Mittwoch, 13. November 2024

Glücklich ohne Alkohol

"Ein Guide für Frauen" heisst es auf dem Umschlag der deutschen Aufgabe, bei der englischen Ausgabe, die übrigens Not Drinking Tonight heisst, fehlt der Hinweis. Mit anderen Worten: Der Titel der deutschen Ausgabe ist irreführend und allein dem Marketing geschuldet, denn ob ein Mann oder eine Frau süchtig ist, ist der Sucht egal – sie macht solche Unterscheidungen nicht.

Im Feld der Sucht (ich unterscheide nicht zwischen Alkoholismus, Drogensucht, Gaming, oder Handysucht) gibt es viele, ganz unterschiedliche Ansätze. Was beim einen wirkt, hat bei der anderen keine Chance. Und so ist natürlich auch durchaus möglich, dass bei einigen Frauen eine Therapeutin mehr bewirken kann als ein Therapeut. Das Gegenteil stimmt aber eben auch.

Auch mit den Anonymen Alkoholikern hat Amanda E. White Erfahrungen gemacht. "Diese Gruppe wurde zu meinem Unterstützungssystem, meinem Rettungsanker und machte mein Sozialleben aus. Einige meiner besten Freunde habe ich auf diesem Treffen kennengelernt."  Sie findet einen Grossteil des Programms moralgetränkt, zudem könne die Starrheit des Programms Scham hervorrufen. Ich teile diese Auffassung nicht, finde im Gegenteil, dass Moral und Scham heutzutage leider fast ausschliesslich negativ besetzt oder kein Thema sind, weshalb denn auch gerade ein Mann ohne jegliche Moral zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde.

"Für mich besteht Schadensbegrenzung an erster Stelle. Es gibt so viele Menschen, die es nicht geschafft haben, abstinent zu werden, und sich dafür zutiefst schämten. In diesem Falle empfehle ich Ihnen, sich einen zugelassenen Therapeuten zu suchen." Die Autorin klingt, als ob Scham zu empfinden, ganz furchtbar sei. Sicher, das ist möglich, doch Scham kann auch ein exzellenter Motivator sein. Ob da zugelassene (d.h. diejenigen, die gemäss den gängigen Schulmodellen praktizieren) Therapeuten helfen können? Falls ja, dann meist trotz der standardisierten Ausbildung.

Amanda E. White ist lizenzierte Therapeutin, kennt Alkoholabhängigkeit aus eigener Erfahrung und will mit diesem Buch umfassend über Alkohol aufklären. Sie tut dies unter anderem anhand von Gesprächen mit einer 24jährigen Peruanerin, einer 21jährigen Weissen und einer 34jährigen Schwarzen. Vor allem kennzeichnend für diesen Ratgeber sind die vielen praktischen Anleitungen

"Im ersten Teil, Warum Sie trinken, erfahren Sie mehr über Ihre Psyche und darüber, wie Scham und Traumata mit Ihrem Alkoholkonsum verwoben sind." Nun ja, kein Mensch weiss, weshalb jemand wirklich trinkt. Dazu kommt, dass unsere Erklärungsmodelle mehr über unser Denken aussagen als darüber, was sie zu erklären glauben.

Zu den Erklärungsmodellen von Amanda E. White gehört die Evolution. Fressen oder gefressen werden, so funktioniert Evolution. Überlebt haben dabei die, so die Autorin, die vorsichtig gewesen sind. Unsere Vorfahren lebten in Kleingruppen, in denen es wichtig war, was andere über einen denken. Gut möglich, doch woher wollen wir das wissen? "Allerdings  interessieren uns gemäss unserer evolutionären Entwicklung nur die Meinung von Menschen, die uns sehr gut kennen, und das sind maximal 150 Personen." 150 Personen, die uns sehr gut kennen? Das hat offenbar ein Professor aus Oxford herausgefunden. Nun ja, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selber 150 Personen auch nur entfernt kenne ....

Die Ausführungen zur Scham (unter der die Autorin sehr gelitten hat) und zum Trauma sind nachvollziehbar, doch fehlt es an der Evidenz, denn wie alle Gefühlszustände sind sie nicht wirklich fassbar. Es handelt sich um Zuschreibungen. Auch die Vorstellung, man müsse über Verstecktes sprechen können, ist nicht viel mehr als ein Glaube. Wer daran glaubt, dem kann es helfen. Darüber hinaus ist das Darüber-Sprechen das Business-Modell der Therapeuten. Kein Wunder blüht in Asien das Therapie-Geschäft nicht, denn Asiaten verstehen nicht, weshalb man über alles sprechen sollte.

Fazit: Eine sachliche, gut aufgebaute Zusammenfassung der derzeit gängigen Überzeugungen in Sachen Umgang mit Alkohol.

Amanda E. White
Glücklich ohne Alkohol
Ein Guide für Frauen
Knaur Menssana, München 2024

Mittwoch, 6. November 2024

Von der Hoffnung, meiner Feindin

 Ich habe nur einen Feind: die Hoffnung.

Ständig sagt sie mir, alles werde nicht nur gut, sondern noch besser werden; immerzu treibt sie mich an, nie lässt sie mich sein, wo und wie ich bin.

Was wäre der Mensch ohne Hoffnung? habe ich einmal gelesen. Nicht nur Hemingway hat sich dies gefragt, doch ihm, als Alkoholiker (wenn, was wir über ihn gelesen, der Wahrheit entspricht), war die Hoffnung wohl überlebensnotwendiger als anderen, die vielleicht etwas weniger leiden und deshalb dieser tröstenden Vorstellung, dass alles, in der Zukunft, der fernen, eigentlich immer nur besser werden kann, nicht so stark bedürfen.

Wer in der Gegenwart lebt, bedarf der Hoffnung nicht. Vorausgesetzt natürlich, er (oder sie – die künftig immer mit gemeint werden soll) lebt gerne in dieser Gegenwart. Ein solcher muss nicht vertröstet werden, ein solcher schätzt, was er hat.

***

Der Mensch ist grundsätzlich unzufrieden angelegt, und deswegen ein sehnsüchtiges Wesen. Um mit Wilhelm Busch zu reden: was er hat, das will er nicht, und was er will, das hat er nicht. Und deshalb braucht er die Hoffnung, dass er eines (meist fernen) Tages (vielleicht aber auch erst im Himmel), haben wird, was er jetzt schon will (und dann möglicherweise nicht mehr haben möchte – doch das wäre eine andere Geschichte).

Ständig also hofft der Mensch auf bessere Zeiten. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als warten. Dem Spanisch sprechenden Latino ist das eh dasselbe, für ihn bedeuten sowohl hoffen als auch warten esperar, was uns zum Schluss zwingt, dass wenn der Latino hofft, er zur gleichen Zeit auch wartet, und wenn er wartet, er ganz offenbar sogleich hofft. So richtig unmittelbar eingeleuchtet hat mir das, als ich letzthin auf den Bus wartete und dabei hoffte, dass er auch käme.

Für die Latinos ist also der Fall gelöst: sie haben absolut Null-Chance, jemals in der Gegenwart leben zu können. Und scheinen auch gar kein Problem damit zu haben, man denke nur an ihr andauerndes mañana. Oder meint das vielleicht das Gegenteil? Dass also das Heute das Wichtige und alles andere bis morgen warten könne?

Wir andern aber, die wir so gewiss sind, dass wir im Hier und Jetzt leben sollten (möglichst entspannt natürlich), wir haben ein Problem damit, dass wir, so sehr wir es auch wollen, es einfach nicht können.

