Gefühle der Klarheit, dass es so wie bisher nicht weiter gehen kann, hat jeder Süchtige. Harry hatte viele, doch er nahm sie nicht wirklich wahr. Bis dann der Tag gekommen war, an dem er aus Gründen, die er nicht wirklich verstand, nicht mehr zur Flasche griff. Dass er seither nie mehr das Bedürfnis hatte, zu trinken, war ein Wunder, das damit begonnen hatte, dass er nicht mehr nur nicht mehr trinken wollte, sondern es auch nicht mehr tat.
Süchtig blieb er, denn Sucht ist nicht an eine Substanz gebunden, Sucht ist eine Haltung. Nichts, was auch immer es war, war ihm je genug. Dies zu wissen, half. Manchmal.
Lac de Bret. Er musste in Chexbres umsteigen, einem Bahnhof, an dem er auf dem Weg nach Lausanne immer vorbei gefahren war. Moreillon, wo er hin musste, war auf keinem Fahrplan vermerkt. Ein Postauto fuhr heran, der Chauffeur, ein freundlicher Schwarzer, hatte noch nie von Moreillon gehört, er fahre erst sei drei Monaten Postauto. Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein, Palézieux, sagte die Anzeigetafel. Das konnte nicht richtig sein, da kam er doch gerade her. Aber es war der richtige, ein Bummler, der an jeder Station hielt, was der, mit dem er gekommen war, nicht getan hatte. In Moreillon war er der Einzige, der ausstieg. Er suchte nach einem Hinweisschild für den Lac de Bret, doch er fand keines und so begann er der Hauptstrasse zu folgen, Nach einigen hundert Metern kam er zu einer Abzweigung, Ein Motorrad näherte sich, auf sein Haltezeichen stoppte es. Die Fahrerin war ein junges Mädchen von etwa fünfzehn Jahren. Ja, er sei richtig und solle einfach weitergehen bis zu dem Haus dort – sie zeigte in Richtung Hügel – und dann links über den Golfplatz. Wie weit es sei? Etwa fünfzehn, zwanzig Minuten. Es waren dann eher vierzig, doch das störte ihn nicht, im Gegenteil, er genoss seinen Spaziergang an diesem sonnigen Herbsttag. Abgesehen von einem jungen Mann in einem Auto, der ihm anbot, ihn mitzunehmen, war er alleine auf der Strasse. Die Stille und das Licht waren magisch.
Eigenartig, dass ihn die Schweiz früher nie wirklich interessiert hatte. Wobei, das stimmte gar nicht. In Fribourg und Lausanne hatte er gewohnt. Und in Bellinzona, Schwyz, Basel und Zürich.
Nach der Beerdigung eines Freundes seines Vaters traf man sich zum Imbiss. Harry kam neben einen Mann zu sitzen, der nur redete, wenn er angesprochen wurde und so sprach er ihn an. Er sei Treuhänder, sagte der Mann, ohne Diplom. Er stamme aus einer Bäckerei und Konditorei-Dynastie am Vierwaldstättersee, habe das seit fünf Generationen in der Familie befindliche Unternehmen weiterführen wollen, doch der Vater habe ihn für ungeeignet befunden und aufs Gymnasium geschickt. Nach der Matura habe er dann angefangen Philosophie zu studieren, doch da die Fragen, die ihn umtrieben – woher kommen wir, was machen wir hier, wohin gehen wir – von den Professoren nicht beantwortet worden seien, habe er nach zwei Semestern hingeschmissen und sei Treuhänder geworden. Ungelernter, betonte er von Neuem, und deshalb tauglich für Rettungsinterventionen unterschiedlichster Art, bei denen Diplomierte versagen.
Im Fernsehen ein Film, der in Macao spielte. Er erinnerte sich an die Zeit, die er dort und in Hong Kong verbrachte hatte. Die Aufregung, das Prickeln auf der Haut, das Herz, das jauchzte ob des Neuen, Orientalischen, Exotischen. Wo war nur diese Begeisterung geblieben?
„Ist es nicht ein verhängnisvoller Irrtum zu glauben, wir könnten unser Ziel erreichen und damit unsern Sinn erfüllen, indem wir wissentlich leben, wie wir nicht leben sollten?“, las er in Hans Albrecht Mosers Vineta und wurde ungehalten, ja wütend über sich selber, da er selten tat, was er wusste, dass er tun musste, um mit sich zufrieden zu sein.
In der 'New York Times', ein Bericht darüber, wie Deeprak Chopra seine Sonntage verbringt. Nach dem Aufwachen morgens um fünf bleibt er zehn Minuten liegen und starrt an die Decke. Seither blieb Harry auch liegen – und betrachtete die Bäume durchs offene Fenster.
Einer Freundin war von demselben Artikel geblieben, dass Chopra nur eine grosse Mahlzeit pro Tag zu sich nehme. Sie trainiere das jetzt auch, es sei nicht ganz einfach, mache jedoch Spass und sie habe mehr Zeit für andere Dinge. Er beschloss, es ihr nachzutun.
Hans Durrer: Harrys Welt oder die Sehnsucht nach Sinn, neobooks 2019
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