Montag, 20. Dezember 2021

Der Stoff, aus dem die Gefühle sind

So recht eigentlich hätte mich ja bereits der Titel, Der Stoff, aus dem die Gefühle sind, skeptisch machen sollen. Tat es aber nicht. Auch der Untertitel, der noch mehr Uneinlösbares versprach – Über den Ursprung der Emotionen – tat es nicht. Leitend war stattdessen die Hoffnung, über die der Autor nüchtern und treffend notiert: „… die Hoffnung ist ein Gut, das sorgfältig reguliert und so sparsam dosiert werden sollte, dass es vernünftiges Handeln motivieren kann“, was bei mir eindeutig nicht der Fall gewesen ist, denn ich bin auf die Werbeversprechen des Verlages reingefallen, die da suggerieren, es gebe tatsächlich Antworten auf Fragen wie „Warum fühlen wir? Wie entstanden unsere Emotionen? Welche Geheimnisse birgt das ganze Spektrum unserer Gefühlswelten?“

Karl Deisseroth, Professor für Biotechnik und Psychiatrie, ist vor allem bekannt geworden durch seine Entwicklung der Optogenetik, bei welcher Gene von Mikroben, Bakterien und einzelligen Algen in ausgewählte Hirnzellen von Wirbeltieren (etwa Mäusen oder Fischen) verpflanzt werden.

„Das mag befremdlich klingen, hat aber seinen Sinn, denn in ihrem neuen Umfeld bewirken die geborgten Gene (sogenannte Opsine) die Produktion von bemerkenswerten Proteinen, die Licht in elektrischen Strom verwandeln (…) Mithilfe von Laserlicht, das wir durch dünne Faserkabel oder Hologramme ins Gehirn einbrachten, konnten wir in diesen modifizierten Zellen die elektrischen Signale verändern und das Verhalten der Tiere damit auf erstaunliche spezifische Weise manipulieren.“ Da gehen bei mir zahlreiche Warnlampen an, es klingt in meinen Ohren nach Doktor Frankenstein.

„Projections – A Story of Human Emotions“ heisst der englische Originaltitel. Das ist etwas ganz anderes als was der deutsche Titel (fälschlicherweise) behauptet. Was der Autor in diesem Werk versucht, ist, drei unterschiedliche Perspektiven, „die Erfahrungen eines Psychiaters, die Ursprünge der Emotionen und die aktuelle Hirnforschung“ zu einem Bild zusammenzufügen. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Patienten, Frauen wie Männern, auf der psychiatrischen Notaufnahme und macht dabei deutlich, wie stark da mit Annahmen, Vermutungen und Interpretationen operiert wird.

Eindrücklich ist dabei, wie er auch seine eigenen Empfindungen schildert. „Als ich mit ihm sprach, spürte ich, wie sich der Raum mit seiner aufgestauten Energie auflud. Während Alexander in seiner Verärgerung und Erregung vor mir sass, stiegen in meiner Vorstellung unwillkürlich Szenen aus seinem Leben auf, die sich in meinem Kopf festsetzten wie die Bilder aus dem Flugzeug in seinem – unausgesprochen, aber sonderbar klar und detailliert. Ich liess diese Bilder wachsen und sah ihn, wie er nach der Rückkehr von seiner Odyssee in seinem Wohnzimmer sass und die Augen öffnete.“

Karl Deisseroth „studierte in Harvard, u.a. Creative Writing“, informiert der Klappentext. Leider, habe ich immer mal wieder gedacht, denn sein bildungsgesättigter Stil, ist gar nicht mein Ding. Ein Beispiel: Als er einmal zum Opfer eines Raubüberfalls wird, notiert er: „Ich händigte meinen Rucksack aus und wartete, während der grosse Schatten ihn ausleerte. Dabei hielt ich den Blick fest auf die Klinge in der Hand des anderen gerichtet. Meine süsse Misericordia, das feine Stilett, mit dem man nach mittelalterlichen Schlachten wie den von Orléans oder Azincourt den Sterbenden den Gnadenstoss gab. Im unwirklichen Licht des Bahnsteigs schien die Klinge zu pulsieren und jede Zelle meines Körpers fiel in ihren Rhythmus ein.“ Meine eigenen Assoziationen, stelle ich mir vor, wären in einer solchen Situation wohl etwas anders ausgefallen.

