Seine Vorbemerkung leitet Autor Felix Hasler damit ein, dass er eine Übersichtsarbeit suchte, "die belegt, dass das Serotoninsystem bei psychischen Störungen eine wichtige Rolle spielt, insbesondere bei Depressionen." Doch er fand keine, denn für die Serotoninhypothese gibt es keine Belege. Das war im Jahre 2004. "Zwanzig Jahre später glaubt in der Wissenschaft (fast) niemand mehr an die simple These, psychische Störungen seien Ausdruck einer gestörten Botenstoff-Chemie im Gehirn." Anti-Depressiva werden jedoch nach wie vor verabreicht, auch wenn sich die Erklärungsmodelle gewandelt haben und man zur Zeit nach fehlerhaften Schaltkreisen und gestörter Netzwerk-Kommunikation forscht.
Felix Hasler ist Research Fellow an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität zu Berlin und berichtet in diesem Buch von seiner Arbeit bzw. worauf er bei dieser so alles gestossen ist und was sich ihm dabei erschlossen hat. Er schreibt unprätentiös und anregend, es ist eine Freude ihn zu lesen, auch wenn man sich das Schriftbild grösser und etwas weniger bleiwüstenmässig gewünscht hätte. Und er hat Humor. "Gut möglich, dass wir uns schon bald einmal staunend fragen werden, wie wir jemals daran glauben konnten, dass uns Studien zur Bildung von Dopamin-Neuronen im Zebrafisch etwas über die Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern erklären könne."
Anhand der Geschichte des Serotonintransporter-Gens 5-HTTLPR (des "Depressions-Gens") zeigt Hasler auf, dass die biopsychiatrische Forschung ein Eigenleben entwickelt hat, "das völlig entkoppelt ist von der Realität - und erst recht von jeder praktischen Relevanz. Besonders die genetische Psychiatrieforschung ist in den letzten Jahren immer mehr zu einer zirkulären Selbstbestätigungsforschung geworden." Ein Phänomen, das auch in anderen Forschungsdisziplinen bekannt ist und an die Charakterisierung der Bürokratie durch den englischen Ethnologen Nigel Barley erinnert, der sie als "an end in itself" bezeichnete.
Neue Psychiatrie ist höchst aufschlussreich, auch weil es an konkreten Beispielen aufzuzeigen versteht, dass falsche Schlüsse häufig in unbewussten Annahmen liegen. Anders gesagt: Wer nicht oder nur sehr beschränkt weiss, wie er tickt, wird eher das finden, was er zu finden sucht als das, was tatsächlich der Fall ist. "The first principle is not to fool yourself", sagte Richard Feinman einmal und fügte dann hinzu: "And, you are the easiest person to fool."
Auch mit bildgebenden Verfahren, dem sogenannte Neuroimaging, machte man sich auf die Suche "nach einem abgrenzbaren schadhaften Neuronen-Netzwerk bei psychischen Erkrankungen". Ohne Erfolg. Keine einzige der untersuchten Erkrankungen zeigte "auch nur ein halbwegs spezifisches Aktivierungsmuster, weil der Grad der Überlappung zwischen allen Störungsgruppen derart gross ist."
Woher kommen psychische Störungen? Das weiss zwar nach wie vor niemand, trotzdem gibt es seit Jahren eine wissenschaftliche Gewissheit, dass es sich bei psychischen Störungen um Erkrankungen des Gehirns handelt. Obwohl das nicht stimmt, wie Autor Hasler überzeugend nachweist, hält sich die Auffassung aufgrund ihrer vermeintlichen Plausibilität: "Depressionen entstehen aufgrund einer Störung des natürlichen Neurotransmitter-Gleichgewichts im Gehirn, insbesondere durch eine verminderte Verfügbarkeit von Serotonin. Antidepressiva beheben diesen Serotoninmangen, das Neurotransmitter-Gleichgewicht ist wieder hergestellt und die Symptome der Depression verschwinden."
Erinnert hat mich das an die Geschichte von den Eskimo, die, gemäss einem Artikel in der New York Times, angeblich siebzig Wörter für Schnee habe, was, wie der Linguist Geoffrey K. Pullum ausführte, nachweislich falsch ist, jedoch trotzdem geglaubt wird, denn was der Mensch sich einmal zu glauben entschlossen hat, wird er nicht ohne Not wieder aufgeben. Bei den Anti-Depressiva kommt noch dazu, dass die Pharmaindustrie daran bestens verdient und auch deswegen dazu beiträgt, dass diese Illusion aufrechterhalten wird.
Nur eben: Medikamente sind in der Psychiatrie nicht grundsätzlich problematisch. So erwies sich die zufällige Entdeckung von Lithium für die Behandlung von manischen Patienten als segensreich, auch wenn man bis heute nicht herausgefunden hat, warum es eigentlich wirkt. Nichtsdestotrotz gilt, "dass die Psychopharmaka, die uns zur Verfügung stehen, nur symptomatisch und keineswegs kausal und damit potentiell auch kurativ wirken." Kein Wunder, denn das Seelenleben verläuft unbewusst. Mit anderen Worten: Wir wissen so recht eigentlich nichts darüber. Dass wir die Hoffnung hegen, dass das Unbewusste gemäss unserer gängigen Vorstellungen von Ursache und Wirkung funktioniert, ist unseren beschränkten Denkgewohnheiten zu verdanken.
Die grundsätzlichen Überlegungen Felix Haslers zum Biologismus sind zu begrüssen. Man hätte ihn sich ähnlich kritisch gewünscht, wenn er schreibt, der schottische Psychiater Sir Robin Murray sei "für seine Dienste um die Medizin zum Ritter geschlagen" worden. Wer die honours list von Boris Johnson mitgekriegt hat, weiss, dass die in England vorgenommenen öffentlichen Belobigungen mit Verdiensten meist nichts zu tun haben. Vielmehr sind es der Eitelkeit geschuldete Gefälligkeitsbezeugungen, auch wenn Ausnahmen vorkommen können.
Dieses Beispiel steht stellvertretend für eine Malaise, die mehr verlangt als das von Felix Hasler zu Recht geforderte und einleuchtend begründete Umdenken, das er sowohl innerhalb wie ausserhalb der Psychiatrie zu erkennen glaubt. Die gängigen Hierarchien, die angeblich der Experten-Kompetenz geschuldet sind (falls ein Patient in einer psychiatrischen Klinik etwas lernt, dann von seinen Mitpatienten), verunmöglichen einen Austausch auf Augenhöhe. So lange "unsere" Gesellschaft vor allem die Narzissten mit den guten Ellenbogen belohnt, wird sich die Psychiatrie nie an den Bedürfnissen der Patienten orientieren, sondern an der eigenen Glorie.
Fazit: Kenntnisreiche und erhellende Ausführungen über die Bio-Psychiatrie. Oder: Wie Voreingenommenheit, Wunschdenken und Profitdenken die wissenschaftliche Seelenforschung in die Irre führen.
Felix Hasler
Neue Psychiatrie
Den Biologismus überwinden und tun, was wirklich hilft
Transcript Verlag, Bielefeld 2023
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