Alexander Batthyány leitet das Viktor-Frankl-Forschungsinstitut für theoretische Psychologie und personalistische Studien in Budapest sowie das Viktor-Frankl-Institut in Wien. Er forscht über menschliche Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Dabei hat er auch festgestellt, dass die gesammelten Daten nicht nur ein unvollständiges Bild des Geschehens liefern, sondern für sich allein genommen auch zutiefst unbefriedigend sind. Die Geschichten, die ihm Angehörige Sterbender erzählen, sind weit aufschlussreicher. Und so lernt er, was jeder gute Forscher lernen muss und Viktor Frankl so formuliert hat: Er habe die Lehren seiner Lehrer (Sigmund Freud und Alfred Adler) vergessen und stattdessen seine Patienten als seine Lehrer erkennen müssen.
Der Autor hat Fragebogen erstellt, diese ausgewertet, Forschungsergebnisse von Kollegen studiert, vor allem jedoch hat er sich mit den Berichten von Angehörigen Sterbender auseinandergesetzt. Kurz und gut: Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Dabei ist ihm aufgegangen, "dass wir unsere gewohnten Anschauungen des unter allen Umständen und Bedingungen von intakter Hirnfunktion und -tätigkeit abhängigen Ichs infrage stellen müssen, sofern unsere vorläufigen Ergebnisse und Analysen halten." Vorsichtiger kann man sich kaum ausdrücken.
Der Untertitel, Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens, fasst zusammen. wovon dieses Buch handelt. Die Berichte von Familienmitgliedern darüber, was geschah, als die Patienten im Sterben lagen, sind faszinierend. So erfährt man etwa, dass Menschen, die an fortgeschrittener Altersdemenz leiden, unmittelbar vor dem Tod Momente geistiger Klarheit erlebten. "In gewisser Weise scheinen solche Fälle also fast allem zu widersprechen, was wir über die Abhängigkeit des Ichs bzw. der Geistes von intakten Hirnfunktionen zu wissen glauben: Sie scheinen die materialistische Arbeitshypothese grundlegend in Frage zu stellen."
Das Phänomen der terminalen Luzidität lässt sich weder medizinisch noch wissenschaftlich erklären. Nur eben: Es existiert. es kommt zwar nicht besonders oft vor (soweit man das beobachten kann), doch es kommt vor. Was den Schluss nahelegt, dass unsere Erklärungsmodelle der Revision bedürfen. Und dies stösst natürlich auf Widerstand, denn von etwas abzulassen, das sich als höchst tauglich erwiesen hat, ist dem Menschen nicht wirklich gegeben.
Viktor Frankl und der australische Neurophysiologe John C. Eccles, der zu den Pionieren der Hirnforschung gehört, glauben "an das unzerstörbare Wesen der 'inneren' Person jedes vordergründig auch noch so schwer eingeschränkten Patienten als humane Tatsache und als moralische Leitlinie medizinischen und therapeutischen Handelns." Ein sinnvoller und pragmatischer Ansatz, doch letztlich eben ein Glaube, "der sich einer weiteren Überprüfung zu entziehen scheint."
Was mich besonders für dieses Buch einnimmt, ist das Grundsätzliche, das es anspricht. So stellt der Autor etwa fest, dass wir heutzutage weit seltener über Traurigkeit reden als die Generation vor uns. "Stattdessen sprechen wir von Depression." Anders gesagt: Wir glauben mittels "neutraler" Wortwahl die Welt verstehen zu können, sind dermassen materialistisch orientiert, dass wir das Unerklärliche, das so recht eigentlich magisch ist, nicht mehr sehen können.
So meint der estnisch-russische Philosoph Valentin Tomberg: "Der Materialismus tut in Bezug auf die Welt etwas, was in Bezug auf ein Kunstwerk absurd wäre, nämlich es anhand der qualitativen – und quantitativen – Eigenschaften der Materialien zu erklären, aus denen es besteht, und nicht anhand des Stils, des Bedeutungszusammenhangs und der Intention, dies aus dem Kunstwerk spricht. Wäre es nicht absurd, zum Beispiel ein Gedicht von Victor Hugo verstehen zu wollen, indem man die Tinte, mit der es geschrieben wurde, und das Papier, auf dem es steht, chemisch analysiert oder indem man die Anzahl der Wörter und Buchstaben zählt?"
Alexander Batthyány ist es darum zu tun, die in Verruf geratene Hoffnung zu rehabilitieren, denn er versteht die Hoffnung als uns anvertraut. Zudem glaubt er, "dass Hoffnung und unsere Ideale nicht aus einem Mangel heraus entstehen, sondern grundlegend im Menschen angelegt sind: Sie sind unser grösstes Gut. Der wirkliche Mangel zeigt sich vielmehr in der Abwendung von Hoffnung und Sinn – es wäre die Abkehr von einem wesentlichen Merkmal unseres Selbst- und Weiterlebens."
Letztlich geht es in diesem Buch um die Frage, ob mit dem Tod alles zu Ende sein wird. Alexander Batthyány glaubt das nicht und sieht seine Hoffnung auf ein solides Fundament gegründet, das er in diesem Werk vorlegt. Treffender als John C. Eccles kann man es meines Erachtens nicht sagen: "Ich denke, wir müssen einfach anerkennen, dass unserer Existenz ein Geheimnis innewohnt, das jede biologische oder materialistische Logik übersteigt."
Alexander Batthyány
Das Licht der letzten Tage
Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens
O.W. Barth, München 2024
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