorbei, wenn wir daran denken.

Doch das wollen wir nicht wahrhaben, hoffen gegen alle Vernunft, dass dem nicht so sei. Ich weiss nicht, ob man ohne Hoffnung sein könnte, doch ich weiss, dass mich die Hoffnung allzu oft davon abhält, das Leben als Ernstfall zu begreifen.

Mittwoch, 18. September 2024

Native American Ten Commandments

1.  The Earth is our Mother; care for Her
2.  Honor all your relations.
3.  Open your heart and soul to the Great Spirit.
4.  All life is sacred; treat all beings with respect.
5.  Take from the Earth what is needed and nothing more.
6.  Do what needs to be done for the good of all.
7.  Give constant thanks to the Great Spirit for each day.
8.  Speak the truth but only for the good in others.
9.  Follow the rhythms of Nature.
10. Enjoy life's journey; but leave no tracks.

Mittwoch, 11. September 2024

Let it go

Let go of the ways you thought life would unfold, the holding of plans or dreams or expectations – Let it all go. Save your strength to swim with the tide.

The choice to fight what is here before you now will only result in struggle, fear, and desperate attempts to flee from the very energy you long for.

Let go. Let it all go and flow with the grace that washes through your days whether you received it gently or with all your quills raised to defend against invaders.

Take this on faith; the mind may never find the explanations that it seeks, but you will move forward nonetheless.

Let go, and the wave’s crest will carry you to unknown shores, beyond your wildest dreams or destinations.

Let it all go and find the place of rest and peace, and certain transformation.

Danna Faulds

Sonntag, 8. September 2024

A World of Wonders

Santa Cruz do Sul, 23 February 2021

Shortly after waking up, the sudden realisation: How strange that things are working the way they do! I then stayed with that thought, let it sink in. Invariably, quite some other thoughts were creeping in – another very strange thing! – and among them this: How well designed this all is. I'm really glad I'm not in charge of, say, my digestion; I wouldn't have the foggiest idea how to go about it.

The other day, I came across my ophtalmologist who asked me how I was. To be honest, I said, I do not know. My moods change so quickly – one moment I feel happy, the next depressed, and most moments I do not realise that I feel anything at all – , I cannot really tell. Well, she said, if you're reasonably healthy, then I think you're doing fine. 

Learning to appreciate what we have, to be grateful for it, this I believe is what we are here for. To identify what I could be grateful for – again: how strange that this is possible at all! – , helps me to discover that I'm blessed. In fact, we all are.

Needless to say, I do not often feel that way. So if I wish to feel that way, I need to make an effort and remind myself that the world is filled with wonders I hardly ever think about – that I can see, feel, breathe, walk and talk, to name just a few. And that, often, does the trick. For a moment, that is. 

Freitag, 6. September 2024

Zwischen den Welten

"Ich sehe selbst jetzt, mit Anfang dreissig, noch ziemlich jung aus", lese ich in der Einleitung und in mir denkt es, was soll mir eine junge Frau, die seit ein paar Jahren in der Palliativpflege arbeitet, schon über Leben und Tod erzählen können. Nun ja, Thomas Mann war 26, als die Buddenbrooks, und Norman Mailer 25, als Die Nackten und die Toten erschienen. Mit anderen Worten: Das Alter sollte kein Kriterium für die Beurteilung eines Textes sein.

Der erste Eindruck: Frisch, sympathisch, ehrlich und unprätentiös. Und so geht es auch weiter. Mit anderen Worten: Zwischen den Welten ist ein Buch, das ich gerne lese. Hadley Vlahos schreibt anschaulich von ihrem Leben und von ihrem Beruf, berichtet von ihren Unsicherheiten und von dem, was ihr auffällt, sie berührt und ihr Herz erreicht.