Trotzdem: Am Aufschlussreichsten fand ich des Professors Selbst-Offenbarungen, in der Regel als Reaktion auf Verhaltensweisen der Patienten. „Er war ein menschliches Säugetier aus einem zerstörten Bau, im Alter von drei Jahren hatte er sein Nest verloren und war dann als Borderliner zur Welt gekommen – fixiert in der Zeit, mit kindischen Abwehrreaktionen, doch mit den Waffen, um meine Grenzen zu überwinden, mir unter die Haut zu gehen und meine tiefsten, ältesten Reaktionen anzurühren.“

Ist es ihm gelungen, die drei eingangs erwähnten Perspektiven zusammenzuführen? Mich haben seine Ausführungen oft ratlos gelassen, obwohl ich seine Herangehensweise speziell und anregend gefunden habe. Zu ungewohnt war mir sein Denken. Und seine Sprache. Doch was wir im Augenblick nicht verstehen, kann sich uns ja auch zu einem späteren Zeitpunkt offenbaren. „Tiefere Einsichten dürfen mehr Zeit beanspruchen und sehr viel später erfolgen, nachdem alle Informationen gesammelt sind und über Wochen und Monate reifen …“. Es ist dies eines der Phänomene, das mich immer wieder staunen macht: Dass viele Erkenntnisse, die wir mit uns herumtragen, Jahre brauchen können, um sich in Handlungen zu manifestieren – oder auch nicht.

PS: Unter dem Titel „Weiterführende Literatur“ finden sich Links auf frei verfügbare Hintergrundartikel zu den jeweiligen Themen. Das ist höchst hilfreich und für mich eine Premiere.

Karl Deisseroth
Der Stoff, aus dem die Gefühle sind
Über den Ursprung der Emotionen
Blessing, München 2021

Donnerstag, 4. November 2021

Bauchentscheidungen

Würde ich auf meinen Bauch hören, würde ich Bauchentscheidungen nicht lesen. Wenn mich nämlich der Klappentext informiert, dass der Autor ein weltweit renommierter Psychologe ist und das Gottlieb Duttweiler Institut ihn „als einen der 100 einflussreichsten Denker der Welt“ bezeichnet habe, sagt mir meine Intuition, dass wer mit solch eitlen Zuschreibungen hausieren geht, in einer Welt lebt, die mich nicht interessiert. Wer, um Himmels Willen, glaubt bloss, was ein paar Institutsangestellte in Rüschlikon (wo das Gottlieb Duttweiler Institut seinen Sitz hat) behaupten?

Soviel zu meinen Voreingenommenheiten. Doch wovon sind diese beeinflusst? Von meinen Ahnungen oder Überlegungen, von meinem bewussten oder unbewussten Denken? Ja, gibt es überhaupt unbewusstes Denken? Ich erhoffe mir von Bauchentscheidungen Aufklärung. Und bin gleichzeitig skeptisch, denn es liegt doch so recht eigentlich schon im Begriff des Unbewussten, dass man darüber – weil nicht bewusst – kaum etwas empirisch Belegbares aussagen kann.

Wie immer bei Akademikern, beginnt es mit der Eingrenzung des Themas bzw. der Begriffsklärung. „Intuition ist unbewusste Intelligenz, die – unabhängig vom Geschlecht – auf jahrelanger Erfahrung beruht. Man spürt sofort, was man tun soll, kann es aber nicht begründen.“ Das kennen wir alle; was es allerdings mit Intelligenz zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Und auch was es mit Erfahrung zu tun haben soll, erschliesst sich mir nicht – ich kenne jedenfalls Menschen jeden Alters mit aussergewöhnlich ausgeprägtem Gespür.

Gerd Gigerenzer verwendet „die Begriffe BauchgefühlIntuition und Ahnung austauschbar, um ein Urteil zu bezeichnen, 1. das rasch im Bewusstsein auftaucht, 2. dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind, 3. das stark genug ist, um danach zu handeln.“ Insbesondere Punkt 3 finde ich einigermassen problematisch. Anders gesagt: Ich bin froh, dass ich meiner Intuition nicht immer nachgebe, denn allzu oft hat sie mich nachweislich in die Irre geführt. Doch Professor Gigerenzer plädiert keineswegs für das Primat der Intuition; er weiss sehr wohl, dass Kopf und Bauch zusammengehören und die Welt für allzu simple Wahrheiten zu kompliziert ist. Ihm geht es darum, der Intuition die ihr gebührende Achtung entgegenzubringen, ihren Wert und ihre Bedeutung anzuerkennen, denn „ohne sie brächten wir wenig zustande.“

„Wir bewegen uns immer mehr weg von einer Leistungskultur und hin zu einer Rechtfertigungskultur. Eine Bauchentscheidung kann man nicht mit harten Fakten begründen und wird damit angreifbar. Doch mit einer Rechtfertigungskultur erstickt man Innovation in einer Flut von Dokumentation, um sich abzusichern statt etwas zu riskieren.“ Ich sehe das genauso, jedenfalls von der Tendenz her. Wenn ich mir jedoch den bekanntesten Bauchgefühl-Vertreter der letzten Jahre vor Augen führe, den Florida-Golfer, dann weiss ich auch, weshalb die Orientierung an Fakten wesentlich ist. Auch beim Fliegen, so haben mich Piloten instruiert, ist man schlecht beraten, sich auf seinen Bauch statt auf die Instrumente zu verlassen.

