Mittwoch, 27. Dezember 2023

Just do it!

 Getting older primarily means losing interests, convictions, and long held beliefs. In any case, this is what I'm experiencing. 

I used to be much taken with the workings of the media – nowadays the vanity of attention seekers disgusts me. That hardly anybody seems to realise that media people are addicted to attention, baffles me. That we should listen to such people is beyond me.

Also, throughout my life I've never questioned the rule that one should always listen to the other side. Well, I don't think so anymore. I clearly do not need to listen to people who only have opinions but hardly ever a thought. It goes without saying that thinking demands an effort, to have an opinion doesn't.

Moreover, I've never doubted that intellectual insights had the potential to make you a better person. Over the years, my respect for the thinkers with academic qualifications has however markedly decreased – they have only learned to think in systems; they hardly know anything about life.

Last but not least, one of my long held beliefs was that to see things in black and white was reserved for people who couldn't see all the grey inbetween, the simpletons, that is. Today I believe that to underline the complexity of whatever issue (the business model of psychologists, economists, and lawyers) is standing in the way of the actions that we know we have to take but shy away from. For instance, when you're an alcoholic, the solution, as I see it, is to stop drinking. It's black and white. And, it has the advantage of being simple. Just do it! That is complicated? No, it isn't. You make it complicated because you do not want to change.

Santa Cruz do Sul, 16 December 2023

Mittwoch, 20. Dezember 2023

Älter werden

In Santa Cruz do Sul am 8. Dezember 2023

Je älter ich wurde, desto weniger verstand oder erkannte oder wusste ich mich. Ich bin über mich erstaunt, enttäuscht, erfreut. Ich bin betrübt, niedergeschlagen, enthusiastisch. Ich bin das alles auch und kann die Summe nicht ziehen. Ich bin ausserstande, einen definitiven Wert oder Unwert festzustellen, ich habe kein Urteil über mich und mein Leben. In nichts bin ich ganz sicher. Ich habe keine definitive Überzeugung – eigentlich von nichts. 

Ich weiss nur, dass ich geboren wurde und existiere, und es ist mir, als ob ich getragen würde. Ich existiere auf der Grundlage von etwas, das ich nicht kenne. Trotz all der Unsicherheit fühle ich eine Solidität des Bestehenden und eine Kontinuität meines Soseins. [...] 

Und doch gibt es so viel, was mich erfüllt: die Pflanzen, die Tiere, die Wolken, Tag und Nacht und das Ewige in den Menschen. Je unsicherer ich über mich selber wurde, desto mehr wuchs ein Gefühl der Verwandtschaft mit allen Dingen.

C.G. Jung: Erinnerungen, Träume Gedanken

Mittwoch, 13. Dezember 2023

Sucht ist eine Haltung

Gefühle der Klarheit, dass es so wie bisher nicht weiter gehen kann, hat jeder Süchtige. Harry hatte viele, doch er nahm sie nicht wirklich wahr. Bis dann der Tag gekommen war, an dem er aus Gründen, die er nicht wirklich verstand, nicht mehr zur Flasche griff. Dass er seither nie mehr das Bedürfnis hatte, zu trinken, war ein Wunder, das damit begonnen hatte, dass er nicht mehr nur nicht mehr trinken wollte, sondern es auch nicht mehr tat.

Süchtig blieb er, denn Sucht ist nicht an eine Substanz gebunden, Sucht ist eine Haltung. Nichts, was auch immer es war, war ihm je genug. Dies zu wissen, half. Manchmal.

Lac de Bret. Er musste in Chexbres umsteigen, einem Bahnhof, an dem er auf dem Weg nach Lausanne immer vorbei gefahren war. Moreillon, wo er hin musste, war auf keinem Fahrplan vermerkt. Ein Postauto fuhr heran, der Chauffeur, ein freundlicher Schwarzer, hatte noch nie von Moreillon gehört, er fahre erst sei drei Monaten Postauto. Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein, Palézieux, sagte die Anzeigetafel. Das konnte nicht richtig sein, da kam er doch gerade her. Aber es war der richtige, ein Bummler, der an jeder Station hielt, was der, mit dem er gekommen war, nicht getan hatte. In Moreillon war er der Einzige, der ausstieg. Er suchte nach einem Hinweisschild für den Lac de Bret, doch er fand keines und so begann er der Hauptstrasse zu folgen, Nach einigen hundert Metern kam er zu einer Abzweigung, Ein Motorrad näherte sich, auf sein Haltezeichen stoppte es. Die Fahrerin war ein junges Mädchen von etwa fünfzehn Jahren. Ja, er sei richtig und solle einfach weitergehen bis zu dem Haus dort – sie zeigte in Richtung Hügel – und dann links über den Golfplatz. Wie weit es sei? Etwa fünfzehn, zwanzig Minuten. Es waren dann eher vierzig, doch das störte ihn nicht, im Gegenteil, er genoss seinen Spaziergang an diesem sonnigen Herbsttag. Abgesehen von einem jungen Mann in einem Auto, der ihm anbot, ihn mitzunehmen, war er alleine auf der Strasse. Die Stille und das Licht waren magisch.

Eigenartig, dass ihn die Schweiz früher nie wirklich interessiert hatte. Wobei, das stimmte gar nicht. In Fribourg und Lausanne hatte er gewohnt. Und in Bellinzona, Schwyz, Basel und Zürich.

Nach der Beerdigung eines Freundes seines Vaters traf man sich zum Imbiss. Harry kam neben einen Mann zu sitzen, der nur redete, wenn er angesprochen wurde und so sprach er ihn an. Er sei Treuhänder, sagte der Mann, ohne Diplom. Er stamme aus einer Bäckerei und Konditorei-Dynastie am Vierwaldstättersee, habe das seit fünf Generationen in der Familie befindliche Unternehmen weiterführen wollen, doch der Vater habe ihn für ungeeignet befunden und aufs Gymnasium geschickt. Nach der Matura habe er dann angefangen Philosophie zu studieren, doch da die Fragen, die ihn umtrieben – woher kommen wir, was machen wir hier, wohin gehen wir – von den Professoren nicht beantwortet worden seien, habe er nach zwei Semestern hingeschmissen und sei Treuhänder geworden. Ungelernter, betonte er von Neuem, und deshalb tauglich für Rettungsinterventionen unterschiedlichster Art, bei denen Diplomierte versagen.

Im Fernsehen ein Film, der in Macao spielte. Er erinnerte sich an die Zeit, die er dort und in Hong Kong verbrachte hatte. Die Aufregung, das Prickeln auf der Haut, das Herz, das jauchzte ob des Neuen, Orientalischen, Exotischen. Wo war nur diese Begeisterung geblieben?

Ist es nicht ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, wir könnten unser Ziel erreichen und damit unsern Sinn erfüllen, indem wir wissentlich leben, wie wir nicht leben sollten?“, las er in Hans Albrecht Mosers Vineta und wurde ungehalten, ja wütend über sich selber, da er selten tat, was er wusste, dass er tun musste, um mit sich zufrieden zu sein.

In der 'New York Times', ein Bericht darüber, wie Deeprak Chopra seine Sonntage verbringt. Nach dem Aufwachen morgens um fünf bleibt er zehn Minuten liegen und starrt an die Decke. Seither blieb Harry auch liegen – und betrachtete die Bäume durchs offene Fenster.

Einer Freundin war von demselben Artikel geblieben, dass Chopra nur eine grosse Mahlzeit pro Tag zu sich nehme. Sie trainiere das jetzt auch, es sei nicht ganz einfach, mache jedoch Spass und sie habe mehr Zeit für andere Dinge. Er beschloss, es ihr nachzutun.

Hans Durrer: Harrys Welt oder die Sehnsucht nach Sinn, neobooks 2019

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Also sprach Zarathustra

Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Menschen: nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!

Einen neuen Willen lehre ich die Menschen: diesen Weg wollen, den blindlings der Mensch gegangen, und gut ihn heissen und nicht mehr von ihm beiseite schleichen, gleich den Kranken und Absterbenden!

Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker: so entdeckte er vieler Völker Gutes und Böses. Keine grössere Macht fand Zarathustra auf Erden als Gut und Böse.

Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und Schmach: also fand ich’s. Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen Ehren geputzt.

Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit.

Und jeder, der Ruhm haben will, muss sich beizeiten von der Ehre verabschieden und die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit – zu gehen.

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra

Mittwoch, 29. November 2023

One day at a time

 One day at a time is not only good advice when it comes to fighting an addiction, it is also a wise recipe for living your life for it helps to bring the noise in your head to an occasional standstill

In practical terms it means to take your time, to not rush things, to regularly pause ... and to just look, listen, and feel.