Zwischen den Welten ("The In-Between" im englischen Original) ist ein treffender Titel, denn von dem, was wir manchmal erahnen und oft nicht wirklich zuordnen können, handelt dieses Buch. Da ist Glenda, die mit ihrer unsichtbaren, verstorbenen Schwester redet; da ist Carl, der Besuch von einem kleinen, blauen Vogel bekommt. Was die beiden wahrnehmen, bleibt denen, die nicht dem Tod nahe sind, unerklärlich und rätselhaft.

"In de Schwesternschule lernt man, wie man Patientinnen und Patienten heilt – oder es zumindest versucht. Aber nicht, wie man ihnen ein Gefühl der Geborgenheit gibt." Es braucht auch Talent, Lebensneugier sowie die Bereitschaft, sich auf ganz unterschiedliche Menschen einzulassen. Nicht alles lässt sich lernen, ob man geeignet ist für diesen Beruf findet man erst in der Praxis heraus.

Hadley Vlahos schildert nicht nur ihre Begegnungen mit Pflegebedürftigen, sondern berichtet auch von ihrer Ausbildungszeit und wie sie von einer resoluten Schwester unter ihre Fittiche genommen wurde, die ihr mit ihrer no-nonsense Art und Weise Wesentliches beibrachte und über viel trockenen Humor verfügte. "Eine höhere Macht, die all das zulässt, was wir jeden Tag sehen, ist nicht unbedingt das, was ich in der Ewigkeit kennenlernen möchte." .

Für die Medizin und die Pflege ist kennzeichnend, etwas zu tun, aktiv zu werden, zu helfen. Die Einsicht, dass man nichts mehr tun kann, ist überaus schwer zu ertragen. Als Hospizschwester lernte Hadley jedoch auch, dass einfach da zu sein, oft genügte. Denn dies bedeutet, Geborgenheit und Verbundenheit zu vermitteln.

Was sie auch lernte: "Patienten, die allen möglichen Religionen angehörten oder gar nicht religiös waren, machten spirituelle Erfahrungen, die ich nicht ignorieren konnte." Auch ihr Bild von Alzheimerpatienten veränderte sich. "Mittlerweile glaube ich – natürlich ohne es beweisen zu können – , dass Alzheimerpatienten zwar körperlich immer noch in dieser Welt sind, aber ab einem bestimmten Punkt stehen sie bereits mit beiden Beinen dort, wohin wir alle als Nächstes unterwegs sind, auf der anderen Seite."

Zwischen den Welten macht uns nicht nur auf Zwischenwelten aufmerksam, sondern erzählt noch von ganz vielen anderen, unerklärlichen Dingen, die Hadley Vlahos und anderen zugestossen sind. Sie begreift sie als Hinweise auf eine Realität, die wir selten wahrnehmen, doch die den Schluss nahelegen, dass wir durchs Leben geleitet werden.

Fazit; Ein sehr sympathisches Buch, das vielfältig anregt, vertrauensvoll und dankbar durch das Mysterium des Lebens zu gehen.

Hadley Vlahos
Zwischen den Welten
Was ich als Hospizschwester
über die Grenzen zwischen
Leben und Tod gelernt habe
Kösel, München 2024

Mittwoch, 4. September 2024

Die sehr eigenwillige Zeit

 Dass Alles seine Zeit habe, offenbart sich mir immer mal wieder, und meist völlig unerwartet, als ob die Zeit, für was auch immer, genau dann kommt, wann es ihr passt – und nicht etwa dann, wann ich glaube, es wäre jetzt an der Zeit. Sie ist sehr eigenwillig, diese Zeit, jedenfalls die, welche ich wahrzunehmen imstande bin.

Mir scheint, ich bin mein Leben lang mit Vorstellungen unterwegs gewesen, die nie Wirklichkeit geworden sind, sobald ich sie mir bewusst vorgenommen habe, doch eigenartigerweise manchmal eintraten, als ich bereits  aufgegeben hatte, an sie zu glauben.