Wo ein Wille, da kein Weg, sagt uns dazu der Psychologe von heute, und wir glauben zu ahnen, dass da was dran sein könnte, nur haben wir nicht den leisesten Schimmer, wie wir das jetzt praktisch umsetzen sollten. Im Gegensatz zum Psychologen – der fordert für solche Weisheiten Honorar.

Wir trotten also weiterhin ratlos durch die Gegend, wobei wir von Zeit zu Zeit auf Leute treffen, die behaupten, im Grunde sei alles ganz einfach, man müsse nur in der Gegenwart leben. Es sind dies in der Regel Menschen, die den Anblick in Blüte stehender Blumen unweigerlich mit Begeisterungsschreien kommentieren. Ich gestehe, mir ist ein solches Naturell nicht gegeben, und ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich wünschte, mir wäre ein solches mitgegeben worden. Und wenn ich schon beim Gestehen bin: mir ist von den mir bekannten drei Zeitzonen – der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft – die Gegenwart am wenigsten lieb. Nicht dass ich das gut finde, doch es ist so.

In einer Kultur gross geworden, die dem Sollen, dem Müssen, eine Prominenz zuweist, die einen in Null-Komma-Nix die Flucht in den Buddhismus antreten lässt, reagiere ich auf Aufforderungen, die mit „Du musst nur“ anfangen, automatisch mit Verweigerung und fühle mich dann fast augenblicklich auf eine mir nicht so recht erklärliche Art schuldig.

Doch so eine Sollens-Kultur bringt es eben auch mit sich, dass man immer weiss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Und darauf hofft, wenn man denn das Seinige zu tun bereit ist, dass die Dinge eines Tages so sein könnten, wie sie eigentlich sein sollten.


Sisyphus scheint davon nicht sonderlich überzeugt gewesen zu sein. Der konzentrierte sich darauf, den Stein den Hügel hinauf zu rollen. Und tat das und nur das und sonst gar nichts. Camus soll gesagt haben, man müsse sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen. Obwohl mir der Gedanke sympathisch ist, habe ich mir bisher Fliessbandarbeiter nicht als fröhliche Menschen vorgestellt, aber ich bin ja auch kein anerkannter Philosoph.

Lasst alle Hoffnung fahren! hatte ich ja eigentlich immer als Drohung interpretiert. Wenn dem nun aber gar nicht so wäre, wenn das in Wirklichkeit eine Aufforderung wäre, sich der Realität, also dem, was ist, zu stellen? Und einfach zu tun, was zu tun ist, und sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen?

Ich weiss nicht so recht. Es klingt mir doch ein bisserl arg nach „glücklich, wer nicht denkt“, und dazu mag ich mich eigentlich nicht äussern, schon deshalb nicht, weil es, das weiss jeder, eindeutig was für sich hat, doch eben genauso eindeutig ziemlicher Humbug ist. Schliesslich ist einer, der denkt, deswegen nicht schon gleich unglücklich.

Und überhaupt, so sagt man, zeichne das Denken den Menschen doch aus.

***

Es gehe darum, den Wald voller Affen im Kopf zur Ruhe zu bringen, sagt der buddhistische Mönch im Hauptsitz des „World Fellowship of Buddhists“ in Bangkok. Wir sollten den Atem beobachten, ihm einfach folgen, konstatieren, was passiere. Wenn Gedanken uns ablenkten, sie weder verscheuchen, noch ihnen nachgeben, sondern sich sagen, aha, ein Gedanke, und dann wieder zum Atem zurückkehren.

Ein Mann (der sei früher Professor in Berkeley gewesen, raunt mir mein Nachbar zu) meldet sich: er habe das schon oft geübt, doch nach zwei, drei Minuten sei er regelmässig weg von seinem Atem und voll in Gedanken.
Der Mönch lacht. Das sei normal. Er solle einfach weiter üben.

Mir geht es so wie diesem Mann: ganz schnell bin ich wieder bei meinen Gedanken (und sie bei mir). Das ist vertrautes Territorium. Und überhaupt finde ich meinen Atem zu beobachten ganz und gar nicht attraktiv.

Wir üben jetzt eine halbe Stunde lang Meditation im Gehen, sagt der Mönch. Stehen Sie gerade, fassen Sie den Punkt am Ende der Halle, wo Sie hinwollen, ins Auge. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihre Füsse: wie sie auf den Boden treffen, abrollen, sich heben.
Diesmal geht’s, diesmal spüre ich das Heben, Senken, Auftreffen, Abrollen der Füsse, die Vorwärtsbewegung des Körpers, und ohne dass mich Gedanken sofort wieder wegholen. Diesmal brauche ich nicht zu hoffen, diesmal bin ich ganz einfach – und tue, was ich tue.

Mittwoch, 30. Oktober 2024

It is by self-forgetting ... that one finds

"Lord make me a channel of Thy Peace, That where there is hatred ... I may bring love, That where there is wrong ... I may bring the spirit of forgiveness, That where there is discord ... I may bring harmony, That where there is error ... I may bring truth, That where there is doubt ... I may bring faith, That where there is despair ... I may bring hope, That where there are shadows ... I may bring light, That where there is sadness ... I may bring joy.

Lord, grant that I may seek rather to comfort ... than to be comforted, To understand ... .than to be understood, To love ... than to be loved.

For ... it is by self-forgetting ... that one finds, It is by forgiving ... that one is forgiven, It is by dying ... that one awakens to Eternal Life."

Saint Francis of Assisi

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Never enough

 One of the phenomena that doesn't cease to baffle me ist the desire to always want more, that nothing does seem to be enough, never. The point is: I simply do not get it. Differently put: I know it but knowledge or mental insight does not help for it is (go figure!) not enough. What is needed in order to understand is action, to act my way into a new way of thinking.

For instance, I cannot get enough of books that promise me a good time as well as insights. Despite what public relations departments of publishing companies and reviews in renowned media suggest. I'm regularly disappointed for most new releases rarely offer anything new. In fact, most of non-fiction works start with the ancient Greeks and pretend that, despite lots of evidence to the contrary, we can learn from the past.

Most recently, I started to leaf through unread books that sit quite comfortably on my shelves. And, to my surprise, I've discovered that I had missed out on works that did not only intellegently entertain me but also provided me with useful insights. It couldn't have been more obvious that I already had what I thought that I needed to have. 

How come then that I still couldn't control my compulsion for new books? Because my mind is wired in such a way that it always looks ahead. Well, can I not change that? Sure, by acting differently. For what I truly understand lies in my actions. How I really (albeit unconsciously) think is revealed by my actions.

Mittwoch, 16. Oktober 2024

Mein weiser Narr

Im Februar 1986 erstand ich mir (zu der Zeit schrieb ich immer in die Bücher rein, wann ich sie gekauft hatte) Jacqueline C. Lairs und Walther H. Lechlers "Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll einer Heilung". Lair, die in Bozeman, Montana, lebt, hatte Alkoholprobleme und war medikamentenabhängig und suchte Hilfe beim Mediziner Walther H. Lechler in Bad Herrenalb im Schwarzwald. "Ich kann einfach keinen Grund sehen, weshalb ich lebe", schreibt sie und lernt bei Lechler, "dass man alles über Bord werfen muss, um das zu finden, was man braucht." Es ist ein Buch, das zu meinen intensivsten Leseerfahrungen überhaupt gehört.

