Im
Februar 1986 erstand ich mir (zu der Zeit schrieb ich immer in die
Bücher rein, wann ich sie gekauft hatte) Jacqueline C. Lairs und
Walther H. Lechlers "Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll
einer Heilung". Lair, die in Bozeman, Montana, lebt, hatte
Alkoholprobleme und war medikamentenabhängig und suchte Hilfe beim
Mediziner Walther H. Lechler in Bad Herrenalb im Schwarzwald. "Ich
kann einfach keinen Grund sehen, weshalb ich lebe", schreibt sie
und lernt bei Lechler, "dass man alles über Bord werfen muss,
um das zu finden, was man braucht." Es ist ein Buch, das zu
meinen intensivsten Leseerfahrungen überhaupt gehört.
Im
Santiago Verlag sind nun unter dem Titel "Mein weiser Narr"
Lairs "Nachgedanken an eine Therapie" erschienen. Es ist
ein gelungener Text, weil er einen zum Nachdenken über Dinge bringt,
die man in der Regel einfach zur Seite schiebt. Über Wut, zum
Beispiel, die es, so der weise Narr Lechler, zu akzeptieren gilt:
"... nimm einfach diese gewaltige Energie wahr, die sie auslöst
... man muss lernen, diese Energie und die innere Unruhe, die sie mit
sich bringt, auf konstruktive Art und Weise auszudrücken, das ist
alles."
Das
Aussergewöhnliche an diesem Buch liegt darin, dass man erfährt, wie
Lechler zu seinen Einsichten und Überzeugungen gekommen ist: er
erzählt von Privatem und Schwierigem und lässt damit den Leser an
seinem Leben teilhaben. "Ich war wütend auf das Leben, auf
viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich
war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines
Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend,
weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war ... Auch
heutzutage bin ich immer noch auf mich selbst wütend, wenn ich an
alle die Versuche denke, meine innere Wut zu verleugnen und zu
verdrängen, nur weil ich soviel Angst vor dieser Wut hatte
...".
Schon
mal von einem Arzt oder Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich
nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und
Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken,
dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht
nur aus Büchern. Das meint nicht, dass man Alkoholiker sein muss, um
Alkoholikern helfen zu können (Veterinäre wären sonst arbeitslos),
das meint, dass Klienten/Patienten spüren müssen, dass emotionale
Identifikation (einer der Schlüssel für eine Genesung) möglich
ist.
"Den
Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt sie (Jaqueline
Lair) für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch", liest man
auf dem Schutzumschlag. In Gesprächen mit Lechler erfährt sie dann,
dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des
Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht: "...
mehr als alles andere habe ich gelernt, intellektuellem Wissen, das
gleichzeitig gefühllos ist, zu misstrauen", denn "all'
dieses Verstehen und all' dieses Wissen haben mir nie meinen eigenen
emotionellen Schmerz genommen. Die einzige Hilfe für mich war, diese
verdammte, negative Art und Weise zu verändern, wie ich über mich
selbst dachte. Und selbst das war nicht die ganz grosse Hilfe, wenn
ich ehrlich sein soll. Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich
wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen,
die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da
draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn
ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen
liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren.
Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag
ein Sommererlebnis zu machen - und zulassen und aushalten lernen,
dass das manchmal wehtut."
Ich
finde dies eine ganz wunderbare und hilfreiche Maxime, nicht nur für
Alkoholiker, Drogenabhängie oder Depressive, sondern so recht
eigentlich für alle.
Akzeptieren
ist das Eine, Handeln das Andere und im Gegensatz zu den Therapien,
die auf eine Verhaltensänderung durch Einsicht hoffen, schlägt
Lechler den klassischen 12-Schritte-Grundsatz vor, dass richtiges
Handeln zum richtigen Denken führen wird: "Du musst lernen, 'so
zu tun als ob' - so zu tun, als ob du bereits wüsstest, wie man ein
liebevolles Leben lebt, selbst, wenn du noch gar nicht daran glaubst.
Denn irgendwann wird dieses Verhalten ein Teil von dir und dann
kannst du wieder in vollem Umfang zu deinem Nutzen an der
menschlichen Gemeinschaft teilhaben." Auch wenn ich
vorbehaltslos zustimme, sprachlich (es handelt sich um eine
Übersetzung) ist das schon ziemlich hölzern.
Was
es auch noch braucht, um zu gesunden? Den Mut aufzubringen, gegen
unsere Hauptsorge "Was sollen denn die Leute denken?"
anzugehen. In Lechlers Worten: "Diese Spielregel hat mehr
Menschen in einen Tiefschlaf versetzt und mehr Beziehungen ruiniert,
als jede andere, die ich kenne."
Übrigens:
"Von mir aus nennt es Wahnsinn" ist ebenfalls beim Santiago
Verlag erhältlich.
Santiago
Verlag
Joachim
Duderstadt e.K.
Asperheide
88
D-47574
Goch
http://santiagoverlag.de
Mittwoch, 16. Oktober 2024
Mein weiser Narr
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