Sargans, Switzerland, 1 July 2023

I'm writing this on a day for which I had plans – I wanted to take the train and gor for a walk in one of the nearby valleys. The weather however was stormy and so I decided to drop this idea. So what would I do instead on this Saturday?

I continued with a book that I was supposed to review – interviews with nobel laureates of literature. Many of the questions revolved around their work and did not particularly interest me. Once in a while, a laureate said something that made me pause. Garcia Marquez, for instance, said that he learned from Faulkner and Hemingway the technique of the inner monologue. Contrary to my ususal impulse which is to go on reading, I stayed with that thought for quite a while. Likewise with Doris Lessing's remark about her father who after World War I found it impossible to settle again in small, well-ordered  Britain.

To stay with a thought and the pictures in my head that it creates is quite contrary to my nature that is subjected to my restless brain that is constantly pressing forward. This Saturday afternoon however I did not give in to my brain's demands. Instead I opted for one thought at a time.

Mittwoch, 22. November 2023

Phobien & Manien

 
"Wir werden alle getrieben von unseren Ängsten und Sehnsüchten, und nicht selten sind wir sogar ihre Sklaven." Mit diesem Satz beginnt Kate Summerscale Das Buch der Phobien & Manien. Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen. Es war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, der im Jahre 1786 den Anstoss gab, derartigen Fixierungen Namen zu geben. Er verstand "Phobie" und "Manie" als psychologische Probleme. Heutzutage muss eine Furcht, um als Phobie diagnostiziert zu werden, "exzessiv und unangemessen sein und bereits sechs Monate oder länger dauern." 

Die Meinungen über die Gründe für diese Zustände gehen weit auseinander. Kate Summerscales Herangehensweise ist nicht interpretativ, sondern beschreibend. "Eine Phobie oder eine Manie wirkt wie ein Zauber. Sie versieht einen Gegenstand oder eine Handlung mit einer geheimnisvollen Bedeutung und gibt ihnen die Macht, uns in Besitz zu nehmen und zu verwandeln. Diese Zustände können durchaus bedrückend sein, doch sie bezaubern die Welt um uns herum auch und machen sie so schaurig und lebendig wie ein Märchenland. Die haben uns buchstäblich fest im Griff, wie mit Zauberhand, und offenbaren damit unsere eigene Wunderlichkeit." Man sollte sich für diese Worte Zeit nehmen, auf dass sich einem erschliessen möge, dass diese gemeinhin negativ-konnotierten Begriffe auch ganz anders gesehen werden können.

99 Obsessionen? Ganz schön viel, ich bin ziemlich erstaunt. Sicher, von einigen hat man gehört, der Nymphomanie zu Beispiel. Als Mittel dagegen, empfahl 1856 ein Arzt seiner Patientin, "eine Zeitlang auf Sex zu verzichten, Weinbrand und andere Genussmittel zu meiden, das Schreiben zu unterlassen (sie arbeitete an einem Roman) und ihre Vagina mit einer Boraxlösung auszutupfen. Sofern sie nicht ihre Fantasien zügele, warnte er, lande sie womöglich in einem Irrenhaus."

Die Furcht vor Schmutz war mir hingegen nicht bekannt. Genauso wenig die Dromomanie, das zwanghafte Weglaufen. Auch  die Nomophobie, wie die Handyabhängigkeit auch genannt wird, habe ich bisher nicht als Obsession begriffen, obwohl sie es zweifellos ist. "Allerdings hat sich unsere Abhängigkeit von Telefonen inzwischen so sehr verstärkt, dass sich nur schwer ermessen lässt, an welchem Punkt sie überhaupt in eine unnatürliche Obsession übergeht."

Bei nicht wenigen Manien war mir das Phänomen bekannt, der Ausdruck dafür jedoch nicht. so bezeichnet Arithmomanie eine pathologische Lust am Zählen. Die illustrativen Beispiele, die Kate Summerscale aufführt machten mich laut herauslachen. Etwa: " ... interpretierte Sigmund Freud in Wien das obsessive Zählen von Dielen und Stufen bei einer jungen Frau als den Versuch, sich von ihren erotischen Fantasien abzulenken." Das klingt eher nach einer Selbstauskunft als nach einer Analyse. Oder: "Der serbischstämmige Ingenieur Nikola Tesla war besessen von der Zahl drei. Der Erfinder einer frühen Form des Wechselstrommotors lief dreimal um ein Gebäude, bevor er es betrat, und achtete darauf, dass die Anzahl seiner Schritte stets durch drei teilbar war, bevor er stehenblieb."

Apropos Zahlen: "Eine irrationale Angst vor der Zahl vier (tessares auf Altgriechisch) kommt in ostasiatischen Ländern häufig vor, da in mehreren Sprachen (zum Beispiel Mandarin, Kantonesisch, Koreanisch und Japanisch) das Wort für 'vier' ganz ähnlich klingt wie das Wort für 'Tod'". Obwohl die Tetraphobie für viele nur gerade eine milde Form des Aberglaubens ist, belegte eine Studie über Todesfälle in den USA, dass bei Amerikanern asiatischer Herkunft, die tödlichen Herzanfälle am vierten Tag des Monats signifikant höher lagen.

Sehr schön zeigt Das Buch der Phobien & Manien, dass unsere Einschätzung von "Aus-dem-üblichen-Rahmen-Fallendem" in hohem Masse den Zeitgeist widerspiegelt, Dabei erfährt man auch viel Skurriles. So gab es in den 1890er Jahren eine regelrechte Lauf-Epidemie, also Menschen, die mit dem Laufen nicht mehr aufhören konnten. Und man erfährt von den Collyer-Brüdern, zwei reichen New Yorkern, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts 170 Tonnen an Gegenständen horteten. Dieses schön gestaltete Werk ist eine wahre Fundgrube an Eigenartigem und Faszinierendem

Erhellend, amüsant und lehrreich.

Kate Summerscale
Das Buch der Phobien & Manien
Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen
Klett-Cotta, Stuttgart 2023

Mittwoch, 15. November 2023

Shaolin Spirit

Shi Heng Yi, der Autor dieses Werkes wurde 1983 in  Kaiserslautern geboren. Seine Eltern stammen aus Laos und gehörten zu den boat people, die damals vor den anrückenden Vietcong flohen. "Meine Eltern haben massgeblich dazu beigetragen, dass ich den Shaolin-Weg beschritten habe, indem sie mich von klein auf geistig und in meiner Lebenshaltung geprägt und mir die konfuzianischen Tugenden nahegebracht haben."

Die konfuzianischen Tugenden sind so recht eigentlich universelle Tugenden wie Menschlichkeit/Nächstenliebe, Gerechtigkeit/Rechtschaffenheit, Riten/Sittlichkeit, Weisheit sowie Aufrichtigkeit/Verlässlichkeit. Und auch der Shaolin-Orden praktiziert ein universelles Prinzip, das sich mit mens sana in corpore sano charakterisieren lässt.

"Es kommt auf das Jetzt an", lese ich in der Einführung in den Shaolin Spirit, der mit einer respektvollen Verbeugung beginnt, die uns daran erinnern soll, "dass die Person, mit der wir gerade zu tun haben, in diesem Augenblick mit uns verbunden ist. Es kommt auf diesen Augenblick an, darauf, in der Gegenwart zu leben und sich darüber bewusst zu werden, was hier und jetzt ist – denn das Jetzt ist der Moment, in dem Leben passiert, und nur im Jetzt können Veränderungen stattfinden."

Shaolin ist eine Kampfkunst, die im Buddhismus gründet. das Ziel ist, im Gleichgewicht zu sein, geistig und körperlich. Dieses Buch erläutert zahlreiche Methoden wie zum Beispiel die Regulation der Atmung, die helfen sollen, dieses Ziel zu erreichen. Unterschieden und geübt werden können die Tiefe, die Dauer und der Rhythmus der Atmung.

"Die Shaolin-Tradition ist untrennbar mit dem Buddhismus verbunden, insbesondere mit dem Chan- oder Zen-Buddhismus." Der Buddhismus gründet in den vier edlen Wahrheiten, die der Autor in einfachen Worten und an praxisnahen Beispielen überzeugend darzustellen weiss. Dabei ist die rechte Einsicht wesentlich, wir müssen die Dinge erkennen, wie sie sind. "Nicht alles, was im Leben geschieht, hängt von uns ab. Doch immer liegt es in unserer eigenen Hand, wie wir mit der jeweiligen Situation umgehen – wir können uns immer wieder neu ausrichten."