Im Santiago Verlag sind nun unter dem Titel "Mein weiser Narr" Lairs "Nachgedanken an eine Therapie" erschienen. Es ist ein gelungener Text, weil er einen zum Nachdenken über Dinge bringt, die man in der Regel einfach zur Seite schiebt. Über Wut, zum Beispiel, die es, so der weise Narr Lechler, zu akzeptieren gilt: "... nimm einfach diese gewaltige Energie wahr, die sie auslöst ... man muss lernen, diese Energie und die innere Unruhe, die sie mit sich bringt, auf konstruktive Art und Weise auszudrücken, das ist alles."

Das Aussergewöhnliche an diesem Buch liegt darin, dass man erfährt, wie Lechler zu seinen Einsichten und Überzeugungen gekommen ist: er erzählt von Privatem und Schwierigem und lässt damit den Leser an seinem Leben teilhaben. "Ich war wütend auf das Leben, auf viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend, weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war ... Auch heutzutage bin ich immer noch auf mich selbst wütend, wenn ich an alle die Versuche denke, meine innere Wut zu verleugnen und zu verdrängen, nur weil ich soviel Angst vor dieser Wut hatte ...".
Schon mal von einem Arzt oder Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken, dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht nur aus Büchern. Das meint nicht, dass man Alkoholiker sein muss, um Alkoholikern helfen zu können (Veterinäre wären sonst arbeitslos), das meint, dass Klienten/Patienten spüren müssen, dass emotionale Identifikation (einer der Schlüssel für eine Genesung) möglich ist.

"Den Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt sie (Jaqueline Lair) für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch", liest man auf dem Schutzumschlag. In Gesprächen mit Lechler erfährt sie dann, dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht: "... mehr als alles andere habe ich gelernt, intellektuellem Wissen, das gleichzeitig gefühllos ist, zu misstrauen", denn "all' dieses Verstehen und all' dieses Wissen haben mir nie meinen eigenen emotionellen Schmerz genommen. Die einzige Hilfe für mich war, diese verdammte, negative Art und Weise zu verändern, wie ich über mich selbst dachte. Und selbst das war nicht die ganz grosse Hilfe, wenn ich ehrlich sein soll. Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen, die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren. Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag ein Sommererlebnis zu machen - und zulassen und aushalten lernen, dass das manchmal wehtut."
Ich finde dies eine ganz wunderbare und hilfreiche Maxime, nicht nur für Alkoholiker, Drogenabhängie oder Depressive, sondern so recht eigentlich für alle.

Akzeptieren ist das Eine, Handeln das Andere und im Gegensatz zu den Therapien, die auf eine Verhaltensänderung durch Einsicht hoffen, schlägt Lechler den klassischen 12-Schritte-Grundsatz vor, dass richtiges Handeln zum richtigen Denken führen wird: "Du musst lernen, 'so zu tun als ob' - so zu tun, als ob du bereits wüsstest, wie man ein liebevolles Leben lebt, selbst, wenn du noch gar nicht daran glaubst. Denn irgendwann wird dieses Verhalten ein Teil von dir und dann kannst du wieder in vollem Umfang zu deinem Nutzen an der menschlichen Gemeinschaft teilhaben." Auch wenn ich vorbehaltslos zustimme, sprachlich (es handelt sich um eine Übersetzung) ist das schon ziemlich hölzern.

Was es auch noch braucht, um zu gesunden? Den Mut aufzubringen, gegen unsere Hauptsorge "Was sollen denn die Leute denken?" anzugehen. In Lechlers Worten: "Diese Spielregel hat mehr Menschen in einen Tiefschlaf versetzt und mehr Beziehungen ruiniert, als jede andere, die ich kenne."

Übrigens: "Von mir aus nennt es Wahnsinn" ist ebenfalls beim Santiago Verlag erhältlich.

Santiago Verlag
Joachim Duderstadt e.K.
Asperheide 88
D-47574 Goch
http://santiagoverlag.de

Sonntag, 13. Oktober 2024

Das Jetzt ist nicht zu fassen

Unterwegs in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés, Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen, ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht, handeln die hier vorliegenden Texte.

Diese Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter, Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang, Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.

Unterwegssein ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine Gewohnheit zu denken.

*Das Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten, so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.


Hans Durrer
Das Jetzt ist nicht zu fasen
Notizen von Unterwegs
neobooks, Berlin 2024

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Das Licht der letzten Tage

Alexander Batthyány leitet das Viktor-Frankl-Forschungsinstitut für theoretische Psychologie und personalistische Studien in Budapest sowie das Viktor-Frankl-Institut in Wien. Er forscht über menschliche Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Dabei hat er auch festgestellt, dass die gesammelten Daten nicht nur ein unvollständiges Bild des Geschehens liefern, sondern für sich allein genommen auch zutiefst unbefriedigend sind. Die Geschichten, die ihm Angehörige Sterbender erzählen, sind weit aufschlussreicher. Und so lernt er, was jeder gute Forscher lernen muss und Viktor Frankl so formuliert hat: Er habe die Lehren seiner Lehrer (Sigmund Freud und Alfred Adler) vergessen und stattdessen seine Patienten als seine Lehrer erkennen müssen.

Der Autor hat Fragebogen erstellt, diese ausgewertet, Forschungsergebnisse von Kollegen studiert, vor allem jedoch hat er sich mit den Berichten von Angehörigen Sterbender auseinandergesetzt. Kurz und gut: Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Dabei ist ihm aufgegangen, "dass wir unsere gewohnten Anschauungen des unter allen Umständen und Bedingungen von intakter Hirnfunktion und -tätigkeit abhängigen Ichs infrage stellen müssen, sofern unsere vorläufigen Ergebnisse und Analysen halten." Vorsichtiger kann man sich kaum ausdrücken.

Der Untertitel, Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens, fasst zusammen. wovon dieses Buch handelt. Die Berichte von Familienmitgliedern darüber, was geschah, als die Patienten im Sterben lagen, sind faszinierend. So erfährt man etwa, dass Menschen, die an fortgeschrittener Altersdemenz leiden, unmittelbar vor dem Tod Momente geistiger Klarheit erlebten. "In gewisser Weise scheinen solche Fälle also fast allem zu widersprechen, was wir über die Abhängigkeit des Ichs bzw. der Geistes von intakten Hirnfunktionen zu wissen glauben: Sie scheinen die materialistische Arbeitshypothese grundlegend in Frage zu stellen."

Das Phänomen der terminalen Luzidität lässt sich weder medizinisch noch wissenschaftlich  erklären. Nur eben: Es existiert. es kommt zwar nicht besonders oft vor (soweit man das beobachten kann), doch es kommt vor. Was den Schluss nahelegt, dass unsere Erklärungsmodelle der Revision bedürfen. Und dies stösst natürlich auf Widerstand, denn von etwas abzulassen, das sich als höchst tauglich erwiesen hat, ist dem Menschen nicht wirklich gegeben.

Viktor Frankl und der australische Neurophysiologe John C. Eccles, der zu den Pionieren der Hirnforschung gehört, glauben "an das unzerstörbare Wesen der 'inneren' Person jedes vordergründig auch noch so schwer eingeschränkten Patienten als humane Tatsache und als moralische Leitlinie medizinischen und therapeutischen Handelns." Ein sinnvoller und pragmatischer Ansatz, doch letztlich eben ein Glaube, "der sich einer weiteren Überprüfung zu entziehen scheint."

Was mich besonders für dieses Buch einnimmt, ist das Grundsätzliche, das es anspricht. So stellt der Autor etwa fest, dass wir heutzutage weit seltener über Traurigkeit reden als die Generation vor uns. "Stattdessen sprechen wir von Depression." Anders gesagt: Wir glauben mittels "neutraler" Wortwahl die Welt verstehen zu können, sind dermassen materialistisch orientiert, dass wir das Unerklärliche, das so recht eigentlich magisch ist, nicht mehr sehen können.

