Mittwoch, 20. November 2024

Verhaltenssüchte personenzentriert verstehen und behandeln

Was beim Einen funktioniert, kann bei der Anderen fehlschlagen. Was dem einen guttut, führt bei der Anderen ins Desaster. Das wissen wir. Und so gehen wir-in der Folge davon aus, dass das eigene Problem ein ganz spezielles sei und stellen uns vor, dass es eine auf uns abgestimmte Therapie geben müsste, die den spezifischen Eigenheiten unserer Person Rechnung trägt. Ob der personzentrierte Ansatz genau dies meint, weiss ich nicht, denn er wird in diesem Buch nicht erklärt, vielleicht habe ich es aber auch überlesen. Im Internet erfuhr ich  dann, dass der personzentrierte Ansatz den Menschen in den Mittelpunkt stelle und auf seine Fähigkeiten vertraue, sich selbst zu entwickeln. Mir gefällt dieser Ansatz, der meinem Ego schmeichelt. Für mich (ich habe eine Suchtpersönlichkeit auf meinen Lebensweg mitbekommen – Nein, nicht von meinen Eltern) ist das der falsche Ansatz, das weiss ich bereits nach einem Blick ins Inhaltsverzeichnis, wo Themen wie "Sucht und Migration", "Sucht und Traumatisierung" wie "Sucht und Männlichkeit" aufgeführt sind, denn mein Ego sollte nicht gehätschelt werden, ganz im Gegenteil. Klar doch, für andere mag das funktionieren.

Was meines Erachtens für dieses Buch spricht, ist sein Verständnis von Sucht, das erfreulicherweise nicht auf Substanzabhängigkeit beschränkt ist, sondern Glückspielsucht, Gaming, Streaming, Surfen im Internet. Sexsucht und Kaufsucht als Süchte begreift. Ich selber gehe noch viel weiter: Für mich ist Sucht dadurch definiert, dass man nicht fühlen will, was man fühlt. Und das meint: Man kann nicht bei sich verweilen, rennt dauernd davon. Zum Teil ist das biologisch bedingt (unser Gehirn ist antizipatorisch angelegt); zum Teil leben wir in einer Suchtgesellschaft, in der nichts jemals genug ist, sondern immer mehr und anderes gewollt werden soll. So ist der Kapitalismus.

Der Autor dieses Werkes leitet die Ambulante Suchthilfe Bethel in Bielefeld und erläutert sein Vorgehen an vielen Beispielen aus der Praxis. Diese Fallstudien sind höchst aufschlussreich. Etwa über die Therapie von Menschen mit Migrationshintergrund, die von ihren Familien häufig mit folgenden Aussagen konfrontiert werden: Hör doch einfach auf. Verliere niemals dein Gesicht. Bring keine Schande nach Hause. Probleme sind privat (und werden in der Familie gelöst). Erfülle die Rolle als Mann. Denk an Stolz und Ehre.

Nun ja, Solches hören auch viele Menschen ohne Migrationshintergrund. So könnten alle diese Aussagen auch locker von Asiaten (von China über Thailand bis Indonesien; ich habe selber einige Jahre in Asien zugebracht) stammen. Zudem: Dass muslimische Migranten die Glücksspielsucht häufig nicht als Krankheit akzeptieren und vom Therapeuten erwarten, dass er ein Rezept dagegen hat, ist auch in Europa und Amerika eine gängige Auffassung. Anstatt den Unterschieden (Frauen, Männer, Kultur, soziale Stellung etc.) Rechnung zu tragen, scheint mir sinnvoller, Gemeinsamkeiten zu betonen, denn so speziell wie wir meinen, sind wir alle nicht. 

Der personzentrierte Ansatz geht jedoch einen anderen Weg, bei dem der Therapeut einen behutsamen, verständnisvollen Ansatz pflegt. Das zeigt sich sehr schön in den Gesprächen in diesem Buch, die überaus aufschlussreich sind. Ja, so recht eigentlich lohnt sich die Lektüre allein dieser Gespräche wegen, weil sich darin zeigt, wie der Therapeut denkt. Und auch: Wovon er ausgeht: Dass die Erfahrungen der ersten Lebensjahre prägend sind, dass Schuld und Schamgefühle bearbeitet gehören, dass der Veränderungswunsch gestärkt werden soll usw.  So ist das gängige Denken der heutigen Zeit.

Der Therapeut hört zu, bestätigt, fasst zusammen, wiederholt in seinen Worten, was der Patient/Klient sagt. Dass der Patient/Klient so einsichtsvoll rüberkommt, hat natürlich wesentlich damit zu tun, dass da eine Grundbereitschaft zur Veränderung da zu sein scheint. Vieles an dem, was der Therapeut beiträgt, mag einem banal vorkommen. Das ist es auch – und liegt daran, dass es das auch ist. Dass eine Therapie gelingen kann, liegt nicht am Fachwissen des Therapeuten, sondern an seiner Fähigkeit, präsent zu sein, als ruhiger, unaufgeregter, verständnisvoller Pol.

Der Therapeut in diesen Gesprächen ist ausgesprochen einfühlsam, kontrolliert und sehr rational. Erstaunlich finde ich, wie rational zugänglich und einsichtsvoll sich die Patienten/Klienten zeigen. Zugegeben: Mich verblüfft die Vorstellung generell, dass Einsichten zu Verhaltensänderungen führen können, doch die angeführten Beispiele sind allesamt Erfolgsgeschichten

Frank Gauls
Verhaltenssüchte personzentriert verstehen und behandeln
Ernst Reinhardt Verlag, München 2024

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