Übrigens: Die Dinge zu erkennen, wie sie sind, meint unter anderem: Alles ist vergänglich; was kommt, geht auch wieder. Es gehört zu den Vorzügen dieses schön gestalteten Werkes, dass es Shi Heng Yi ausgezeichnet versteht, buddhistische Wahrheiten zu vermitteln.

Buddhisten halten das Ich für eine Illusion, eine Vorstellung, mit der Westler so ihre liebe Mühe haben. Ich denke, also bin; es sind meine Empfindungen, die mich ausmachen – so sehen es Westler. Nein, meint der Buddhist, "Gefühle und Gedanken kommen und gehen. Ich lasse sie einfach los." Mit anderen Worten: "Die Emotionen zu kontrollieren bedeutet nicht, keine Emotionen zu haben. Vielmehr sind wir frei geworden von dem willkürlichen Diktat der Gefühle und Erwartungen. sei es der eigenen oder derjenigen anderer Menschen."

Shi Heng Yi führt das Beispiel des Heisshungers an, der uns während einer Diät anfallen kann, dem wir nicht ausgeliefert sind, wenn wir wahrnehmen, beobachten und ihn als das erkennen können, was er ist  "eine Körperempfindung, nicht mehr und nicht weniger." Nochmals anders gesagt: Ich bin weder meine Gefühle noch meine Gedanken. Indem ich sie als das betrachte, was mir zustösst und mich wieder verlässt, verlieren sie an Bedeutung und belasten mich nicht.

Wer genau hinschaut, wird realisieren, dass er sich oft selbst im Weg steht. Es liegt meist nicht an den Einsichten, dass wir nicht so leben, wie wir gemäss unserer Vorstellung leben sollten, es liegt daran, dass wir zu wenig oder gar nicht praktizieren, was wir wissen, das wir praktizieren sollten. Fünf wesentliche Hindernisse führt Shi Heng Yi an. Eines will ich hier anführen: Mentale und/oder körperliche Trägheit. Und was ist dagegen zu tun? "Stärke deinen Körper und dein Geist wird folgen. Lerne Ausdauer, Wille und Vertrauen in dich über den Körper."

The readiness is all, sagt Horatio in Hamlet. Shi Heng Yi drückt es so aus: "Deine Geisteshaltung – wie die eines jeden Menschen – bestimmt über Erfolge und Misserfolge." Mit Erfolg meint er übrigens nicht, was wohl die meisten Westler, die nach dem Äusseren streben und wettbewerbsorientiert denken, darunter verstehen, "Ich stehe nicht mehr im Wettbewerb mit anderen, sondern nur noch mit mir selbst." Erfolg bedeutet, Meister seiner selbst zu sein.

Fazit: Ein schön gestaltetes, überaus anregendes, hilreiches und lebenspraktisches Buch, illustriert mit zahlreichen Übungsanleitungen.

Shi Heng Yi
Shaolin Spirit
Meistere dein Leben
O.W. Barth, München 2023

Mittwoch, 8. November 2023

Time is an Illusion

Bucharest, Romania, 9 May 2023

After twenty years of writing on photography (pondering questions of perception, that is), I've started to regularly take photos myself. Soon I discovered my fascination for, among quite some other things as the pics on this site demonstrate, trees and clouds (examples you will find here). When the other day I was going through photos I had taken many years ago I felt quite stunned that taking photographs of trees and clouds was quite obviously something that I had always done.

The same applies to my view of the world: It seems to have been the same all along. I realised that (albeit not for the first time) when I recently told one my brothers that only the present exists and that the past as well as the future were illusions (helpful ones, of course, for they allow us to organise our lives and help watchmakers to make money) since I can only experience the present, my brother let me know that I had always argued like that. In other words, what I thought to be a new discovery turned out to be a defining feature of my existence.

Bilbao, Spain, 25 April 2023

Throughout my life I have been interested in Zen (or what I thought to be Zen). We are perfect but do not know it, is one of the sayings I've tried to come to terms with. In the course of grappling with this issue I concluded that the surest way to go nuts is to load what happens to you with (supposed) meanings. So how could we possibly rid ourselves of this need for meaning?

By simply observing ourselves we realise that everything works the way it is meant to work. We walk and talk, look and hear without making much of a conscious effort. And then, one day, all this stops. Just like that. It is all very strange and too much for us to comprehend. And although it is part of our nature to try to make sense of whatever, I nowadays tend to believe it might be better to simply experience life as it presents itself. For as the Zen saying goes: If you understand, things are just as they are. If you do not understand, things are just as they are.

Mittwoch, 1. November 2023

The art of dying

Medieval art-of-dying books are notable today for their lack of interest in explaining the death medically; they make no attempt to avoid or delay it. The Moriens („the dying-one“) character never dies of anything. His time is simply up, and he is about to die. That is all we need to know. None of his friends ever suggests that he should concentrate on getting better or that he still has many happy years ahead of him. This is, of course, a prerequisite for being able to talk about your own death with honesty and in detail.

Sarah Tarlow: The archaeology of Loss

Mittwoch, 25. Oktober 2023

Der grosse Rausch

Was sind eigentlich Drogen?, fragt Helena Barop in der Einleitung zu Der grosse Rausch, um dann, wie das akademisch Ausgebildete eben so tun (die Autorin, geboren 1986, studierte Geschichte und Philosophie), die übliche Komplexität aufzufahren (ja, sie hat ihre Hausaufgaben gemacht), die sie in der Folge einleuchtend und nachvollziehbar runterbricht auf: Was Drogen heute sind, bestimmt die Politik. .
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Opium, Kokain und Heroin galten einst als Medizin (für viele, die als Süchtige enden, ist das – jedenfalls am Anfang  nach wie vor so). Doch mit der Zeit begann man zu realisieren, dass diese Arzneien auch nicht gewünschte Auswirkungen haben. Viele kriegten Angst – der Grund lag in Chinatown. Wie das? Lesen Sie dieses Buch!

Obwohl Der grosse Rausch vorwiegend die Geschichte der Drogen und der Drogenpolitik aufzeigt, äussert sich die Autorin auch zum Begriff der Sucht und stellt dabei unter anderem fest, dass bei Sucht und Substanzkonsum so recht eigentlich "durchgehend mit moralischen Kategorien beschrieben, beurteilt und vermischt" argumentiert worden sei. "Bis heute schwingt diese moralische Konnotation besonders in dem Wort 'Sucht' mit." Stimmt, doch was soll daran falsch sein? Versteht ein Süchtiger seine Sucht als moralische Verfehlung, kann das sogar hilfreich sein, denn Schuldgefühle können auch motivieren. Trotz vieler Forschungen und intensivem Nachdenken darüber, weshalb der eine süchtig wird, die andere jedoch nicht, können wir nach wie vor nur rätseln – die einen informierter, die anderen weniger.

Für Helena Barop scheinen Moral und moralistisch dirty words zu sein. Für mich nicht, im Gegenteil:  Das weitgehende Fehlen von moralischen Erwägungen ist ein Kernübel unserer Zeit. Nein, nicht die bigotten Moralisten, natürlich nicht, doch dass sich die "Idee, Entziehungskuren als Sühnegelegenheit zu interpretieren" bis in die Gegenwart gehalten hat, finde ich, im Gegensatz zur Autorin, die wie jemand argumentiert, die über Sucht gelesen, diese aber nicht erfahren hat, absolut stimmig. Dass Substanzabhängigkeit vielschichtig ist und von ganz unterschiedlichen Faktoren ausgelöst wird, weiss man übrigens auch ohne Forschung.

Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute sagt der Untertitel. Obwohl ich daran zweifle, dass es in der Geschichte eindeutige Antworten auf Warum-Fragen gibt bzw. geben kann, schält die Autorin schön heraus, wovon sich die sogenannten Drogenpolitiker haben leiten lassen. Im 19. Jahrhundert war es das "Zusammenspiel von Nationalismus, Rassismus und protestantischem Moralismus", das die amerikanische Auseinandersetzung mit dem Drogenkonsum prägte.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam in Amerika die Alkoholprohibition sowie der Harrison Act, der den Handel mit Kokain und Co unter Strafe stellte. Treffend spricht Helena Barop von Sittlichkeitsgesetzen, die darauf abzielten "das Verhalten des Individuums zu kontrollieren und die Gesellschaft zu einem möglichst sündenfreien Ort zu machen." Allerdings ist das wenig überraschend, denn unsere Rechtsordnung beruht auf christlichen Werten.