So meint der estnisch-russische Philosoph Valentin Tomberg: "Der Materialismus tut in Bezug auf die Welt etwas, was in Bezug auf ein Kunstwerk absurd wäre, nämlich es anhand der qualitativen   und quantitativen  Eigenschaften der Materialien zu erklären, aus denen es besteht, und nicht anhand des Stils, des Bedeutungszusammenhangs und der Intention, dies aus dem Kunstwerk spricht. Wäre es nicht absurd, zum Beispiel ein Gedicht von Victor Hugo verstehen zu wollen, indem man die Tinte, mit der es geschrieben wurde, und das Papier, auf dem es steht, chemisch analysiert oder indem man die Anzahl der Wörter und Buchstaben zählt?"

Alexander Batthyány ist es darum zu tun, die in Verruf geratene Hoffnung zu rehabilitieren, denn er versteht die Hoffnung als uns anvertraut. Zudem glaubt er, "dass Hoffnung und unsere Ideale nicht aus einem Mangel heraus entstehen, sondern grundlegend im Menschen angelegt sind: Sie sind unser grösstes Gut. Der wirkliche Mangel zeigt sich vielmehr in der Abwendung von Hoffnung und Sinn – es wäre die Abkehr von einem wesentlichen Merkmal unseres Selbst- und Weiterlebens."

Letztlich geht es in diesem Buch um die Frage, ob mit dem Tod alles zu Ende sein wird. Alexander Batthyány glaubt das nicht und sieht seine Hoffnung auf ein solides Fundament gegründet, das er in diesem Werk vorlegt. Treffender als John C. Eccles kann man es meines Erachtens nicht sagen: "Ich denke, wir müssen einfach anerkennen, dass unserer Existenz ein Geheimnis innewohnt, das jede biologische oder materialistische Logik übersteigt."

Alexander Batthyány
Das Licht der letzten Tage
Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens
O.W. Barth, München 2024

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Moments in time



Bad Ragaz, 19 September 2024

Pictures, says Blazenka, who took these pics,
are defined by their background. Rarely have I seen
this more convincingly demonstrated than on these photos.
that show me nine days short of my 71 birthday.

Mittwoch, 25. September 2024

Tennis Lessons

I was beginning to learn what all good pros and students of tennis must learn: 
that images are better than words, showing better than telling, too much instruction worse than none, and that conscious trying often produces negative results.
 
W. Timothy Gallwey: The Inner Game of Tennis

Sonntag, 22. September 2024

Das Leben ist der Ernstfall

Das Leben ist der Ernstfall, so der Titel des Buches, in dem Jürgen Leinemann seinen Umgang mit der Krebskrankheit schildert, von der er im Alter von 71 Jahren erfahren hatte. Jürgen Leinemann war Journalist, ein herausragender, der vor vielen Jahren seine Alkoholsucht erfolgreich zum Stillstand brachte und nicht wenige Politiker als Süchtige wahrnahm.

Sich einer Sucht zu stellen bedeutet letztlich, sich mit Grundfragen der menschlichen Existenz auseinanderzusetzen. Wie eine Sucht so ist auch der Krebs eine tödliche Krankheit. Jürgen Leinemann hat etwas Wesentliches verstanden, als er sich für Das Leben ist der Ernstfall als Buchtitel entschied. Denn dies wirklich zu begreifen bedeutet, anders als gewohnt zu leben. Wacher, verletzlicher, die Ungewissheit aushaltend.

Sargans, am 22. September 2024

Es gehört zu den eigenartigsten Dingen im Leben, dass wir, obwohl wir wissen (könnten), dass wir so recht eigentlich keine Zeit haben, wir nichtsdestotrotz glauben, wir hätten unendlich viel Zeit. Nur eben (und auch dies könnten wir wissen): Was gerade geschieht, kommt nicht zurück, ist bereits dann vorbei, wenn wir daran denken.

Doch das wollen wir nicht wahrhaben, hoffen gegen alle Vernunft, dass dem nicht so sei. Ich weiss nicht, ob man ohne Hoffnung sein könnte, doch ich weiss, dass mich die Hoffnung allzu oft davon abhält, das Leben als Ernstfall zu begreifen.

Mittwoch, 18. September 2024

Native American Ten Commandments

1.  The Earth is our Mother; care for Her
2.  Honor all your relations.
3.  Open your heart and soul to the Great Spirit.
4.  All life is sacred; treat all beings with respect.
5.  Take from the Earth what is needed and nothing more.
6.  Do what needs to be done for the good of all.
7.  Give constant thanks to the Great Spirit for each day.
8.  Speak the truth but only for the good in others.
9.  Follow the rhythms of Nature.
10. Enjoy life's journey; but leave no tracks.

Mittwoch, 11. September 2024

Let it go

Let go of the ways you thought life would unfold, the holding of plans or dreams or expectations – Let it all go. Save your strength to swim with the tide.

The choice to fight what is here before you now will only result in struggle, fear, and desperate attempts to flee from the very energy you long for.

Let go. Let it all go and flow with the grace that washes through your days whether you received it gently or with all your quills raised to defend against invaders.

Take this on faith; the mind may never find the explanations that it seeks, but you will move forward nonetheless.

Let go, and the wave’s crest will carry you to unknown shores, beyond your wildest dreams or destinations.

Let it all go and find the place of rest and peace, and certain transformation.

Danna Faulds

Sonntag, 8. September 2024

A World of Wonders

Santa Cruz do Sul, 23 February 2021

Shortly after waking up, the sudden realisation: How strange that things are working the way they do! I then stayed with that thought, let it sink in. Invariably, quite some other thoughts were creeping in – another very strange thing! – and among them this: How well designed this all is. I'm really glad I'm not in charge of, say, my digestion; I wouldn't have the foggiest idea how to go about it.

The other day, I came across my ophtalmologist who asked me how I was. To be honest, I said, I do not know. My moods change so quickly – one moment I feel happy, the next depressed, and most moments I do not realise that I feel anything at all – , I cannot really tell. Well, she said, if you're reasonably healthy, then I think you're doing fine. 

Learning to appreciate what we have, to be grateful for it, this I believe is what we are here for. To identify what I could be grateful for – again: how strange that this is possible at all! – , helps me to discover that I'm blessed. In fact, we all are.

Needless to say, I do not often feel that way. So if I wish to feel that way, I need to make an effort and remind myself that the world is filled with wonders I hardly ever think about – that I can see, feel, breathe, walk and talk, to name just a few. And that, often, does the trick. For a moment, that is. 

Freitag, 6. September 2024

Zwischen den Welten

"Ich sehe selbst jetzt, mit Anfang dreissig, noch ziemlich jung aus", lese ich in der Einleitung und in mir denkt es, was soll mir eine junge Frau, die seit ein paar Jahren in der Palliativpflege arbeitet, schon über Leben und Tod erzählen können. Nun ja, Thomas Mann war 26, als die Buddenbrooks, und Norman Mailer 25, als Die Nackten und die Toten erschienen. Mit anderen Worten: Das Alter sollte kein Kriterium für die Beurteilung eines Textes sein.

Der erste Eindruck: Frisch, sympathisch, ehrlich und unprätentiös. Und so geht es auch weiter. Mit anderen Worten: Zwischen den Welten ist ein Buch, das ich gerne lese. Hadley Vlahos schreibt anschaulich von ihrem Leben und von ihrem Beruf, berichtet von ihren Unsicherheiten und von dem, was ihr auffällt, sie berührt und ihr Herz erreicht.