So nerve ich mich seit Jahren übers Fernsehen, zu dessen Zielgruppe ich eindeutig nicht gehöre. Dennoch  gelang es mir nur selten, einfach auszuschalten. Ich wusste, dass ich mir Schwachsinn zumutete und tat es trotzdem. Und dann, eines Tages, schwafelte ein Reporter auf Tele Züri von Fussballern die "Legenden und Legendinnen" geworden seien. Und in mir dachte es: Was für ein Hohlkopf! Seither habe ich diesen Sender nicht mehr eingeschaltet. Und als dann die BBC und CNN ein paar Tage später den Florida Golfer bei einer Kranzniederlegung auf dem Arlington Friedhof zeigten (ein vollkommen empathieloser Mann spielt Empathie vor – das ist Propaganda, keine Information), habe ich mich auch von diesen beiden Sendern verabschiedet.

Warum erst jetzt, warum dieser Ereignisse wegen? Keine Ahnung. Ich weiss auch gar nicht, ob es dieser Ereignisse wegen so ist. Das ist nur, was ich beobachte und mir so denke. Ob es so ist, ist natürlich eine ganz andere Frage. Doch ich bin froh, dass es soweit gekommen ist. Endlich ist mir meine Zeit zu schade, um sie diesen Plattformen für Dummköpfe und supereitle Egos (das schliesst die Journalisten {und Journalistinnen} mit ein) zu widmen.

Die Augen aufzumachen, um zu sehen, was am Wegrand liegt (wie etwa am 10. Oktober 2022 im litauischen Kaunas; an diesem Bild ist nichts arrangiert) ist weitaus erfüllender.

Mittwoch, 28. August 2024

Was ist ein Problem?

 Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie etwas über Tagoona, den Eskimo, erfahren. Im vergangenen Jahr sagte einer von unseren weissen Leuten zu ihm: Wir freuen uns sehr darüber, dass Sie als erster Ihres Volkes zum Priester geweiht worden sind. Jetzt können Sie uns dabei helfen, die Probleme der Eskimos zu lösen. Tagoona fragte: Was ist ein Problem? Und der Weisse sagte: Tagoona, wenn ich Sie an den Füssen aus einem Fenster im dritten Stock hinaushielte, so wäre das für Sie ein Problem. Tagoona dachte lange und eingehend darüber nach. Dann sagte er: Das glaube ich nicht. Wenn Sie mich verschonen, so wäre alles gut. Wenn Sie mich fallen liessen, wäre sowieso alles egal. Dann hätten Sie das Problem.

Margaret Craven: Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen

Mittwoch, 21. August 2024

Trotzdem Ja zum Leben Sagen

Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein Klassiker. Und das meint: Was der Autor hier vorlegt, sind Einsichten, die nicht von der Zeit abhängen, in der sie niedergeschrieben wurden, sie haben gleichsam ewige Gültigkeit. Vor allem jedoch sind es grundsätzliche Gedanken, an denen es heutzutage, da wir in Detailproblemen ersaufen, weitgehend fehlt. 

Die Autorin Ariadne von Schirach hat ein persönliches und erhellendes Vorwort zu dieser Neuausgabe verfasst, worin sie auch darauf hinweist, dass Frankl uns daran erinnere, dass das Leben an sich einen unverlierbaren Sinn habe. Ob dem wirklich so ist, weiss ich nicht, muss ich vielleicht auch gar nicht wissen, doch sich danach auszurichten, erachte ich als sinnvoll. Skeptischer bin ich heutzutage gegenüber der Aussage, der ich bis vor Kurzem vorbehaltlos zugestimmt hätte: "Doch nur wenn wir bewusst leben, haben wir wirklich gelebt." Denn die besten Momente, jedenfalls für mich, sind die, an denen ich bewusst gar nicht teilhabe, in denen ich mich selber vergesse.

Es gibt noch ein zweites Vorwort, von Hans Weigel zur Originalausgabe. "Viktor Frankl hat gelebt, was er lehrt." Überzeugender geht es kaum. Wie jeder und jede weiss, ist das selten genug.