Der grosse Rausch – und das gefällt mir ganz besonders – weist auch darauf hin, dass der hedonistische Drogenkonsum der Beats in den 1950er- und 1960er-Jahren nichts anderes als das klassische kapitalistische Konsumverhalten war. "We want the world and we want it now" hiess es ein paar Jahre später. Mit anderen Worten: Suchtverhalten definiert als Mehr-Mehr-Mehr von Was-Auch-Immer ("I can't get no satisfaction") ist die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft.

Was dieses Buch vor allem deutlich macht: Drogenpolitik orientiert sich nicht primär an den Bedürfnissen der Suchtabhängigen, sondern am reibungslosen Geschäfte-Machen. Zementiert werden sollen die bestehenden Verhältnisse, denn nichts fürchtet der Mensch mehr als Ungewissheit.

Helena Barop plädiert für eine nüchterne, faktenbasierte Drogenpolitik. Ihre am Schluss des Buches präsentierten Vorschläge sind einleuchtend – und vermutlich deswegen zum Scheitern verurteilt. Natürlich können Drogen Heilmittel sein und ist der Rausch nicht an sich böse. Nur verkennt das, weshalb der Mensch zu Substanzen greift, die er als Medizin empfindet: Weil er nicht fühlen will, was er fühlt. Weshalb das bei einigen zu pathologischem Drogenkonsum führt und bei anderen nicht, erklärt sich Helena Barop nicht nur mit der Droge, sondern auch damit, dass ein handfester Grund für den Drogenkonsum vorliegen müsse. Das stimmt zweifellos, doch wenn es wirklich so simpel wäre, müsste die Genesungsrate definitiv höher sein. Doch das wäre nochmals eine ganz andere Geschichte.

Fazit: Erhellende Aufklärung; Pflichtlektüre für Drogenpolitiker.

Helena Barop
Der grosse Rausch
Warum Drogen kriminalisiert werden
Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute
Siedler, München 2023

Mittwoch, 18. Oktober 2023

On Reasons

The other day, when returning from a Swisscom shop, I got an SMS that asked how I rated the service that I had just received. Excellent, I replied. Please explain your reasons, I was the asked. Did they need an explanation for my being content with their service? Do they have a brain? And if so, are they getting payed for not using it?

Most people seem to believe that they know why they feel the way they feel. Well, they're wrong. They haven't the foggiest idea why they feel how they feel. In any case: There are no straight answers to why-questions that relate to feelings, there are just interpretations and rationalisations respectively.

I happen to believe that reasons are completely overrated for they can only be given in hindsight. We act – and then the consciousness kicks in and tells us why we acted the way we did. However, our brain doesn't give us the real reasons (if there are any), it tells us what we are able to understand – which is amazingly little and driven by the desire that it should make sense

I do not need reasons to feel shitty, I do not need reasons to feel splendid. I'm like any other being, a flower for instance, that doesn't need a reason to blossom. It does so because this is what flowers do.

Chur, Switzerland, 5 October 2023.

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Psychiater und Patienten

 Geisteskrankheit ist eine Krankheit. Was sonst? Aber sie befällt ein Organ, von dem wir so wenig verstehen, als würde es Marsbewohnern gehören. Abweichendes Verhalten ist wahrscheinlich bloß ein Mantra. Es verbirgt mehr, als es enthüllt. Zu den Problemen, mit denen sich der Therapeut konfrontiert sieht, gehört, dass der Patient vielleicht gar nicht geheilt werden will.

Die Ärzte scheinen ausser Acht zu lassen, mit welcher Sorgfalt die Welt der Verrückten gestaltet ist. Eine Welt, der sie, wie sie glauben, auf den Grund gehen, während sie das in Wirklichkeit natürlich nicht tun.

Kürzlich haben sich ein Dutzend Psychiater als Patienten in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen aufnehmen lassen. Es war ein Experiment. Sie sagten, sie würden Stimmen hören, und wurden sofort als schizoid diagnostiziert. Aber die anderen Insassen haben sie durchschaut. Sie haben sie angesehen und ihnen gesagt, sie seien gar nicht verrückt, sondern Reporter oder so. Und dann haben sie sie einfach stehen lassen.

Aus: Cormac McCarthy: Stella Maris

Mittwoch, 4. Oktober 2023

Masterplan Gesundheit

Mit "Den Geist jung halten und zwanzig Jahre länger leben" preist der Verlag dieses Buch an, und in mir denkt es, die Gier nach immer besser und immer mehr, macht offenbar vor gar nichts Halt. Wer, um Himmels Willen, will bloss zwanzig Jahre länger leben?! Also ich definitiv nicht. Ob sich meine Biologie davon beeinflussen lässt, ist natürlich eine ganz andere Frage. Autor Jörg Blech sieht das anders: "Je besser wir die wahren Bedürfnisse unseres Körpers kennen, umso beflügelter werden wir sein, sie ihm auch wirklich zu erfüllen."

Als der 70jährige Hirnchirurg Henry Marsh Bilder seines Gehirns auf dem Computer Monitor betrachtete, sah er eine geschrumpfte und verwelkte Version dessen, was es einstmals gewesen war. Mit anderen Worten: Wie auch immer man sich fühlen mag (und die meisten bleiben dabei sowieso in der Pubertät stecken), biologisch altern wir. Sicher, ein gesunder Lebensstil wird die Auswirkungen des Alterns verzögern. Doch ist ein langes Leben wirklich eine gute Sache? So meinte Schopenhauer: "Ein sehr langes Leben zu begehren, ist jedenfalls ein verwegener Wunsch. Denn: wer lange lebt, hat viel Leid zu ertragen, sagt das spanische Sprichwort."

 Autor und Medizinjournalist Jörg Blech ist studierter Biologe und sieht das weniger philosophisch als praktisch und wird offenbar viel gelesen. Sein Die Heilkraft der Bewegung ist ein Klassiker, wie dem Klappentext zu entnehmen ist. Kein Wunder, preist er auch im vorliegenden Buch die Bewegung – zu Recht, wie das einem ja auch der gesunde Menschenverstand sagt. Zudem ist dieses Buch vielfältig informativ, beschränkt sich nicht nur auf gute Ratschläge, sondern regt auch an, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen. 

Die Erkenntnisse des Autors, dem es wesentlich darum geht, wie man den Körper gesund halten kann, sind das Resümee seiner 25 Jahre als Medizinjournalist. "Das Buch ist das Fazit der wissenschaftlichen Studien zum Thema Gesundheitsprävention." Und darüber hinaus didaktisch gut aufgebaut, mit jeweils einem Zwischenfazit am Kapitelende.

"Zu Leib und Seele kursieren viele Vorstellungen, die wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind." Das wundert nicht wirklich, ist doch die Wissenschaft (wie alles andere auch) in ständiger Veränderung begriffen. Allerdings: "Trugschlüsse und Irrtümer der Medizin sind schwer zu erkennen, weil sie einleuchtend klingen, auch von Ärzten weitergetragen werden und im öffentlichen Bewusstsein fest verankert sind." So werden etwa Patienten nach Diagnosen routinemässig zur Passivität angehalten, obwohl Aktivität der Genesung förderlich wäre.

Was kann man ändern, was nicht? Gemäss Jörg Blech, der sich dabei auf wissenschaftliche Studien beruft, können wir durch Muskeltraining das Tempo der Alterung steuern. Die Muskulatur ist nämlich sehr wandelbar. "So schnell sie bei Passivität schrumpft, so schnell erholt sie sich, wenn sie beansprucht wird." Da diese Fähigkeit zur Regeneration bis ins hohe Alter erhalten bleibt, ist es also nie zu spät, seine Muskeln zu stärken.

Ganz besonders geschätzt habe ich die Aufklärungen zum Immunsystem, weil überaus anschaulich geschildert wird, wie die Körperabwehr funktioniert, wobei auch darauf hingewiesen wird, dass man dieses einzigartige System von Schutzmechanismen noch nicht wirklich versteht. Am Rande. Erst 1989 wurde die Erkenntnis gewonnen, dass "eine Immunreaktion nicht einfach durch alles beliebige Fremde ausgelöst werden kann", wie Daniel M. Davis in Heilen aus eigener Kraft festgehalten hat.

Wer sich gesund ernähren will, sollte vor allem den Zucker meiden wie auch ultraverarbeitete Nahrung. Und da man wegen der leicht verdaulichen Kohlehydrate auch auf Kartoffeln, Reis, Nudeln und Brot verzichten sollte, kann man sich schon fragen, was man eigentlich noch essen darf, sofern man schlank und rank bleiben will. "Statt Medizin zu nehmen, faste heute lieber!", riet bereits Plutarch; man kann sich allerdings auch von der Zeitfenster-Methode ("Man beschränkt das Essen auf ein Zeitfenster von sechs bis maximal zwölf Stunden pro 24-Stunden-Zyklus.") anleiten lassen. "Im erlaubten Zeitfenster darf man so viel essen, wie man will – trotzdem wird man dünner."