Zwischen den Welten ("The In-Between" im englischen Original) ist ein treffender Titel, denn von dem, was wir manchmal erahnen und oft nicht wirklich zuordnen können, handelt dieses Buch. Da ist Glenda, die mit ihrer unsichtbaren, verstorbenen Schwester redet; da ist Carl, der Besuch von einem kleinen, blauen Vogel bekommt. Was die beiden wahrnehmen, bleibt denen, die nicht dem Tod nahe sind, unerklärlich und rätselhaft.

"In de Schwesternschule lernt man, wie man Patientinnen und Patienten heilt – oder es zumindest versucht. Aber nicht, wie man ihnen ein Gefühl der Geborgenheit gibt." Es braucht auch Talent, Lebensneugier sowie die Bereitschaft, sich auf ganz unterschiedliche Menschen einzulassen. Nicht alles lässt sich lernen, ob man geeignet ist für diesen Beruf findet man erst in der Praxis heraus.

Hadley Vlahos schildert nicht nur ihre Begegnungen mit Pflegebedürftigen, sondern berichtet auch von ihrer Ausbildungszeit und wie sie von einer resoluten Schwester unter ihre Fittiche genommen wurde, die ihr mit ihrer no-nonsense Art und Weise Wesentliches beibrachte und über viel trockenen Humor verfügte. "Eine höhere Macht, die all das zulässt, was wir jeden Tag sehen, ist nicht unbedingt das, was ich in der Ewigkeit kennenlernen möchte." .

Für die Medizin und die Pflege ist kennzeichnend, etwas zu tun, aktiv zu werden, zu helfen. Die Einsicht, dass man nichts mehr tun kann, ist überaus schwer zu ertragen. Als Hospizschwester lernte Hadley jedoch auch, dass einfach da zu sein, oft genügte. Denn dies bedeutet, Geborgenheit und Verbundenheit zu vermitteln.

Was sie auch lernte: "Patienten, die allen möglichen Religionen angehörten oder gar nicht religiös waren, machten spirituelle Erfahrungen, die ich nicht ignorieren konnte." Auch ihr Bild von Alzheimerpatienten veränderte sich. "Mittlerweile glaube ich – natürlich ohne es beweisen zu können – , dass Alzheimerpatienten zwar körperlich immer noch in dieser Welt sind, aber ab einem bestimmten Punkt stehen sie bereits mit beiden Beinen dort, wohin wir alle als Nächstes unterwegs sind, auf der anderen Seite."

Zwischen den Welten macht uns nicht nur auf Zwischenwelten aufmerksam, sondern erzählt noch von ganz vielen anderen, unerklärlichen Dingen, die Hadley Vlahos und anderen zugestossen sind. Sie begreift sie als Hinweise auf eine Realität, die wir selten wahrnehmen, doch die den Schluss nahelegen, dass wir durchs Leben geleitet werden.

Fazit; Ein sehr sympathisches Buch, das vielfältig anregt, vertrauensvoll und dankbar durch das Mysterium des Lebens zu gehen.

Hadley Vlahos
Zwischen den Welten
Was ich als Hospizschwester
über die Grenzen zwischen
Leben und Tod gelernt habe
Kösel, München 2024

Mittwoch, 4. September 2024

Die sehr eigenwillige Zeit

 Dass Alles seine Zeit habe, offenbart sich mir immer mal wieder, und meist völlig unerwartet, als ob die Zeit, für was auch immer, genau dann kommt, wann es ihr passt – und nicht etwa dann, wann ich glaube, es wäre jetzt an der Zeit. Sie ist sehr eigenwillig, diese Zeit, jedenfalls die, welche ich wahrzunehmen imstande bin.

Mir scheint, ich bin mein Leben lang mit Vorstellungen unterwegs gewesen, die nie Wirklichkeit geworden sind, sobald ich sie mir bewusst vorgenommen habe, doch eigenartigerweise manchmal eintraten, als ich bereits  aufgegeben hatte, an sie zu glauben.

So nerve ich mich seit Jahren übers Fernsehen, zu dessen Zielgruppe ich eindeutig nicht gehöre. Dennoch  gelang es mir nur selten, einfach auszuschalten. Ich wusste, dass ich mir Schwachsinn zumutete und tat es trotzdem. Und dann, eines Tages, schwafelte ein Reporter auf Tele Züri von Fussballern die "Legenden und Legendinnen" geworden seien. Und in mir dachte es: Was für ein Hohlkopf! Seither habe ich diesen Sender nicht mehr eingeschaltet. Und als dann die BBC und CNN ein paar Tage später den Florida Golfer bei einer Kranzniederlegung auf dem Arlington Friedhof zeigten (ein vollkommen empathieloser Mann spielt Empathie vor – das ist Propaganda, keine Information), habe ich mich auch von diesen beiden Sendern verabschiedet.

Warum erst jetzt, warum dieser Ereignisse wegen? Keine Ahnung. Ich weiss auch gar nicht, ob es dieser Ereignisse wegen so ist. Das ist nur, was ich beobachte und mir so denke. Ob es so ist, ist natürlich eine ganz andere Frage. Doch ich bin froh, dass es soweit gekommen ist. Endlich ist mir meine Zeit zu schade, um sie diesen Plattformen für Dummköpfe und supereitle Egos (das schliesst die Journalisten {und Journalistinnen} mit ein) zu widmen.

Die Augen aufzumachen, um zu sehen, was am Wegrand liegt (wie etwa am 10. Oktober 2022 im litauischen Kaunas; an diesem Bild ist nichts arrangiert) ist weitaus erfüllender.

Mittwoch, 28. August 2024

Was ist ein Problem?

 Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie etwas über Tagoona, den Eskimo, erfahren. Im vergangenen Jahr sagte einer von unseren weissen Leuten zu ihm: Wir freuen uns sehr darüber, dass Sie als erster Ihres Volkes zum Priester geweiht worden sind. Jetzt können Sie uns dabei helfen, die Probleme der Eskimos zu lösen. Tagoona fragte: Was ist ein Problem? Und der Weisse sagte: Tagoona, wenn ich Sie an den Füssen aus einem Fenster im dritten Stock hinaushielte, so wäre das für Sie ein Problem. Tagoona dachte lange und eingehend darüber nach. Dann sagte er: Das glaube ich nicht. Wenn Sie mich verschonen, so wäre alles gut. Wenn Sie mich fallen liessen, wäre sowieso alles egal. Dann hätten Sie das Problem.

Margaret Craven: Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen

Mittwoch, 21. August 2024

Trotzdem Ja zum Leben Sagen

Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein Klassiker. Und das meint: Was der Autor hier vorlegt, sind Einsichten, die nicht von der Zeit abhängen, in der sie niedergeschrieben wurden, sie haben gleichsam ewige Gültigkeit. Vor allem jedoch sind es grundsätzliche Gedanken, an denen es heutzutage, da wir in Detailproblemen ersaufen, weitgehend fehlt. 

Die Autorin Ariadne von Schirach hat ein persönliches und erhellendes Vorwort zu dieser Neuausgabe verfasst, worin sie auch darauf hinweist, dass Frankl uns daran erinnere, dass das Leben an sich einen unverlierbaren Sinn habe. Ob dem wirklich so ist, weiss ich nicht, muss ich vielleicht auch gar nicht wissen, doch sich danach auszurichten, erachte ich als sinnvoll. Skeptischer bin ich heutzutage gegenüber der Aussage, der ich bis vor Kurzem vorbehaltlos zugestimmt hätte: "Doch nur wenn wir bewusst leben, haben wir wirklich gelebt." Denn die besten Momente, jedenfalls für mich, sind die, an denen ich bewusst gar nicht teilhabe, in denen ich mich selber vergesse.

