"Ein Guide für Frauen" heisst es auf dem Umschlag der deutschen Aufgabe, bei der englischen Ausgabe, die übrigens Not Drinking Tonight heisst, fehlt der Hinweis. Mit anderen Worten: Der Titel der deutschen Ausgabe ist irreführend und allein dem Marketing geschuldet, denn ob ein Mann oder eine Frau süchtig ist, ist der Sucht egal – sie macht solche Unterscheidungen nicht.
Im Feld der Sucht (ich unterscheide nicht zwischen Alkoholismus, Drogensucht, Gaming, oder Handysucht) gibt es viele, ganz unterschiedliche Ansätze. Was beim einen wirkt, hat bei der anderen keine Chance. Und so ist natürlich auch durchaus möglich, dass bei einigen Frauen eine Therapeutin mehr bewirken kann als ein Therapeut. Das Gegenteil stimmt aber eben auch.
Auch mit den Anonymen Alkoholikern hat Amanda E. White Erfahrungen gemacht. "Diese Gruppe wurde zu meinem Unterstützungssystem, meinem Rettungsanker und machte mein Sozialleben aus. Einige meiner besten Freunde habe ich auf diesem Treffen kennengelernt." Sie findet einen Grossteil des Programms moralgetränkt, zudem könne die Starrheit des Programms Scham hervorrufen. Ich teile diese Auffassung nicht, finde im Gegenteil, dass Moral und Scham heutzutage leider fast ausschliesslich negativ besetzt oder kein Thema sind, weshalb denn auch gerade ein Mann ohne jegliche Moral zum amerikanischen Präsidenten gewählt wurde.
"Für mich besteht Schadensbegrenzung an erster Stelle. Es gibt so viele Menschen, die es nicht geschafft haben, abstinent zu werden, und sich dafür zutiefst schämten. In diesem Falle empfehle ich Ihnen, sich einen zugelassenen Therapeuten zu suchen." Die Autorin klingt, als ob Scham zu empfinden, ganz furchtbar sei. Sicher, das ist möglich, doch Scham kann auch ein exzellenter Motivator sein. Ob da zugelassene (d.h. diejenigen, die gemäss den gängigen Schulmodellen praktizieren) Therapeuten helfen können? Falls ja, dann meist trotz der standardisierten Ausbildung.
Amanda E. White ist lizenzierte Therapeutin, kennt Alkoholabhängigkeit aus eigener Erfahrung und will mit diesem Buch umfassend über Alkohol aufklären. Sie tut dies unter anderem anhand von Gesprächen mit einer 24jährigen Peruanerin, einer 21jährigen Weissen und einer 34jährigen Schwarzen. Vor allem kennzeichnend für diesen Ratgeber sind die vielen praktischen Anleitungen
"Im ersten Teil, Warum Sie trinken, erfahren Sie mehr über Ihre Psyche und darüber, wie Scham und Traumata mit Ihrem Alkoholkonsum verwoben sind." Nun ja, kein Mensch weiss, weshalb jemand wirklich trinkt. Dazu kommt, dass unsere Erklärungsmodelle mehr über unser Denken aussagen als darüber, was sie zu erklären glauben.
Zu den Erklärungsmodellen von Amanda E. White gehört die Evolution. Fressen oder gefressen werden, so funktioniert Evolution. Überlebt haben dabei die, so die Autorin, die vorsichtig gewesen sind. Unsere Vorfahren lebten in Kleingruppen, in denen es wichtig war, was andere über einen denken. Gut möglich, doch woher wollen wir das wissen? "Allerdings interessieren uns gemäss unserer evolutionären Entwicklung nur die Meinung von Menschen, die uns sehr gut kennen, und das sind maximal 150 Personen." 150 Personen, die uns sehr gut kennen? Das hat offenbar ein Professor aus Oxford herausgefunden. Nun ja, ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selber 150 Personen auch nur entfernt kenne ....
Die Ausführungen zur Scham (unter der die Autorin sehr gelitten hat) und zum Trauma sind nachvollziehbar, doch fehlt es an der Evidenz, denn wie alle Gefühlszustände sind sie nicht wirklich fassbar. Es handelt sich um Zuschreibungen. Auch die Vorstellung, man müsse über Verstecktes sprechen können, ist nicht viel mehr als ein Glaube. Wer daran glaubt, dem kann es helfen. Darüber hinaus ist das Darüber-Sprechen das Business-Modell der Therapeuten. Kein Wunder blüht in Asien das Therapie-Geschäft nicht, denn Asiaten verstehen nicht, weshalb man über alles sprechen sollte.
Fazit: Eine sachliche, gut aufgebaute Zusammenfassung der derzeit gängigen Überzeugungen in Sachen Umgang mit Alkohol.
Amanda E. White
Glücklich ohne Alkohol
Ein Guide für Frauen
Knaur Menssana, München 2024
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