Bauchgefühle bestehen gemäss Gerd Gigerenzer aus einfachen Faustregeln, die sich evolvierte Fähigkeiten des Gehirns zunutze machen. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, „zunächst die verborgenen Faustregeln zu erläutern, die der Intuition zugrunde liegen, und an zweiter Stelle zu verstehen, wann Intuitionen zum Erfolg oder zum Scheitern führen können.“

Bauchentscheidungen ist reich an aufschlussreichen Fallbeispielen und illustrativen Geschichten, die sich zumeist spannend und amüsant lesen. Ganz speziell zugesagt hat mir Das Keine-Wahl-Dinner. Dann aber auch die Geschichte über Ungewissheit, die aufzeigt, dass bei der Zukunftsvorhersage Laien, Experten und Politiker gleich schlecht abschneiden (Überrascht das jemanden?) sowie die Geschichte über den Fall der Berliner Mauer. Bei allen drei (und auch bei anderen) war mir nicht immer klar, was sie mit Bauchentscheidungen zu tun haben. Eher unterstreichen sie des Autors Lieblingsthese: Zuviel Information überfordert uns; je weniger wir wissen, desto leichter gelingt die Entscheidungsfindung. Verwunderlich finde ich das nicht, über die Qualität des Entscheids sagt dies allerdings wenig aus.

Zu den Schlüsselsätzen in diesem Werk gehört für mich: „Ich denke, die meisten sozialen Interaktionen sind weniger das Ergebnis komplexer Kalkulationen als vielmehr das Resultat besonderer Bauchgefühle, die ich soziale Instinkte nenne.“ Woraus sich ableiten liesse, dass das Bild, das wir von uns Menschen – von der Vernunft geleitete Wesen – haben, weitestgehend auf einer Fehleinschätzung beruht. „Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt“, meinte bekanntlich Goethe. Schön zeigt das Professor Gigerenzer am angeblich alles dominierenden Egoismus auf, den er mit dem Familien- und dem Stammesinstinkt ergänzt.

Der Autor beklagt, dass „die Intuition von göttlicher Gewissheit zum blossen Gefühl abgestiegen“ sei. Das mag bei den sogenannt Gebildeten so sein, in der breiten Bevölkerung ist das meiner Erfahrung nach nicht der Fall. Dazu kommt, dass wir weit mehr von Gefühlen, Impulsen, Instinkten regiert werden als uns lieb ist. Nur geben wir uns das nicht zu, wollen wir mehr als bloss Tiere sein. Hochmut kommt vor dem Fall, heisst es bekanntlich. Und im Falle unserer Zivilisation paart sich dieser Hochmut gerade mit Ignoranz – und fährt uns an die Wand.

Bauchentscheidungen ist eine Horizont-erweiternde Lektüre und lohnt vor allem der vielfältigen Beispiele wegen, von denen viele aus des Professors abwechslungsreichem Berufsleben stammen.

Gerd Gigerenzer
Bauchentscheidungen
Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition
Pantheon, München 2021

Mittwoch, 1. September 2021

Dass alles miteinander verbunden ist ...

Ein Sonntagnachmittag in Santa Cruz do Sul. Ich bin bei R und T zum Brunch eingeladen. R, vom Krebs geschwächt, hat sich zurückgezogen. T und ich sitzen im Garten und tun, was wir immer mal wieder tun: Wir sprechen über Gott und die Welt, das Leben und den Tod. Eigentlich seien wir doch Tiere, bemerkt sie und meint das nicht etwa abschätzend. Sie stellt es einfach fest. Oder Maschinen, ergänze ich, denn praktisch alles geschieht automatisch. Atmen, Reden, Sehen, Sprechen, Denken.

Ihr gefalle es, sechzig zu sein, sagt sie, sie müsse jetzt nicht mehr so viel. Und auch den Respekt vor grossen Namen habe sie verloren. Mir geht es auch so – diejenigen, die sich und der Welt dauernd beweisen müssen, wie toll sie sind, finde ich eigentlich nur noch lächerlich.

Wie eingeschüchtert und unsicher ich mich als Student fühlte, wie fremd ich mir an der Universität vorkam. Noch viele Jahre, nachdem ich solche höhere Bildungsstätten erfolgreich absolviert hatte (ohne das Gefühl zu haben, ich wüsste nun wirklich etwas), machten mir akademische Titel Eindruck, jagten mir Professoren Respekt ein. Heute ist das anders, sehr anders, kann ich sie überhaupt nicht mehr ernst nehmen, halte ich die meisten für eingebildete, schwache Figuren, die sich an ihrem meist willkürlichen Detailwissen festklammern, unfähig, sich mit ihrer Vergänglichkeit (und nur diese sollte uns leiten!) auseinanderzusetzen.