Es gibt noch ein zweites Vorwort, von Hans Weigel zur Originalausgabe. "Viktor Frankl hat gelebt, was er lehrt." Überzeugender geht es kaum. Wie jeder und jede weiss, ist das selten genug.

Mein eigener, ausgesprochen positiver Bezug zu Viktor Frankl liegt vor allem seine Aussage zugrunde, gemäss der es nur zwei Rassen von Menschen gebe: Die Anständigen und die Unanständigen. Und da die Anständigen in der Minderheit seien, gelte es diese zu stärken. dann aber auch darin, dass sich seine Logotherapie/Existenzanalyse an Sinn- und Werte-Fragen orientiert.

Trotzdem Ja zum Leben Sagen handelt vom unbekannten KZler, der nur als Nummer existiert. "Und ich sage nicht ohne Stolz, dass ich nicht mehr als solch ein 'gewöhnlicher' Häftling war – eben nichts als die blosse Nr. 119 104 war." Als solcher lernt er unter anderem, die Dinge an sich herankommen zu lassen, und er erfährt, dass der Mensch sich an alles gewöhnt.

Immer mal wieder hat er im Lager erfahren, dass das Schicksal mit den Insassen gespielt hat, "erfahren, wie fragwürdig alles menschliche Entscheiden ist, und zwar gerade dort, wo es um Leben oder Tod geht", wobei er auch konstatiert, dass die Flucht nach innen, besonders für zarte Konstitutionen, nützlich sein kann. "Denn gerade ihnen steht der Rückzug aus der schrecklichen Umwelt und die Einkehr in ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums offen."

Es sind persönliche und detaillierte Schilderungen, die in der Erkenntnis gipfeln, "dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein 'So oder so'!" Und er fügt hinzu: "In letzter Sicht erweist sich das, was mit dem Menschen innerlich geschieht, was das Lager aus ihm als Menschen scheinbar 'macht', als das Ergebnis einer inneren Entscheidung."

Frankl begreift das Schicksal als Geschenk, zu dem wir uns zu verhalten haben  – wir können es ablehnen oder annehmen, inklusive des Leids und der Qual. "Man denke nur nicht, dass derartige Überlegungen lebensfern oder weltfremd sind. Gewiss, solcher Höhe sind nur wenige und seltene Menschen fähig", doch sie bezeugen, "dass der Mensch innerlich stärker sein kann als sein äusserliches Schicksal, und nicht nur im Konzentrationslager."

Zentral sei es, ein Ziel zu haben; Nietzsche habe dies vielleicht am treffendsten ausgedrückt: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie." Doch so wesentlich diese Zielorientierung auch ist, das Mahnwort von Bismarck sollte darob nicht vergessen werden. "Im Leben geht es einem so wie beim Zahnarzt: Immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und inzwischen ist es schon vorbei. Variierend könnte man sagen: die meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren Möglichkeiten der Verwirklichung seien nun dahin – und in Wirklichkeit bestanden sie eben darin, was einer aus diesem Leben im Lager machte: ein Vegetieren, so wie die Tausende von Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein innerer Segen."

Die Frage nach dem Sinn des Lebens sollte uns leiten. Viktor Frankl stellt sie allerdings ganz anders als gemeinhin üblich: Entscheidend sei nicht, was wir vom Leben erwarten, sondern was das Leben von uns erwarte. Die rechte Antwort darauf ergebe sich "nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heisst letztlich eben nichts anders als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde."

Neben den Aufzeichnungen  aus dem Konzentrationslager enthält dieses Buch auch "eine metaphysische Conférence" (Synchronisation in Birkenwald), bei der auch Spinoza, Kant und Sokrates in Erscheinung treten und sich Gedanken über die heutige Zeit (es ist 1946) machen, in der das Unglaubwürdigste die Wahrheit ist. "Und wer sie ausspricht, ist von vorneherein unzeitgemäss, und seine Rede bleibt unwirksam." Möge diesem Werk das Gegenteil beschieden sein!

Trotzdem Ja zum Leben Sagen ist ein überaus hilfreiches Buch, wesentlich und von praktischer Relevanz.

Viktor E. Frankl
Trotzdem Ja zum Leben Sagen
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager
Kösel, München 2024

Sonntag, 18. August 2024

Migräne & Linderung

Die 1984 geborene Celia Svedhem ist Psychotherapeutin, lebt mit Mann und zwei Kindern in Jönköping. Der dunkle Raum. Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung legt Zeugnis ab von ihrer Auseinandersetzung mit einer Krankheit, für die viele kein Verständnis haben. Das liegt an der Ignoranz, dem weitaus grössten Unheilstifter auf unserem Planten.

Die Migräne kann sich in vielerlei Formen zeigen, mir selber ist die Variante mit einer Aura vertraut, die zumeist harmlos verläuft, doch mich einmal auch ins Spital brachte. Celia Svedhem hingegen erfährt heftige Kopfschmerzen, die auch Erbrechen zur Folge haben können.

Sie sucht Mediziner auf, macht sich in der Literatur kundig, lernt, dass sowohl Joan Didion und Siri Hustvedt unter Migräne litten und den Anfällen dadurch begegneten, dass sie die Kapitulation dem Kämpfen vorzogen. Nur eben: Sich hinzulegen und geschehen zu lassen, was geschieht, ist für eine Mutter mit zwei kleinen Kindern keine Option.

Die Schmerzen, die sie zu ertragen hat, sind für jemanden, der das nicht kennt, schwer nachvollziehbar, doch Celia Svedhem versteht sich ausgezeichnet auf konkrete Schilderungen. "... hoffe ich panisch, dass ich es schaffe, nach Hause zu kommen, bevor die Schmerzen unerträglich werden, denn dann kann ich nicht mehr Auto fahren." Sie versucht es mit Botox, dann mit neuen Schmerzmitteln, die zuerst eine Entgiftung erfordern.

Sie ist sehr selbst-reflektiv, macht sich oft Gedanken wie sie auf andere, insbesondere auf ihre Kinder, wirkt. Überzeugend ist, dass sie keine Rechtfertigungen dafür sucht, dass sie, wenn sie unter Schmerzen leidet, nicht die Mutter ist, die sie gerne wäre. "Mama", ruft Elsa, "die andere Mama ist viel lustiger als du!"

Wie der Untertitel Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung klar macht, ist dieses Buch keine Nabelschau, sondern der (sehr gelungene) Versuch, die Migräne in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. So berichtete bereits Hippokrates (ca. 400 v.Chr.) davon, auch waren die Heilungs- und Linderungsansätze immer schon mannigfaltig, zudem begriffen eingeborene Völker in Brasilien (Heimsuchung durch rachsüchtige Geister) und Bolivien (Behandlung mit dem Urin von Schamanen) die Krankheit ganz unterschiedlich.

Der dunkle Raum handelt auch vom überlasteten schwedischen Gesundheitssystem, den Kosten, die von der Versicherung nicht gedeckt sind und von häufig ratlosen Ärzten und Ärztinnen, bei denen einen Termin zu kriegen, offenbar sehr viel Geduld erfordert. Es sind nicht zuletzt solche Alltagsdetails, die das Leiden an der Migräne über das Persönliche herausheben.