Übrigens: Fette werden zu Unrecht verteufelt, Junkfood macht süchtig, Übergewicht ist ein Risikofaktor, Gesund durch Zuversicht ....Masterplan Gesundheit lässt nichts aus. Doch Achtung: "Das Buch ersetzt keinen Besuch in der Praxis und kein beratendes Gespräch mit einem Arzt/einer Ärztin. Autor und Verlag übernehmen deshalb keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus Nutzung, Übernahme und Verwendung der im Buch enthaltenen Informationen ergeben. Im Zweifelsfall holen sie sich bitte vorher ärztlichen Rat", informiert der Verlag.

Fazit: Ein nützliches Buch, das hilft, beim nächsten Arztbesuch gute Fragen zu stellen.

Jörg Blech
Masterplan Gesundheit
Was Körper und Geist brauchen, um lange jung und fit zu bleiben
DVA, München 2023

Mittwoch, 27. September 2023

Über Traumaheilung

Die Vorstellung, dass unsere frühe Kindheit unser Leben prägt, ist heutzutage Allgemeingut. Und weil wir das glauben, finden wir auch gute Gründe, weshalb dem so ist. Und so geht die Autorin Maike Maja Nowak, geboren 1961, staatlich zugelassene Heilpraktikerin für Psychotherapie und zertifizierte Therapeutin, mit ihrem Der Hund als Spiegel des Menschen. Behutsame Wege zur Traumaheilung auch in ihre eigene Kindheit zurück bzw. was sie davon erinnert. 

Maike Maja Nowak, so der Klappentext, "arbeitet als Trauma-Expertin". Sie begegnet traumatisierten Menschen mit Zuneigung, wobei sie auch auf ihre eigenen Kindheitserinnerungen zurückgreift, mit denen sie sich intensiv auseinandergesetzt hat. So recht eigentlich tun das alle Therapeuten, doch nicht alle gehen so offen damit um wie die Autorin, die in den Jahren 2013/14 im ZDF als "Hundeflüsterin" unterwegs war und zunehmend Mühe damit bekam, dass die Menschen von ihr "erfolgsversprechende Tipps, Tricks und Schnellmethoden" erwarteten. Die echte Auseinandersetzung mit sich selbst ist den wenigsten gegeben.

"Trauma bedeutet, dass etwas in uns abgespalten wurde, um schockierende Kurz- oder Langzeiterfahrungen zu überleben, um im Alltag weiter zu funktionieren (...) Trauma kann in den Körper hineinwachsen und zu einer langanhaltenden Erstarrung führen. Erst wenn das Nervensystem eine tiefgreifende Information erhält, dass die Gefahr vorbei und man wieder handlungsfähig ist, kann es sich aus seiner Festgefahrenheit lösen und wieder zu schwingen begonnen." Das ist zwar einleuchtend, doch wesentlich ein Glaube und keine Zwangsläufigkeit. Doch wie jeder Glaube kann auch dieser hilfreich sein und die vielen Exempel, die in diesem Buch vorgestellt werden, zeigen wie.

Es versteht sich: Im Bereich des Unbewussten ist vieles Spekulation und diese unterliegt auch dem menschlichen Bedürfnis nach Sinn. Maike Maja Nowak scheint das bewusst, jedenfalls drückt sie sich vorsichtig aus. "2012 macht mich die Begegnung mit Sabine und ihrer Hündin Clara darauf aufmerksam, dass die Auswahl eines bestimmten Hundes mit der unbewussten Entscheidung zu tun haben kann, sich einem verdrängten Thema zu stellen und damit auseinanderzusetzen." Die Betonung liegt für mich auf kann; worum es jedoch hauptsächlich geht, ist die Beziehung zu einem selber.

Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, an unserem Verhältnis zu Hunden zu zeigen, worauf es uns Menschen ankommen müsste, sofern wir denn mit weniger Schmerzen durchs Leben gehen wollen. "Durch den Umgang mit Tausenden Hunden wurde mir immer klarer, dass sie wie wir einen ursprünglichen Wesenskern in sich tragen und zu einer Persönlichkeit erzogen werden können, die durch Konditionierung erreicht wird." Mit anderen Worten: Die Hunde dürfen nicht sein, wie sie ihrem Wesen gemäss sind. Und wir Menschen genauso wenig.

Hunde gehören nicht unseren Vorstellungen gemäss erzogen, sondern gespürt und bejaht, wie sie von Natur aus sind. Und genau dasselbe gilt für uns Menschen. "Sind Menschen mit ihrem Selbst verbunden, gehen plötzlich auch die Dinge wie von selbst, bei denen es sonst immer Schwierigkeiten gibt." Wie man sich mit diesem Selbst verbinden kann, zeigt Maike Maja Nowak an ganz vielen Beispielen, die nicht nur mit Hunden zu tun haben. "Die Aborigines gingen davon aus, dass man nur Stärken und Schwächen an anderen erkennt, über die man selbst verfügt. Wir können uns also ärgern oder es als Geschenk betrachten, wenn uns ein anderer Mensch triggert."

Maike Maja Nowak bedient sich vieler Situationen aus ihren Seminaren, um zu illustrieren, worauf er sie ihr ankommt bzw. wie sie arbeitet. Das ist wunderbar illustrativ, auch wenn ich mich immer mal wieder gewundert habe über die kaum vorhandene Selbstreflexion der Teilnehmerinnen (Männer schienen mir in der Minderheit), die erstaunlich schnell aus dem Konzept geraten.

Zum Erhellendsten gehörte für mich unter anderem dies: "Die Realität, die ich als Aussenstehende wahrnehme, nützt einem traumatisierten Menschen nichts. Alle Verhaltens-'Strassen', die unser Nervensystem angelegt hat, verändern sich nicht durch fremde Hinweisschilder oder durch Wegweiser wie Affirmationen. Sie können nur langsam zuwachsen, wenn sie seltener begangen werden, weil sich neue Wege eröffnen."

Unter Heilung versteht Maike Maja Nowak übrigens "ein Zusammenfinden von allem, was in uns getrennt ist und uns von anderen trennt." Was uns davor hindert, ist häufig die Angst vor Veränderung, weshalb wir uns diese Angst denn auch häufig wegwünschen. Doch so nachvollziehbar dies auch sein mag, es ist falsch, grundfalsch, weshalb denn auch dies mein Lieblingssatz in diesem hilfreichen Buch ist: "Willst du die Angst vor einer Veränderung vermeiden, so ist das, als würdest du den Motor von einem Auto ausbauen und dann starten wollen."

Maike Maja Nowak
Der Hund als Spiegel des Menschen
Behutsame Wege zur Traumaheilung
Mosaik Verlag, München 2023

Mittwoch, 20. September 2023

Janet Malcolm & Smoking

 Another influence on her as a writer stemmed from her decision to give up smoking in 1978. She realized that she couldn’t write without cigarettes, so she avoided writing by immersing herself instead in researching and reporting. The result was a lengthy article called “The One-Way Mirror,” about family therapy.

By the time she finished the long period of reporting,” Ms. Roiphe wrote in The Paris Review, “she found she could finally write without smoking, and she had also found her form.”

Mittwoch, 13. September 2023

Von Bleiben war nie die Rede

"Ich bin fest davon überzeugt, dass man dem Tod eine gute Landebahn bereiten kann. Damit es weniger holpert, weil die Angst nicht an Bord ist. Zum Beispiel mit einer Fluglotsin. Einer wie mir." Als ich diese Zeilen lese, weiss ich, dass ich nicht zum Zielpublikum dieses Buches gehöre. Für mich stimmt da weder der Ton, noch die Sprache, und dass die Frau auch grad noch Werbung für sich selber macht (sie listet unter anderem auch alle ihre einschlägigen Ausbildungen auf, hält also offenbar Diplome, die für mich nichts anderes sind als Ausweise für Anpassung, für Fähigkeitsausweise), ist auch nicht mein Ding. 

Dass ich trotzdem weiter lese, hat mit meinem Interesse an Fragen von Leben und Tod zu tun. Zudem halte ich es für eine gute Idee, den Versuch zu machen, Sterben und Tod unverkrampft bzw. normal anzugehen, ihnen den Schrecken zu nehmen – denn dies ist es, was der Autorin hauptsächlich vorzuschweben scheint.