Du bist nichts, gar nichts. So wurde T in Japan der Zen Buddhismus beigebracht. Sie erlebe sich als Teil des Universums, sagt sie. Und das werde sie auch immer sein. In welcher Zusammensetzung von Atomen auch immer.

Solche Gedanken sind mir nicht fremd. Dass alles miteinander verbunden ist, predige ich schon lange. Doch an diesem sonnig heissen Nachmittag erreichen sie mich anders, empfinde ich sie als eigenartig neu, unvertraut und gleichzeitig sehr nahe. Ich fühle mich an Empedokles erinnert, der einen universellen Kreislauf der Dinge postulierte, in dem es weder Schöpfung noch Vernichtung gibt. Und an den römischen Dichter und Philosophen Lukrez, der der Auffassung war, dass das Universum keinen Schöpfer oder Designer hat, sondern als immerwährende Veränderung existiert. Hilfreiche Gedanken, die näher an meiner Welterfahrung sind als das gewohnte Ursache-Wirkung-Denken.

Beim Abendessen ereifert sich eine der beiden Töchter von R und T über gesundes Essen, das auch gegen Krebs helfe, worauf T trocken meint: Bei all der gesunden Nahrung, die die Affen so zu sich nehmen, müssten die eigentlich ewig leben.

Hans Durrer
Gregors Pläne
Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern
neobooks, München 2021

Mittwoch, 25. August 2021

Der unangepasste Mensch

 Dass es mich gibt ist einem Zufall zu verdanken. Hätten sich nämlich Ei- und Samenzellen meiner Eltern nicht genau zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt getroffen und vereinigt, gäbe es mich nicht. Für diejenigen, die hinter Allem und Jedem einen geheimen Plan vermuten oder sich Bedeutsames erhoffen, ist das eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis, auf mich selber wirkt sie jedoch vor allem (nein, nicht nur) befreiend. Auch natürlich weil sie nicht nur mich, sondern so recht eigentlich alle Lebewesen betrifft und so meine Ego-Fixiertheit relativiert.

Noch Einiges mehr ist dem Zufall zu verdanken, wie Martin Brüne, Jahrgang 1962, Professor für Psychiatrie, in Der unangepasste Mensch. Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution ausführt, auch wenn es dem Menschen eignet, die Dinge entschieden anders zu sehen und die Tatsache, dass er überlebt, mehr seinem Geschick als der Natur zurechnet. Was das typisch Menschliche ausmacht, was uns von unseren nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet und was uns verbindet, darum geht es in diesem Buch, das überdies davon handelt, „welche psychischen und körperlichen Probleme uns begegnen, wenn wir versuchen, den Spagat zwischen Steinzeit und Moderne zu meistern“ und auch davon, „was uns unsere evolutionäre Vergangenheit lehren kann, Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln.“

So nachvollziehbar ein anthropozentrisches Weltbild auch ist (wie wir die Welt wahrnehmen, liegt schliesslich in uns begründet), es ist nachweislich falsch und führt letztlich zu einem nicht mehr rückgängig zu machenden Desaster. Auch die Aufforderung „Macht Euch die Erde untertan“ hat zu Corona und zur Klimakatastrophe geführt. Nichtsdestotrotz: wir haben uns als unglaublich erfolgreich erwiesen, sind aber nach wie vor extrem vulnerabel (und können daran wenig bis gar nichts ändern, meint Professor Brüne).

Es ist hilfreich, den Menschen in grösseren Zusammenhängen zu betrachten. „Wenn sich Umwelten so rasch ändern, dass Tier- und Pflanzenarten nicht die Flexibilität haben, sich daran anzupassen, sterben sie aus. Dies ist es, was wir heute geradezu in Echtzeit beobachten können. Jedes Jahr verschwinden geschätzte 20 000 Tier und Pflanzenarten unwiederbringlich von unserem Planeten.“ Bedauerlicherweise scheint es uns nicht gegeben, vorausschauend zu empfinden (vorausschauend zu denken geht schon, aber was nützt schon denken?), doch uns darum zu bemühen, unseren Erkenntnissen auch Taten folgen zu lassen, wäre überaus nützlich.

Es wäre nicht nur wünschenswert, sondern ist geradezu überlebenswichtig, dass wir lernen, „der Natur nicht zu sehr ins Handwerk zu pfuschen“. Dabei hilft es auch, sich zu vergegenwärtigen, dass unser Organismus ein eigentliches Ökosystem bildet, bestehend aus etwa 30 Billionen eigener Zellen „und mindestens noch einmal so viele Zellen in uns und auf uns, die nicht unser Erbgut tragen, sondern das von Bakterien, Pilzen und Viren – zusammengenommen ‚Mikrobiota‘ genannt.“ Es gibt Schätzungen, die von einem Verhältnis von 10 zu 1 ausgehen. Das Verhältnis von unseren etwa 25 000 Genen zu den etwa acht Millionen Gene des Mikrobioms ist noch drastischer. „Die nüchterne Bilanz ist daher, dass das meiste in und auf unserem Körper nicht uns gehört, sondern artfremd ist.“ Das wirklich zu verstehen, kann ehrfürchtig machen.

