"Ich sehe selbst jetzt, mit Anfang dreissig, noch ziemlich jung aus", lese ich in der Einleitung und in mir denkt es, was soll mir eine junge Frau, die seit ein paar Jahren in der Palliativpflege arbeitet, schon über Leben und Tod erzählen können. Nun ja, Thomas Mann war 26, als die Buddenbrooks, und Norman Mailer 25, als Die Nackten und die Toten erschienen. Mit anderen Worten: Das Alter sollte kein Kriterium für die Beurteilung eines Textes sein.
Der erste Eindruck: Frisch, sympathisch, ehrlich und unprätentiös. Und so geht es auch weiter. Mit anderen Worten: Zwischen den Welten ist ein Buch, das ich gerne lese. Hadley Vlahos schreibt anschaulich von ihrem Leben und von ihrem Beruf, berichtet von ihren Unsicherheiten und von dem, was ihr auffällt, sie berührt und ihr Herz erreicht.
Zwischen den Welten ("The In-Between" im englischen Original) ist ein treffender Titel, denn von dem, was wir manchmal erahnen und oft nicht wirklich zuordnen können, handelt dieses Buch. Da ist Glenda, die mit ihrer unsichtbaren, verstorbenen Schwester redet; da ist Carl, der Besuch von einem kleinen, blauen Vogel bekommt. Was die beiden wahrnehmen, bleibt denen, die nicht dem Tod nahe sind, unerklärlich und rätselhaft.
"In de Schwesternschule lernt man, wie man Patientinnen und Patienten heilt – oder es zumindest versucht. Aber nicht, wie man ihnen ein Gefühl der Geborgenheit gibt." Es braucht auch Talent, Lebensneugier sowie die Bereitschaft, sich auf ganz unterschiedliche Menschen einzulassen. Nicht alles lässt sich lernen, ob man geeignet ist für diesen Beruf findet man erst in der Praxis heraus.
Hadley Vlahos schildert nicht nur ihre Begegnungen mit Pflegebedürftigen, sondern berichtet auch von ihrer Ausbildungszeit und wie sie von einer resoluten Schwester unter ihre Fittiche genommen wurde, die ihr mit ihrer no-nonsense Art und Weise Wesentliches beibrachte und über viel trockenen Humor verfügte. "Eine höhere Macht, die all das zulässt, was wir jeden Tag sehen, ist nicht unbedingt das, was ich in der Ewigkeit kennenlernen möchte." .
Für die Medizin und die Pflege ist kennzeichnend, etwas zu tun, aktiv zu werden, zu helfen. Die Einsicht, dass man nichts mehr tun kann, ist überaus schwer zu ertragen. Als Hospizschwester lernte Hadley jedoch auch, dass einfach da zu sein, oft genügte. Denn dies bedeutet, Geborgenheit und Verbundenheit zu vermitteln.
Was sie auch lernte: "Patienten, die allen möglichen Religionen angehörten oder gar nicht religiös waren, machten spirituelle Erfahrungen, die ich nicht ignorieren konnte." Auch ihr Bild von Alzheimerpatienten veränderte sich. "Mittlerweile glaube ich – natürlich ohne es beweisen zu können – , dass Alzheimerpatienten zwar körperlich immer noch in dieser Welt sind, aber ab einem bestimmten Punkt stehen sie bereits mit beiden Beinen dort, wohin wir alle als Nächstes unterwegs sind, auf der anderen Seite."
Zwischen den Welten macht uns nicht nur auf Zwischenwelten aufmerksam, sondern erzählt noch von ganz vielen anderen, unerklärlichen Dingen, die Hadley Vlahos und anderen zugestossen sind. Sie begreift sie als Hinweise auf eine Realität, die wir selten wahrnehmen, doch die den Schluss nahelegen, dass wir durchs Leben geleitet werden.
Fazit; Ein sehr sympathisches Buch, das vielfältig anregt, vertrauensvoll und dankbar durch das Mysterium des Lebens zu gehen.
Hadley Vlahos
Zwischen den Welten
Was ich als Hospizschwester
über die Grenzen zwischen
Leben und Tod gelernt habe
Kösel, München 2024
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