Von Bleiben war nie die Rede ist ein überaus bunter Mix von ganz Unterschiedlichem, Hilfreichem wie Ärgerlichem. "Es ist überhaupt nichts sicher rund um das Thema Tod, und das macht es so spannend." Ein einleuchtender und wahrer Satz, dem jedoch eine durch nichts bewiesene Behauptung folgt, welche das genaue Gegenteil sagt. "Am Ende des Lebens lüften wir das tiefste Geheimnis und erleben unser grösstes Abenteuer."

Doch zum Positiven: Karin Simon plädiert für Aufrichtigkeit und rät unter anderem dazu, Unerledigtes zu erledigen. "Für Aussenstehende mögen manche der 'unerledigten Dinge' wie Bagatellen wirken, doch für die Betroffenen hängen sie wie Bleigewichte an einem Abschied und können ihn be- und erschweren." Und sie weiss: "Wenn man seine eigenen Tränen noch nicht geweint hat, ist man keine gute Begleitung für einen Sterbenden."

Sich mit Leben und Tod zu beschäftigen, heisst auch, sich mit der Angst auseinanderzusetzen. Denjenigen, die behaupten, sie hätten keine Angst vor dem Tod, hält Karin Simon entgegen, dass sich das meist ändert, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht. "Psychologische Untersuchungen zeigen nämlich, dass die Angst vor dem Tod bei jedem Menschen vorhanden ist." Wie vieles andere in diesem Buch, weiss man das auch ohne psychologische Untersuchungen.

Doch wie sollen wir mit der Angst umgehen? Hinschauen und nicht wegschauen, empfiehlt Karin Simon. "Was wir kennen, macht uns weniger Angst." Auch dies ist zwar einigermassen banal, wie ich finde, was jedoch nicht heisst, dass es nicht nützlich ist, es zu betonen. Schliesslich genügt es nicht, etwas zu wissen, man muss es auch leben. 

Von Bleiben war nie die Rede ist ein persönliches Buch. Die Autorin erzählt aus ihrem Leben und macht nachvollziehbar, wie sie zu ihren Erkenntnissen gekommen ist. So  geht sie davon aus, dass es einen göttlichen Plan gibt und meint damit unseren eigenen Plan, "denn jede kleine Seele hat sich die bevorstehenden Begegnungen, Ereignisse und Lerninhalte selbst ausgesucht." Mit anderen Worten: Wir sind an allem, was uns widerfährt, selber Schuld. "Wir selbst lassen es zu, weil wir es vor unserer Geburt so bestimmt haben." Mir ist dieser Glaube fremd, auch wenn es mir gelegentlich auch so geht: "Ich empfinde vieles, was mir widerfährt, als geführt." Nur eben: Das muss man meines Erachtens nicht erklären, es wahrzunehmen genügt.

Von Bleiben war nie die Rede basiert auf den Grundannahmen der Autorin. Zu diesen gehört, dass "die Seele weiss, wann es Zeit ist, heimzugehen". Sie illustriert ihren Glauben mit Geschichten und fügt dann hinzu: "Nun kann man einwenden, dass es einfach sei, im Nachhinein etwas zu deuten, was in Wirklichkeit banal gewesen sei. Ja, so kann man es sehen. Ich sehe es anders. Für mich stellt sich eher die Frage: Wollen wir die Botschaften unserer Seele entschlüsseln, wollen wir den Zeitpunkt erahnen?" Mir selber steht Osho näher, der einmal sagte: "Life is not a problem to be solved but a miracle to be experienced."

Ich lese dieses Buch als eine Zusammenstellung von Selbstverständlichkeiten, die zum Ziel haben, die Scheu vor dem Tod zu verlieren und sich mit der Frage nach der eigenen Lebensqualität auseinanderzusetzen. Doch wie das eben so ist mit den Selbstverständlichkeiten, sie müssen verinnerlicht werden, damit sie selbstverständlich werden. Von Bleiben war nie die Rede erinnert uns daran, zu tun, was wir wissen, dass wir tun sollten: Das Leben nicht aufschieben.

Karin Simon
Von Bleiben war nie die Rede
Eine Sterbeamme erzählt vom grossen Abschied und wie er ohne Angst gelingt
Knaur Menssana, München 2023

Mittwoch, 6. September 2023

Die hohe Kunst des Verzichts

Die Gründe, die mich zu einem bestimmten Buch greifen lassen, sind mannigfaltig und zumeist nicht wirklich bewusst. Doch Vermutungen anstellen kann ich. Im vorliegenden Fall weiss ich aus den Medien, dass der Autor für gelehrte Ausführungen bekannt ist – von einem emeritierten Professor für Philosophie darf man das erwarten – , dazu kommt, dass C.H. Beck ein Verlag ist, der für gute Bücher steht, doch vor allem interessiert mich das Thema, denn für mich zählt der Verzicht zu den Notwendigkeiten, ohne die ein Leben nicht gelingen kann.

Dass der Verzicht nicht besonders weit verbreitet, geschweige denn populär ist, lässt sich unter anderem daran ersehen, dass auch ein Buch, das sich der Selbstbeschränkung aus philosophischer Sicht widmet, nicht darauf verzichten mag, zuerst einmal einen Ausflug in die Geschichte zu machen. Nun gut, das ist, was Akademiker eben so tun – trotzdem, etwas enttäuscht bin ich schon.

Mir persönlich genügen ja so recht eigentlich die Volksweisheit "Weniger ist mehr" und Henry David Thoreaus "The soul grows by subtraction, not by addition", um den Verzicht positiv zu sehen, als ich dann jedoch Professor Höffes Ausführungen zur Lebenskunst auf mich wirken lasse, wird mir noch anderes bewusst. "Keine Person vermag Lebenskunst stellvertretend für einen anderen auszuüben. Man kann sie zwar, ja, man muss sie auch lernen."

Um Selbstverantwortung geht es also, und diese zeigt sich im Verhalten. Das setzt eine Entwicklungsstufe voraus, bei der man "Macht über sich und das Geschick" (Nietzsche) hat, also Meister seiner selbst ist. Doch das ist leider weit entfernt von dem, was die meisten anstreben.

Viele der Ausführungen fand ich etwas arg akademisch, insbesondere die zur Welt des Rechts, denn diese zeigt sich in der Praxis weit banaler als im gedanklichen Überbau. So ist etwa der Grundsatz der Unschuldsvermutung, angesichts der Bedingungen der Untersuchungshaft sowie der öffentlichen Meinung, weit mehr Ideal als Realität (was kein Argument gegen das Ideal sein soll).

Überhaupt nicht realitätsfern (im Sinne von notwendig, nicht von machbar) sehe ich hingegen die Forderung, die der Autor bereits 1993 erhoben hat: "Der tropische Regenwald Südamerikas –und sinngemäss auch der von Afrika und Asien – gehört nicht den heutigen Staaten, sondern den Ureinwohnern."

Otfried Höffe plädiert dafür den Verzicht "in seiner Bedeutung erheblich aufzuwerten; er verdient den Rang eines philosophischen und politischen Grundbegriffs." Anregungen dazu finden sich in diesem Essay zuhauf. Vor allem deutlich gemacht werden die zahlreichen Facetten dieses Begriffs, von denen mir die Lebensideale, die das Menschsein zu steigern vermögen, vor allem wichtig sind.

Zu diesen gehört, dass der Mensch fähig ist, sich von äusseren Faktoren nicht erschüttern zu lassen. Das Ideal der heiteren Gelassenheit geht auf Epikur zurück, den man oft – fälschlicherweise – mit grösstmöglicher sinnlicher Lust gleichsetzt. Nur eben: Heitere Gelassenheit setzt die Beherrschung der Begierden voraus, Verzicht also.

So recht eigentlich handelt dieses Buch (jedenfalls habe ich es so gelesen) von Tugenden. Etwa der des Gleichmuts oder der Besonnenheit. Anders gesagt: Es ist ein Werk, dass sich mit unserer Einstellung, unserer Haltung zum Leben auseinandersetzt, und sich dabei von ethischen, humanistisch fundierten Zielen leiten lässt. Als wahrer Philosoph erkennt der Autor übrigens auch da wahre Philosophen, wo sie andere vermutlich nicht sehen, etwa in Karl Valentin. "Wo alle dasselbe denken, wird nicht gedacht." "Gesegnet sind alle jene, die nichts zu sagen haben, und trotzdem den Mund halten."