Martin Brüne widmet sich ganz unterschiedlichen Themen, von der Evolution zur Genetik, dem Darm zur Borderline-Störung, der Schizophrenie zum Mitgefühl mit Gefühl. Immer wieder stosse ich auf Sätze, die mich innehalten und sie bedenken lassen. Etwa dass Tiere, entgegen uns Menschen, einen Grossteil ihres Lebens tatsächlichen Gefahren ausgesetzt sind. „Anders als sie können nur wir Menschen uns bedroht fühlen, ohne dass dafür ein faktischer Grund dafür vorliegt.“ Daraus schliesse ich unter anderem: Eine gute Therapie (von griechisch ‚therapeia‘ für ‚Dienst, Pflege, Heilung’“) sollte sich an Fakten (und weniger an Interpretationen) orientieren.

Zu einer guten Behandlung gehörte früher auch immer die Einbettung der Massnahme in ritualisierte Abläufe. Davon gibt es in der modernen Medizin leider immer weniger, weil Rituale Zeit kosten.“ Und Krankenhäuser immer häufiger zu kranken Häusern werden, was damit zu tun hat, dass unsere Zeit sich der Profit-Maximierung verschrieben hat, der auch (verblendeter geht es kaum) das Gesundheitswesen unterworfen wird.

Fast schon seherisch (kurz vor der Drucklegung erschien Covid-19 auf der Bildfläche) weist Martin Brüne darauf hin, dass möglicherweise „irgendein fieser ‚Superbug‘ auftaucht, der die Welt in Atem hält. Mit dem Klimawandel ziehen nämlich, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, Tiere bei uns ein, die höchst unwillkommen sind.“

Fazit: Grundsätzlich, lehrreich und nützlich.

Martin Brüne
Der unangepasste Mensch
Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution
Klett-Cotta, Stuttgart 2020

Mittwoch, 18. August 2021

Photographs & Memories

 


Copyright @ Blazenka Kostolna

I think it most baffling that, when discovering photos that my friend Blazenka took of me, I did not recall ever having laid eyes on them. Yet since they were sent to me on 28 December 2019, they surely must have been taken around Christmas 2019 at Blazenka's place in Zurich. Well, no, for I was then in Brazil and so it must have been Christmas 2018. However, despite that the photos prove that we had then met for our traditional Christmas dinner, I still do not remember anything from that encounter that, it needs to be stressed, happened not so long ago. And that, of course, begs the question whether memory can ever be trusted? Well, in regards to mine, I'm doubtful.

Mittwoch, 11. August 2021

Vom Adel der menschlichen Seele

Herausgegeben und eingeleitet wird dieser Band von Gerhard Wehr, der nicht nur die Lebensspuren des 1260 als Eckhart von Hochheim in Thüringen geborenen, späteren Meisters nachzeichnet, sondern auch Hinweise auf wesentliche Punkte seiner Lehre gibt.

Eckhart tritt in den Dominikanerorden ein, einem Bettelorden, der die Armut lebt und einen asketischen Lebenswandel praktiziert. Eine Weltflucht ist dies jedoch nicht, ganz im Gegenteil – Gott soll in Allem und Jedem jederzeit gegenwärtig sein. Es ist dies eine Lehre, die auch der Chassidismus pflegt.

Im Alter von 40 wird Eckhart zum Magisterstudium nach Paris geschickt, dem damaligen Zentrum scholastischer Gelehrsamkeit. Seine Predigten gehen weit über das Übliche hinaus, seine Spiritualität verträgt sich nur schlecht mit der offiziellen Kirche – so jedenfalls sahen es einige Vertreter dieser Kirche, die dann auch einen Ketzerprozess gegen ihn anstrengten. Es ist nicht ohne Ironie, dass der Papst diesen kirchentreuen Eckhart als Häretiker verurteilte.

"Man muss die einzelnen Aussagen auf sich wirken lassen. Man muss sich ihrer spirituellen Strahlkraft aussetzen, bis sich etwas von der Innenerfahrung mitteilt, die ihnen innewohnt." Sich mit dieser Einstellung mit diesem Werk zu befassen, bedeutet, sich Zeit zu nehmen. Zu den Sätzen, dir mir besonders nahestehen, gehören: "Wahrhaftig, mit wem es recht steht, dem ist es an allen Orten und bei allen Leuten recht. Mit wem es aber nicht stimmt, dem ist es an allen Orten und bei allen Leuten nicht recht."