Hat die Migräne eigentlich auch etwas Gutes?, fragt sich Celia Svedhem. Liesse sich diese gewaltige Kraft, die in diesen Stürmen im Kopf steckt, nicht auch kreativ nutzen?  So litten etwa Lewis Carroll, Salvador Dalí, Richard Wagner, Gustav Mahler, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin und Sigmund Freud unter Migräne.

Eine Neurologin erläutert ihr, es sei enorm wichtig zu verstehen, dass man selber nichts dafür und die Migräne auch nicht beeinflussen könne. Zuerst erleichtert sie das, doch kurz darauf liest sie bereits wieder fast alles zum Thema Migräne, von Selbsthilfebüchern über Yoga zur Ernährung. Und lernt dabei auch nichts anderes als ihr die Neurologin geraten hatte. "Packen Sie sich den Tag nicht so voll."

Mit "Nietzsche, Darwin und die Bedeutung von Sinn" ist eines der Kapitel überschrieben und man erahnt, dass es nicht darum geht, sich mit der Migräne auseinanderzusetzen, wenn wir trotz Schmerzen ein sinnvolles Leben leben wollen. Vielmehr geht es um die Gefühle, die wir nicht wahrhaben wollen. "Wahrscheinlich ist es, wie sich von einer Sucht zu befreien, die – mit Essen, Alkohol oder Drogen – immer alles kompensierte, was in einem zu toben anfing." Joan Didion war der Meinung, es gebe ganz bestimmt "so etwas wie 'eine Migränepersönlichkeit', wie es die Ärzte nennen, und diese Persönlichkeit neigt zu Ehrgeiz, ist nach innen gerichtet, intolerant gegenüber Fehlern, ziemlich unbeweglich, ein Perfektionist."

Was für Sucht gilt, trifft auch für die Migräne zu: Wer sie nicht selber erlebt hat, wird sie kaum verstehen können. Der dunkle Raum zeigt eindrücklich, dass das nicht so bleiben muss, denn Celia Svedhem erreicht mit diesem aufschlussreichen Werk nicht nur unseren Verstand, sondern auch unser Herz.

Celia Svedhem
Der dunkle Raum
Die Geschichte der Migräne und mein Weg zur Linderung
Kunstmann, München 2024

Mittwoch, 14. August 2024

Das ausgeglichene Gehirn


"In diesem Buch geht es darum, wie unsere Gehirn ein individuelles Gefühl für psychische Gesundheit konstruiert, indem es lernt, die komplexen, veränderlichen Informationen unserer Umwelt zu vorhersehbaren Konzepten zu ordnen", so die Neurowissenschaftlerin Camilla Nord.

Wir alle verfügen über ein eigenes Weltbild, das aus Erlebnissen und auf der Basis unserer Gene erzeugt wird. Dieses Weltbild ist nicht statisch, sondern verändert sich. Und zwar bei jedem und jeder wieder anders, weshalb denn auch die vielfach gehörte Behauptung, das Mittel X oder Y würde der Psyche guttun, bestenfalls auf den Durchschnitt einer Gruppe, zutrifft. Mit anderen Worten: Was dem einen hilft, kann für die andere schädlich sein.

Das alles miteinander zusammenhängt, ist heutzutage ein Gemeinplatz. Was das konkret heisst, beschreibt dieses Buch an zahlreichen Beispielen aus der Forschung. So verringert etwa eine schwere psychische Erkrankung wie Schizophrenie, bipolare Störung oder Depression die Lebenserwartung um schätzungsweise 25 Jahre. Das liegt am erhöhten kardiovaskulären Risiko und könnte nicht eindrücklicher unterstreichen, wie untrennbar körperliche und psychische Gesundheit miteinander verbunden sind.

Die Autorin zitiert viele wissenschaftliche Studien, von denen allerdings nicht wenige auch nichts anderes sagen, was wir auch ohne sie wissen (könnten). "Studien zu chronischen Schmerzen belegen, dass die Chronifizierung neurologisch gesehen mehr mit einer psychischen Beeinträchtigung zu tun haben könnte als mit akutem Schmerz." Darüber hinaus, kommt auch medizinisches Fachchinesisch nicht zu kurz. "Die stressinduzierte Analgesie geht auf ein säugetierspezfisches System endogener Opioide im Gehirn zurück,. das bei Schmerz und Stress aktiviert wird."

Zu den Fragen, die in diesem Buch abgehandelt werden, gehört auch: "Wie wirken Antidepressiva?" Wer sich darauf eine allgemeinverbindliche Antwort erwartet, wird enttäuscht sein, denn eindeutige, für alle geltenden Antworten kann die Medizin nun einmal nicht leisten, da sie keine Wissenschaft ist, auch wenn sie mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet. "Insgesamt sind Antidepressiva für manche Menschen ein extrem hilfreicher Baustein ihrer Behandlung, aber nicht für jeden und jede die richtige Therapie."

Obwohl ein Fan der Wissenschaft und der Überzeugung, dass wir ihr unglaublich viel zu verdanken haben, gehe ich davon aus, dass sie auch immer wieder an ihre Grenzen stösst. Schliesslich muss sie sich darauf beschränken, was gemessen werden kann. "Wie Psychotherapie das Gehirn verändert" heisst eine Kapitelüberschrift. Für mich bleibt fraglich, ob die Psychotherapie das wirklich tut bzw. ob man das überhaupt messen kann.

Die Autorin plädiert dafür, "die alte Spaltung zwischen 'psychologischen' und 'körperlichen Komponenten der psychischen Gesundheit hinter und (zu) lassen", denn diese Unterteilung sei wissenschaftlich überholt und könnte sogar eher schaden. Sie geht davon aus, dass psychische Gesundheit und Krankheit von unserem Nervensystem konstruiert werden, folglich "psychische Gesundheit auch rekonstruiert werden" kann. Klingt logisch. Ob unser Leben jedoch wirklich nach dieser Wenn-Dann-Logik funktioniert, ist eine ganz andere Frage. Und diese geht es allerdings nicht in diesem Buch, das sich auch dadurch auszeichnet, dass Camilla Nord sich immer mal wieder persönlich einbringt   die Schilderung ihrer Erfahrungen mit Yoga und Meditation sind wunderbar witzig.

Fazit: Informativ und unterhaltsam.

Dr. Camilla Nord
Das ausgeglichene Gehirn
Was uns die Neurowissenschaft
über mentale Gesundheit verrät
Neueste Erkenntnisse über die positive
Wirkung von Therapien, Psychedelika,
Schokolade und Co.
Kösel, München 2024

Mittwoch, 7. August 2024

Weisheit des ungesicherten Lebens

Dieses Buch (die englische Originalausgabe erschien 1951) ist von grundsätzlicher Art und deshalb zeitlos bzw. immer aktuell. Mit anderen Worten: Es sind hilfreiche Gedanken, die Alan Watts hier äussert, hilfreich deswegen, weil sie aufzeigen, wie wir durch unser Denken Leiden schaffen. Sicher, unser Denken hat uns auch viel erreichen lassen, aber eben für einen Preis, der nicht gerade klein ist.

"Das Aufregendste am 'ICH', an der Natur und am Weltall ist vielleicht, dass es sich nie festhalten lässt. Doch genau dies tut unser Denken, das um das Leben sinnvoll zu machen, dieses in festen Ideen und Gesetzen verständlich zu trachten versucht. Nur eben: Das im Denken sich manifestierende 'ICH' ist "in Wirklichkeit ein Strom von Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken und Gefühlen", der ständig in Bewegung ist.