Otfried Höffe
Die hohe Kunst des Verzichts
Kleine Philosophie der Selbstbeschränkung
C.H. Beck, München 2023

Mittwoch, 30. August 2023

The need to conform

 Most people are not even aware of their need to conform. They live under the illusion that they follow their own ideas and inclinations, that they are individualists, that they have arrived at their opinions as the result of their own thinking - and that it just happens that their ideas are the same as the majority. The consensus of all serves as a proof for the correctness of „their“ ideas. Since there is still a need to feel some individuality, such need is satisfied with regard to minor differences; the initials on the handbag or the sweter, the name plate of the bank teller, the belonging to the Democratic as against the Republican party, to the Elks instead of the Shriners become expression of individual differences. The advertising slogan of „it is different“ shows up this pathetic need for difference, when in reality there is hardly any left.

Erich Fromm: The Art of Loving

Mittwoch, 23. August 2023

On Golf and Monkeys

 Teacher Jack Kornfield tells one of my favorite stories about a new English colony in India that wanted to construct a golf course in Calcutta.

The biggest challenge was that the area was populated with monkeys who were interested in golf, too.

Their way of joining the game was to run out onto the course and take the balls that the golfers were hitting and toss them in all directions. Of course, the golfers weren’t happy about this, so they tried to “manage” the monkeys.

First, they built high fences around the fairway. But, of course, it wasn’t long before the golfers learned that monkeys climb. As you might have guessed, this solution failed.

The next thing the golfers tried was to lure the monkeys away from the course by waving bananas. But for every monkey that would go for the bananas, another ten would race onto the golf course to join the fun.

In desperation, the golfers tried trapping and relocating the monkeys, but that strategy didn’t work either. The monkeys just had too many relatives who liked to play with golf balls!

So finally, the club’s golf committee wrote a novel policy into their course rule book: Players must play the ball where the monkey drops it.” Those golfers were wiser than they knew!

Sometimes in life, it feels like monkeys are dropping golf balls everywhere but where we’d like them to. Often when this happens, we react poorly. We complain, shake our fists at God, throw a tantrum, or feel resentful. But these reactions only increase our suffering!

What can we do? When life refuses to cooperate with my plans, I’ve learned to say to myself, “Like it or not, this is where the monkey has dropped the ball. I’m going to surrender to what is and adapt rather than resist.”

Paradoxically, when I let go and accept life on life’s terms, I discover “a peace that passes all understanding,” and I find the power and wisdom to deal with whatever challenge or unforeseen turn of events life throws at me.

This week when you find yourself faced with an unwanted difficulty or challenge, say to yourself, “I have to play the ball where the monkey drops it,” and see if you don’t experience the peace and power of acceptance. Peace to all.

Mittwoch, 16. August 2023

Im 69sten Altersjahr


 Dass ich genau so lebe wie ich will, meint nicht, dass Sargans mein Wunschort, und das Unterwegssein, sei's physisch, sei's im Kopf, mein Idealzustand ist, es meint, dass ich mir nichts Besseres vorstellen kann, als über meine Zeit zu verfügen und dem nachgehen zu können, was mich interessiert. Daraus zu schliessen, es gehe mir super, wäre höchstens eine Konsequenz unseres kurzsichtigen und falschen Denkens, denn das Leben ist komplizierter als unser Ursache-Wirkung-Denken uns glauben lässt, und wir alle erleben Glück nur selten

Quelle que soit la durée de votre séjour sur cette petite planète, et quoi qu'il vous advienne, le plus important c'est que vous puissiez– de temps en temps – sentir la caresse exquise de la vie.

Jean-Baptiste Charbonneau, Avis de Passage (1957)

Mittwoch, 9. August 2023

Noch eine Sucht?

"Als sexpositive Feministin und Lustaktivistin versteht sie sich als Brückenbauerin zwischen Academia, Pornoindustrie und breiter Öffentlichkeit." Als ich das lese, muss ich laut herauslachen: "Sexpositive Feministin", "Lustaktivistin", was auch immer das sein mag. Nicht, dass es mich interessieren würde, ich finde schon die Bezeichnung Aktivistin nur prätentiös. Und auch für Brückenbauerin habe ich wenig Sympathie, denn in meiner Vorstellung bleibt ganz generell vieles besser getrennt.

Madita Oeming ist beim Recherchieren für eine Seminararbeit zu Moby Dick bewusst geworden, "dass man alle Fragen, die ich im Rahmen meines Studiums der Literatur- und Kulturwissenschaften an Romane, Songs, Serien oder Hollywood-Filme richtete, natürlich auch an Pornos richten kann." Ein treffendes Argument, das allerdings übersieht, dass man das, was man kann, deswegen noch nicht unbedingt tun muss. Wie sagte doch Bill Clinton auf die Frage, weshalb er sich auf Monica Lewinsky eingelassen habe: I think I did something for the worst possible reason  just because I could. I think that's the most, just about the most morally indefensible reason that anybody could have for doing anything. When you do something just because you could ... 

Doch das ist eine andere Geschichte. Denn genau so wenig wie Madita Oeming sich mit Porno beschäftigen muss (ausser als Profilierungsinstrument), muss ich mir dieses Buch vornehmen. Wie immer gibt es viele und ganz unterschiedliche Gründe dafür und die meisten sind mir nicht wirklich bewusst. Über zwei hingegen bin ich mir klar: 1) Der Pornokonsum, wie jeder Konsum, kann zur Sucht werden – das interessiert mich. 2) Ich finde das Verschwinden der Scham, das Frau Oeming offenbar befürwortet, nicht nur bedauerlich, sondern einen zivilisatorischen Rückschritt – schamloses Lügen scheint heute akzeptabel. Wobei: Sicher, so einfach ist es nicht, denn Scham ist oft auch destruktiv, doch mit dem Über-Alles-Reden können ist selten viel gewonnen, auch wenn uns Psychologen das glauben machen wollen. Kein Wunder, schliesslich ist es ihr Geschäftsmodell.

Männerkrankheit "Pornosucht" ist ein Kapitel überschrieben. "Da eine entsprechende Diagnose bislang nicht existiert, ist es präziser, von problematisierter Pornonutzung, einer Pornonutzungsstörung, zwanghaftem oder suchtähnlichem Pornogucken zu sprechen."  Eine akademische Differenzierung, die vollkommen an der Sache vorbei geht, denn Sucht ist nichts anderes als zwanghaftes Verhalten, weil man nicht fühlen will, was man fühlt. Ob stoffgebunden oder stoffungebunden ist irrelevant  in beiden Fällen flüchtet man vor seinen Gefühlen. "Verhaltenssüchte sind ein individuelles Problem, das individuell therapeutisch angegangen werden sollten." Das sehe ich entschieden anders (The readiness is all, sagt Horatio in Hamlet); auch ist mir die Expertengläubigkeit der Autorin vollkommen fremd.

Zur Scham schreibt Madita Oeming hingegen Anregendes. Dabei geht sie weit über ihr Porno-Thema hinaus und landet bei Grundsätzlichem: der Akzeptanz. Das schildert sie berührend und erfreulich persönlich. "Mich hat neulich jemand gefragt, wie ich es denn geschafft hätte, diese Scham vor dem Sprechen über Pornos und für meine eigene Pornonutzung hinter mir zu lassen. Die ehrliche Antwort lautet: noch gar nicht! Auch für mich ist das ein anhaltender Lernprozess. Sich von alten Mustern, stereotypen Geschlechterrollen und tiefsitzenden kulturellen Gesetzen zu lösen, braucht Zeit. Aber Stück für Stück bewerte ich mich selber immer ein bisschen weniger für meine sexuellen Fantasien, erlaube mir meine Lust immer ein bisschen mehr und werde so Tag für Tag etwas freier. Das wünsche ich uns allen."

Porno. Eine unverschämte Analyse ist gut geschrieben und liefert ganz viele nützliche Informationen, wobei sich die Autorin auf viele Studien bzw. Umfragen stützt, und ich mich wieder einmal wundere, dass man Selbstauskünften Glauben schenkt, schliesslich gehört der Selbstbetrug zu den ausgeprägtesten menschlichen Fähigkeiten. Nichtsdestotrotz: Es lassen sich Tendenzen ausmachen und Fakten benennen. Dass Männer generationenübergreifend Pornos anschauen, wird wohl niemand überraschen, dass es bei Frauen vor allem die Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen ist, weist jedoch darauf hin, dass ein Wertewandel im Gange ist. "Es lässt sich nicht leugnen, dass Pornogucken längst kein Nischenphänomen mehr ist, sondern eine weit verbreitete, geschlechter- wie altersübergreifende Medienpraxis."

So weit, so einleuchtend, doch was will die Autorin mit diesem Buch? "Mein Ziel ist es, davon wegzukommen, Porno ausschliesslich als soziales Problem, gar als Gefahr zu denken, sondern als gängige Alltagspraxis, als Unterhaltungsmedium, als Inszenierung sexueller Fantasien und im besten Falle sogar als Inspirationsquelle und Hilfsmittel sexueller Befreiung." Wenn man es recht bedenkt, ist Pornografie das alles schon, siehe das Zitat im obigen Abschnitt. 