Vom Adel der menschlichen Seele lese ich als eine Besinnung auf das Wesentliche, als eine Anleitung für ein Dasein als Teil eines grösseren Ganzen, als eine Aufforderung, sich selbst zuzulassen. Die Sucht, heisst es bei den Anonymen Alkoholikern, sei ein Ego-Problem. Unser Ego steht uns im Weg. Bei Eckhart liest es sich so: "Ob dir's bewusst oder unbewusst ist  – nie steht ein Unfriede in dir auf, der nicht vom Eigenwillen kommt, ob man es merkt oder nicht. Nicht das ist schuld, dass dich die Umstände oder die Dinge hindern; sondern du selbst bist es in den Dingen, der dich hindert. Denn du verhältst dich in ungeordneter Weise zu den Dingen. Darum beginne zuerst bei dir und lass dich."

Unsere Welterklärungen offenbaren nur eine Gewohnheit des Denkens. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören zu den uns geläufigen Kategorien. Die Ewigkeit hat darin keinen Platz, sie ist zu absolut, uns aber ist alles relativ. Eckhart sieht das anders. "Die Tage, die seit sechs oder sieben Tagen vergangen sind, und die Tage, die vor sechstausend Jahren vergingen, sind dem Heute so nahe wie der gestrige Tag."

Nimm von mir, was mich hindert zu dir, hat Niklaus von Flüe Gott bekanntlich angefleht. Um wirklich zu leben, müsse man zuerst sterben, sagen andere. Eckhart sagt, man müsse die Menge verlassen und zu jenem Grund zurückkehren, aus dem man gekommen ist.  "Die 'Menge', das sind die (naturhaften) Kräfte der Seele und ihr Treiben, Gedächtnis, Verstand und Wille, die dich allesamt zerstreuen. Darum musst du sie alle lassen, die Sinnenhaftigkeit und das Hängen an den Bildern; kurz alles, in dem du dich selbst vorfindest und dich meinst. Dann erst kannst du die Geburt finden; wahrhaftig, anders nicht ...".

Fazit: Ein wesentliches und überaus hilfreiches Buch.

Meister Eckhart
Vom Adel der menschlichen Seele
Anaconda, München 2021

Mittwoch, 4. August 2021

Toby Muse: Kilo

"Der tödliche Weg des KOKAINS aus dem Dschungel in die Grossstadt"  heisst der Untertitel dieses hoch gepriesenen Werkes (unter anderen von John Lee Anderson, einem Nordamerikaner, der sehr viel von Lateinamerika versteht und "Che – Die Biografie' geschrieben hat), doch ich frage mich, weshalb der Weg, den das Kokain nimmt, eigentlich relevant sein soll. Ist das Problem denn nicht, dass es Abnehmer für das weisse Pulver gibt?

Sowieso, ohne Konsumenten keine Droge, doch dieses Buch ist weit mehr als ein Kokain-Buch, es ist auch eine packende Einführung in ein Kolumbien, von dem man in den Massenmedien kaum einmal liest. "Wir sind in Catatumbo, im Nordosten Kolumbiens, an der Grenze zu Venezuela. Einer Gegend voller Urwälder, Berge, Krieg, unverwüstlicher Menschen und Magie, beherrscht von Guerillas, Kokain und Armut, bewohnt von einem Volk, das von seiner Regierung verlassen wurde."

Zudem ist es Buch, das einem bewusst macht, wie problematisch, notwendig und unmöglich diese Art von Journalismus ist. "Ich schreibe, weil ich hoffe, dass meine Berichte die Welt verändern können. Wenn die Welt die Wahrheit kennt, können Dinge sich ändern." Von einer 19jährigen Prostituierten erhält er für diese Aussage nur Mitleid. Überdies hat sie Angst: Wird sie zur Zielscheibe, wenn sie mit ihm spricht? "Ich sage ihr, dass es in all den Jahren, in denen ich in Kolumbien arbeite, noch nie passiert ist, dass meinetwegen jemand getötet wurde."

Auch von der Pazifikküste schreibt er, die er als kolumbianische Tragödie bezeichnet: "Denn die Zentralregierung hat sie den gefrässigen, korrupten Lokalpolitikern überlassen." Die Drogenhändler sind allgegenwärtig und äusserst brutal; Feinden der Schmuggler werden bei lebendigem Leibe Gliedmassen abgehackt und dann in den Ozean geworfen. "Diese Männer führen ein Leben voller Gewalt und Chaos."