Für Watts besteht das bedeutendste Merkmal des Leben darin, dahinzuströmen, und so recht eigentlich nicht zu fassen ist. Wir versuchen es trotzdem, denn unser Lebenswille sehnt sich nach Halt, nach etwas Festem, nach Sicherheit. Unsere Versuche sind zwar gänzlich widersinnig, doch das beeindruckt uns nicht.. "Wenn du versuchst, fliessendes Wasser in einem Eimer einzufangen, so zeigt das, dass du es nicht verstehst und dass du immer enttäuscht sein wirst, denn im Eimer fliesst das Wasser nicht. Um fliessendes Wasser zu haben, musst du es loslassen, musst du es fliessen lassen. Dasselbe gilt für das Leben und für Gott."

So recht eigentlich nehmen wir Alles und Jedes viel zu ernst, insbesondere unsere Gedanken und Gefühle, die zumeist ohne unser Dazutun kommen und gehen. "Was wir vergessen haben ist, dass Gedanken und Worte auf Vereinbarungen beruhen und dass es verhängnisvoll ist, solche Konventionen zu ernst zu nehmen." Ceci n'est pas une pipe, hatte René Magritte bekanntlich sein Bild einer Pfeife kommentiert. Genauso verwechseln wir unsere Gedanken und Worte über die Realität mit der Realität, was auch daran liegt, dass uns diese Gedanken und Worte den Halt verschaffen, nach dem wir uns sehnen.

Deutlich macht Alan Watts vor allem, dass die einzige Wirklichkeit, die wir erleben können, die Gegenwart ist, Alles Andere sind Vorstellungen, die uns allerdings eher knechten als befreien. "Es ist gerade die Realität der Gegenwart, dieses bewegte, lebendige Jetzt, das sich aller Erklärung und Beschreibung entzieht."

Selten ist mir das menschliche Paradox bewusster geworden:  "Die Wunder der Technik zwingen uns, in einer hektischen Uhrwerks-Welt zu leben, die der menschlichen Biologie Gewalt antut und uns zu weiter nichts befähigt, als der Zukunft schneller und schneller nachzueilen." Was dabei auf der Strecke bleibt, ist das Erleben der Gegenwart, der einzigen uns bekannten Realität.

Weisheit des ungesicherten Lebens ist ein ungemein anregendes Buch, das wesentlich dafür plädiert, sich der gegenwärtigen Erfahrung hinzugeben, möglichst anstrengungslos. Und wie soll das gehen? Indem man sich dem Leben hingibt, also es nicht analysiert bzw. zu verstehen versucht. Alan Watts nennt es, "über das Denken hinaus zu gehen", was bedeutet, dass "das Mysterium des Lebens nicht ein Problem ist, das gelöst, sondern eine Wirklichkeit, die erfahren werden muss."

Fazit: Erhellende Ausführungen, von praktischem Wert.

Alan Watts
Weisheit des ungesicherten Lebens
O.W. Barth, München 2024

Mittwoch, 31. Juli 2024

Lerne zu fühlen, was du fühlen willst

Wir wollen uns glücklich fühlen. Rients R. Ritskes hält dieses Bestreben für dem Menschen angeboren. "Das in Menschen inhärente Streben nach Glück ist der Ausgangspunkt für meine Betrachtungen des Zen, des Buddhismus und auch des Existenzialismus." Und: "Wir haben unser Glück mehr in der Hand, wenn wir gut erfühlen, was wir wollen und auch danach leben." Klingt einleuchtend, setzt allerdings voraus, dass es sowas wie Willensfreiheit gibt, von der wir jedoch wissen (können), dass sie eine Illusion ist. Doch eine sehr hartnäckige, weshalb denn auch der Ansatz von Rients R. Ritskes von praktischem Wert ist.

Doch kann man wirklich fühlen lernen, was man fühlen will? Meine Gefühle und Emotionen kommen und gehen wie es ihnen passt, offenbar aus dem Nichts, wohin sie auch zu entschwinden scheinen. Das Gleiche gilt übrigens für meine Gedanken, auch sie machen, was sie wollen. Ich bin nicht einmal sicher, dass ich es bin, der denkt; mein Eindruck ist eher, dass etwas in mir denkt.

Lerne zu fühlen, was du fühlen willst ist kein theoretisches, sondern ein praktisches Buch, das auf der Grundlage von des Autors  Erfahrung beruht. "Strebe nach dem Glück anderer", empfiehlt er und plädiert für "eine offene, unbefangene Geisteshaltung, in der wir kontinuierlich lernen, was sich in unserem Leben von Moment zu Moment ergibt. Zen ist ein durchgehendes Training im Nicht-Zu-Viel-Wollen und dem Hüten davor, uns mit unseren Wünschen zu identifizieren." Man nennt das auch den Anfänger-Geist

Unter Emotionen versteht  Rients R. Ritskes Energien, die uns in Bewegung bringen und das meint: sie steuern unser Verhalten. "Ungeachtet dessen, ob es um positive oder negative Emotionen geht, sind alle Emotionen Manifestationen bewusster oder unbewusster Ziele." Und da es arg viele davon gibt, die alle ganz Unterschiedliches wollen, gilt es zu lernen, nicht zu viel zu wollen. Das ist das Ziel, das wir so bewusst wie möglich verfolgen sollten.

Drei Formen des Fühlens werden unterschieden: Das Sich-Gut-Fühlen, das Verlangen sowie die Abneigung. Wieso der Autor diese von den Emotionen unterscheidet, hat sich mir nicht erschlossen, was auch daran liegt, dass er die beiden Begriffe, die sich überlappen können, auch immer wieder zusammen verwendet, wenn er etwa fragt: "Auf welchem Fundament stehen alle Gefühle und Emotionen, die wir tagtäglich erfahren?"

Zentral ist, dass wir uns nicht mit unseren Emotionen identifizieren, sondern sie ganz einfach wahrnehmen, ihnen mit Achtsamkeit begegnen. Es gilt zu lernen, "bei unserem Gefühl innezuhalten. bevor es sich in dysfunktional geäusserte Emotionen transformiert." Das meint nichts anderes als zwischen dem, was wir fühlen, und unserem darauf gründenden Handeln, eine Pause einzulegen ist, in der wir achtsam zur Kenntnis nehmen, was in uns vorgeht. 

Lerne zu fühlen, was du fühlen willst ist ein grösstenteils hilfreiches Buch, an dem mich jedoch stört, dass er häufig von "unverarbeiteten Erfahrungen" spricht, eine Ausdrucksweise, die man häufig in der Psychologie findet und die schwammiger kaum sein könnte. Wie, um Himmels Willen, verarbeitet man bloss Erfahrungen? Mit Hobel, Leim und Schere oder vielleicht mit Ursachenforschung, die meines Erachtens im seelischen Bereich irrelevanter nicht sein könnte, denn der Grund, weshalb jemand etwas tut, kann genauso gut Anlass dafür sein, dies nicht zu tun.

Überhaupt ist das Buch reichhaltiger an Rients R. Ritskes persönlicher Psychologie, die so nachvollziehbar ist wie die der meisten, als an Ausführungen über Zen. Zudem fand ich seine Überlegungen zum Buddhismus nicht immer überzeugend. "Wenn Buddha sagt: Leiden entsteht aus Begierde, dann würde ich diese Begierde primär als Manifestation von Neid deuten." Das finde ich viel zu kurz gedacht, vielmehr kann Begierde jede Art von Verlangen inklusive Wünschen und Hoffen sein.

Rients E. Ritskes
Lerne zu fühlen, was du fühlen willst
Zenvoll mit Emotionen umgehen
Origo Verlag, Bern 2024