Sie solle sich mit ihrer Fokussierung auf Porno nicht die Karriere verbauen, wird ihr geraten, als sie ihr Promotionsprojekt vorstellte. Sie hat sich anders entschieden. "Dieses Buch ist mein Megafon, um in die Welt zu rufen: Wir müssen endlich über Pornos sprechen. JETZT!" Warum hat sich mir allerdings nicht erschlossen, obwohl ich Porno. Eine unverschämte Analyse gerne gelesen habe  der vielfältigen Aufklärung wegen (dieses Buch ist nicht zuletzt eine immense Fleissarbeit), auch wenn die vorliegende Arbeit das akademisch Übliche ist: Ein Blick in die Geschichte, ganz viele Studien, Begriffserklärungen sowie ein Plädoyer für die Ambivalenz.

Gefehlt hat mir die kommerzielle Seite, die heutzutage so recht eigentlich fast alles bestimmt. Mit Pornos lässt sich viel Geld verdienen, das ist der wesentliche Grund, weshalb wir damit überschwemmt werden. Und sie lenken uns ab von den wirklich wichtigen Dingen – der schreienden Ungerechtigkeit,  der Zerstörung des Planeten Erde und der Hingabe ans Dasein.

Madita Oeming
Porno
Eine unverschämte Analyse
Rowohlt Polaris, Hamburg 2023

Mittwoch, 2. August 2023

Neue Psychiatrie

Seine Vorbemerkung leitet Autor Felix Hasler damit ein, dass er eine Übersichtsarbeit suchte, "die belegt, dass das Serotoninsystem bei psychischen Störungen eine wichtige Rolle spielt, insbesondere bei Depressionen." Doch er fand keine, denn für die Serotoninhypothese gibt es keine Belege. Das war im Jahre 2004. "Zwanzig Jahre später glaubt in der Wissenschaft (fast) niemand mehr an die simple These, psychische Störungen seien Ausdruck einer gestörten Botenstoff-Chemie im Gehirn." Anti-Depressiva werden jedoch nach wie vor verabreicht, auch wenn sich die Erklärungsmodelle gewandelt haben und man zur Zeit nach fehlerhaften Schaltkreisen und gestörter Netzwerk-Kommunikation forscht.

Felix Hasler ist Research Fellow an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität zu Berlin und berichtet in diesem Buch von seiner Arbeit bzw. worauf er bei dieser so alles gestossen ist und was sich ihm dabei erschlossen hat. Er schreibt unprätentiös und anregend, es ist eine Freude ihn zu lesen, auch wenn man sich das Schriftbild grösser und etwas weniger bleiwüstenmässig gewünscht hätte. Und er hat Humor. "Gut möglich, dass wir uns schon bald einmal staunend fragen werden, wie wir jemals daran glauben konnten, dass uns Studien zur Bildung von Dopamin-Neuronen im Zebrafisch etwas über die Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern erklären könne."

Anhand der Geschichte des Serotonintransporter-Gens 5-HTTLPR (des "Depressions-Gens") zeigt Hasler auf, dass die biopsychiatrische Forschung ein Eigenleben entwickelt hat, "das völlig entkoppelt ist von der Realität - und erst recht von jeder praktischen Relevanz. Besonders die genetische Psychiatrieforschung ist in den letzten Jahren immer mehr zu einer zirkulären Selbstbestätigungsforschung geworden." Ein Phänomen, das auch in anderen Forschungsdisziplinen bekannt ist und an die Charakterisierung der Bürokratie durch den englischen Ethnologen Nigel Barley erinnert, der sie als "an end in itself" bezeichnete.

Neue Psychiatrie ist höchst aufschlussreich, auch weil es an konkreten Beispielen aufzuzeigen versteht, dass falsche Schlüsse häufig in unbewussten Annahmen liegen. Anders gesagt: Wer nicht oder nur sehr beschränkt weiss, wie er tickt, wird eher das finden, was er zu finden sucht als das, was tatsächlich der Fall ist. "The first principle is not to fool yourself", sagte Richard Feinman einmal und fügte dann hinzu: "And, you are the easiest person to fool."

Auch mit bildgebenden Verfahren, dem sogenannte Neuroimaging, machte man sich auf die Suche "nach einem abgrenzbaren schadhaften Neuronen-Netzwerk bei psychischen Erkrankungen". Ohne Erfolg. Keine einzige der untersuchten Erkrankungen zeigte "auch nur ein halbwegs spezifisches Aktivierungsmuster, weil der Grad der Überlappung zwischen allen Störungsgruppen derart gross ist."

Woher kommen psychische Störungen? Das weiss zwar nach wie vor niemand, trotzdem gibt es seit Jahren eine wissenschaftliche Gewissheit, dass es sich bei psychischen Störungen um Erkrankungen des Gehirns handelt. Obwohl das nicht stimmt, wie Autor Hasler überzeugend nachweist, hält sich die Auffassung aufgrund ihrer vermeintlichen Plausibilität: "Depressionen entstehen aufgrund einer Störung des natürlichen Neurotransmitter-Gleichgewichts im Gehirn, insbesondere durch eine verminderte Verfügbarkeit von Serotonin. Antidepressiva beheben diesen Serotoninmangen, das Neurotransmitter-Gleichgewicht ist wieder hergestellt und die Symptome der Depression verschwinden."

Erinnert hat mich das an die Geschichte von den Eskimo, die, gemäss einem Artikel in der New York Times, angeblich siebzig Wörter für Schnee habe, was, wie der Linguist Geoffrey K. Pullum ausführte, nachweislich falsch ist, jedoch trotzdem geglaubt wird, denn was der Mensch sich einmal zu glauben entschlossen hat, wird er nicht ohne Not wieder aufgeben. Bei den Anti-Depressiva kommt noch dazu, dass die Pharmaindustrie daran bestens verdient und auch deswegen dazu beiträgt, dass diese Illusion aufrechterhalten wird.

Nur eben: Medikamente sind in der Psychiatrie nicht grundsätzlich problematisch. So erwies sich die zufällige Entdeckung von Lithium für die Behandlung von manischen Patienten als segensreich, auch wenn man bis heute nicht herausgefunden hat, warum es eigentlich wirkt. Nichtsdestotrotz gilt, "dass die Psychopharmaka, die uns zur Verfügung stehen, nur symptomatisch und keineswegs kausal und damit potentiell auch kurativ wirken." Kein Wunder, denn das Seelenleben verläuft unbewusst. Mit anderen Worten: Wir wissen so recht eigentlich nichts darüber. Dass wir die Hoffnung hegen, dass das Unbewusste gemäss unserer gängigen Vorstellungen von Ursache und Wirkung funktioniert, ist unseren beschränkten Denkgewohnheiten zu verdanken.

Die grundsätzlichen Überlegungen Felix Haslers zum Biologismus sind zu begrüssen. Man hätte ihn sich ähnlich kritisch gewünscht, wenn er schreibt, der schottische Psychiater Sir Robin Murray sei "für seine Dienste um die Medizin zum Ritter geschlagen" worden. Wer die honours list von Boris Johnson mitgekriegt hat, weiss, dass die in England vorgenommenen öffentlichen Belobigungen mit Verdiensten meist nichts zu tun haben. Vielmehr sind es der Eitelkeit geschuldete Gefälligkeitsbezeugungen, auch wenn Ausnahmen vorkommen können.

Dieses Beispiel steht stellvertretend für eine Malaise, die mehr verlangt als das von Felix Hasler zu Recht geforderte und einleuchtend begründete Umdenken, das er sowohl innerhalb wie ausserhalb der Psychiatrie zu erkennen glaubt. Die gängigen Hierarchien, die angeblich der Experten-Kompetenz geschuldet sind (falls ein Patient in einer psychiatrischen Klinik etwas lernt, dann von seinen Mitpatienten), verunmöglichen einen Austausch auf Augenhöhe. So lange "unsere" Gesellschaft vor allem die Narzissten mit den guten Ellenbogen belohnt, wird sich die Psychiatrie nie an den Bedürfnissen der Patienten orientieren, sondern an der eigenen Glorie.

Fazit: Kenntnisreiche und erhellende Ausführungen über die Bio-Psychiatrie. Oder: Wie Voreingenommenheit, Wunschdenken und Profitdenken die wissenschaftliche Seelenforschung in die Irre führen. 

Felix Hasler
Neue Psychiatrie
Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft
Transcript Verlag, Bielefeld 2023