Mein eigener, ausgesprochen positiver Bezug zu Viktor Frankl liegt vor allem seine Aussage zugrunde, gemäss der es nur zwei Rassen von Menschen gebe: Die Anständigen und die Unanständigen. Und da die Anständigen in der Minderheit seien, gelte es diese zu stärken. dann aber auch darin, dass sich seine Logotherapie/Existenzanalyse an Sinn- und Werte-Fragen orientiert.

Trotzdem Ja zum Leben Sagen handelt vom unbekannten KZler, der nur als Nummer existiert. "Und ich sage nicht ohne Stolz, dass ich nicht mehr als solch ein 'gewöhnlicher' Häftling war – eben nichts als die blosse Nr. 119 104 war." Als solcher lernt er unter anderem, die Dinge an sich herankommen zu lassen, und er erfährt, dass der Mensch sich an alles gewöhnt.

Immer mal wieder hat er im Lager erfahren, dass das Schicksal mit den Insassen gespielt hat, "erfahren, wie fragwürdig alles menschliche Entscheiden ist, und zwar gerade dort, wo es um Leben oder Tod geht", wobei er auch konstatiert, dass die Flucht nach innen, besonders für zarte Konstitutionen, nützlich sein kann. "Denn gerade ihnen steht der Rückzug aus der schrecklichen Umwelt und die Einkehr in ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums offen."

Es sind persönliche und detaillierte Schilderungen, die in der Erkenntnis gipfeln, "dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein 'So oder so'!" Und er fügt hinzu: "In letzter Sicht erweist sich das, was mit dem Menschen innerlich geschieht, was das Lager aus ihm als Menschen scheinbar 'macht', als das Ergebnis einer inneren Entscheidung."

Frankl begreift das Schicksal als Geschenk, zu dem wir uns zu verhalten haben  – wir können es ablehnen oder annehmen, inklusive des Leids und der Qual. "Man denke nur nicht, dass derartige Überlegungen lebensfern oder weltfremd sind. Gewiss, solcher Höhe sind nur wenige und seltene Menschen fähig", doch sie bezeugen, "dass der Mensch innerlich stärker sein kann als sein äusserliches Schicksal, und nicht nur im Konzentrationslager."

Zentral sei es, ein Ziel zu haben; Nietzsche habe dies vielleicht am treffendsten ausgedrückt: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie." Doch so wesentlich diese Zielorientierung auch ist, das Mahnwort von Bismarck sollte darob nicht vergessen werden. "Im Leben geht es einem so wie beim Zahnarzt: Immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und inzwischen ist es schon vorbei. Variierend könnte man sagen: die meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren Möglichkeiten der Verwirklichung seien nun dahin – und in Wirklichkeit bestanden sie eben darin, was einer aus diesem Leben im Lager machte: ein Vegetieren, so wie die Tausende von Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein innerer Segen."

Die Frage nach dem Sinn des Lebens sollte uns leiten. Viktor Frankl stellt sie allerdings ganz anders als gemeinhin üblich: Entscheidend sei nicht, was wir vom Leben erwarten, sondern was das Leben von uns erwarte. Die rechte Antwort darauf ergebe sich "nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heisst letztlich eben nichts anders als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde."

Neben den Aufzeichnungen  aus dem Konzentrationslager enthält dieses Buch auch "eine metaphysische Conférence" (Synchronisation in Birkenwald), bei der auch Spinoza, Kant und Sokrates in Erscheinung treten und sich Gedanken über die heutige Zeit (es ist 1946) machen, in der das Unglaubwürdigste die Wahrheit ist. "Und wer sie ausspricht, ist von vorneherein unzeitgemäss, und seine Rede bleibt unwirksam." Möge diesem Werk das Gegenteil beschieden sein!

Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein überaus hilfreiches Buch, wesentlich und von praktischer Relevanz.

Viktor E. Frankl
Trotzdem Ja zum Leben Sagen
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager
Kösel, München 2024