Es zeichnet dieses Buch aus, dass es die ganz unterschiedlichen Dimensionen des Kokains aufzeigt. Eine davon hat wenig mit dem Stoff und ganz viel dem Geld, das sich damit verdienen lässt, zu tun. Doch vor allem hat es damit zu tun, dass man sich kaufen lässt. "Die Freundin eines Narcos erzählte mir, sie gebe fünfzigtausend Dollar pro Monat von seinem Geld für Mode aus ... Diese Frauen tragen Kälte in sich, haben Härte in den Augen. Ihr Anblick ist seltsam: schöne Gesichter, straffe Körper und die Augen von Toten."

KILO ist auch die Geschichte einer Abhängigkeit, einer Sucht  nach Sex. "Sex ist einer der Haupttriebfedern des Kokaingeschäfts, keine Sonderzulage, die der Job so mit sich bringt." Kokain enthemmt – Orgien im Drogenrausch; Streitereien, die in Schusswechsel ausarten. Dazu kommt: "Narcos sind exzentrisch und abergläubisch. Weil sie an nichts glauben, glauben sie an alles."

So recht eigentlich ist das keine Drogen-Geschichte, sondern eine Kapitalismus-Geschichte, denn was "unsere" gängige Gesellschaftsform auszeichnet, ist die Gier. Dies ist der wesentliche Grund, weshalb der Krieg gegen Drogen gescheitert ist. "Das schmutzige Geheimnis des organisierten Verbrechens lautet, dass Drogengeschäfte ohne Hilfe durch die Obrigkeit unmöglich sind."

Toby Muse schildert überaus eindrücklich nicht nur ein Kolumbien, in dem der Staat grossenteils abwesend ist (die Antidrogenpolizei, die in diese Gebiete geschickt wird und einen aussichtslosen Kampf führen muss, wird buchstäblich geopfert), er tut mit diesem Buch mehr: Er zeigt überzeugend auf, dass es sich beim Handel mit Kokain um ein globales Problem handelt, das letztlich wenig mit der Droge, doch viel mit dem menschlichen Wünschen und Wollen zu tun hat.

Fazit: Packend, aufwühlend und erschreckend.

Toby Muse
KILO
Der tödliche Weg des KOKAINS aus dem Dschungel in die Grossstadt
Goldmann, München 2021

Sonntag, 1. August 2021

Der Gaslight-Effekt

Sprache ist, wie alles andere auch, dem stetigen Wandel ausgesetzt: In der heutigen Zeit sind es vor allem Anglizismen, ohne die das Deutsche offenbar nicht mehr auskommt. Der Buchhalter heisst jetzt Controller, der Chef CEO und die Personalchefin Head of Human Resources.  Diese Begriffe wörtlich ins Deutsche zu übersetzen ist keine gute Idee; das gilt auch für Gaslight-Effekt, den man womöglich nicht sofort versteht, doch Gaslicht-Effekt eben noch weniger. Was also ist der Gaslight-Effekt?

Am besten illustriert man das an einer Geschichte. Und ganz besonders eignet sich dazu die von John Oliver, einem englischen Moderator, der im amerikanischen Fernsehen seine eigene Show hat, in die er den früheren amerikanischen Präsidentendarsteller (den Golfer aus Florida) nie einladen würde, da er diesen für einen ausgemachten Trottel hält, was den jedoch nicht davon abhält, öffentlich zu behaupten (mehrmals), Oliver habe ihn in seine Sendung eingeladen (mehrmals), was er jedoch abgelehnt habe. Oliver wusste, dass der Florida-Golfer log – und war trotzdem verunsichert: "Ich habe sogar nachgeforscht, um sicherzugehen, dass niemand ihn versehentlich eingeladen hatte. Hatte aber natürlich niemand."

Beim Gaslighting geht es also darum, jemanden derart zu verunsichern, dass er seiner eigenen Wahrnehmung nicht traut. Gemäss der Psychoanalytikerin Robin Stern geschieht eine solche Verunsicherung schrittweise. Zudem unterscheidet sie drei Typen des Gaslighters. "Der Glamour Typ erschafft eine Welt nur für sie; Der Good-Guy-Gaslighter: Was stimmt bloss nicht?; Der 'Tyrannisator': Zuständig für Schikanen, Schuldgefühl und Liebesentzug."

Wer jetzt denkt, wer fällt schon auf solche Deppen rein?, sollte genauer hinschauen, denn Beziehungen, alle Beziehungen, sind viel häufiger von vielfältigen Abhängigkeiten geprägt, als uns lieb ist. Gaslighting bedeutet, dass eine solche Abhängigkeit lähmend ist. Die Lösung liegt auf der Hand: Man muss sich daraus befreien. Doch wie so vieles ist das leichter gesagt als getan. Und Robin Stern erklärt, weshalb das so ist.

Da ist zum Beispiel die Empathiefalle. Empathie ist ja an sich positiv, ja wünschenswert, doch eben nicht immer. Etwa dann, wenn sie nur einseitig ist. "Sie wollte seinen Standpunkt verstehen, er aber nicht ihren. Wenn sie sich stritten, liess sie seinen Argumenten viel Raum, er aber ging nie auf ihre ein." Wir kommt man da raus? Robin Stern rät dazu, die eigenen Gedanken und Gefühle zu klären, sich an einem idealen Berater zu orientieren und mit jemandem zu sprechen, dem man vertraut. Ziel dabei ist, sich darauf zu besinnen, wer man ist und was man im Leben will.

Problematisch ist auch die Erklärungsfalle. "Wenn Sie in die Erklärungsfalle tappen, versuchen Sie möglicherweise, sein Verhalten zu entschuldigen. Sie sind so erpicht auf seine Anerkennung und sehen ihn in einem solch verklärten Licht, dass Sie sein Verhalten ignorieren und sich auf seine Aussage konzentrieren." Auch hier gilt: Bei sich bleiben. Dies meint: Statt sich um die Anerkennung duch den andern zu bemühen, sich diese selber geben.

Der Gaslight-Effekt ist reich an individuellen Fallgeschichten. Dazu kommen kommen viele Checklisten sowie zahlreiche Anregungen, die, auch wenn sie häufig von einer schwer zu übertreffenden Simplizität sind – "Ich sehe die Dinge anders."; "Das ist deine Wahrnehmung, meine ist anders." – , eben doch auch immer mal wieder hilfreich sein können.

Dr. Robin Stern
Der Gaslight-Effekt
Wie Sie versteckte emotionale Manipulationen
erkennen und abwenden
Komplett-Media, München/Grünwald 2017

Dienstag, 27. Juli 2021

Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern

Machen wir eigentlich jemals etwas anderes als Pläne?, fragt sich der Ich-Erzähler Gregor, ein sensibler Besserwisser, dessen Leben aus nichts anderem zu bestehen scheint. Die vorliegende Collage, in der sich Aufenthalte in fremden Kulturen mit Überlegungen zur Sucht, zur Fotografie und zum Loslassen abwechseln, berichtet vom Festklammern an der Idee, das Leben sollte gefälligst so sein, wie man das gerne hätte.

Pläne Machen, Sucht und Fotografie, wie geht denn das zusammen? Alle drei sind so recht eigentlich nichts anderes als der Versuch, Halt und Orientierung im Leben zu finden. Wir klammern uns an unsere Pläne, die uns die Illusion der Kontrolle verschaffen, an unsere Süchte, die uns vor unseren Gefühlen schützen und an die moments in time, von der uns die Fotografie glauben lässt, dass es sie gibt.

Gregors Pläne ist ein fiktives Werk, das einerseits von der Suche nach der idealen Arbeitsstelle berichtet, und sich andererseits mit der Frage auseinandersetzt, ob wir mit unserem beständigen Streben nach Stabilität und Sicherheit nicht einer grandiosen Illusion aufsitzen, die so recht eigentlich ein veritabler Selbstbetrug ist.

Sich wirklich aufs Leben einzulassen, dies die Folgerung aus Gregors Monolog, bedeutet loszulassen, von allem, inklusive unserer Vorstellungen und Ideale. Doch wollen wir das? Und falls ja, wie geht das? The readiness is all sagt Horatio in Hamlet.

Hans Durrer

Gregors Pläne
Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern
neobooks, München 2021

Mittwoch, 21. Juli 2021

Körperzeiten

Werner Bartens, geboren 1966, hat Medizin, Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. In seinem neuesten Buch Körperzeiten verspricht der Untertitel Wie wir im richtigen Moment das Richtige tun und besser lernen, lieben und leben eine Verbesserung der Lebensqualität. Sein Ansatz dabei: Entscheidend ist nicht so sehr, wie wir die Dinge tun, sondern wann.

Diese Herangehensweise setzt natürlich voraus, dass es die Zeit auch wirklich gibt. Die nordamerikanischen Indianer (jedenfalls die in Süd Dakota) bezweifeln das; ich selber scheine eine immerwährende Gegenwart zu erleben. Auf der praktischen Alltagsebene scheint es sich jedoch mit der Zeit so zu verhalten, wie Einstein einmal unser Verhältnis zur Realität definiert hat: Sie mag eine Illusion sein, doch eine erstaunlich beständige.

Die Zeit ist ein Terrorist, pflegte mein ehemaliger Zahnarzt (damals bereits über neunzig) zu sagen. Daran musste ich denken als ich bei Werner Bartens las, wie vielfältig sie uns unter Druck setzt und unser Leben bestimmt. Sofern wir uns das gefallen lassen, will ich sofort hinzufügen. Es geht also darum, "sich nicht als wehrloses Opfer der Umstände zu sehen, sondern den Handlungsrahmen auszuschöpfen, den man hat. Und der ist häufig erstaunlich weit gefasst, in freien, demokratischen Gesellschaften sowieso", behauptet der Autor. Arbeitgeber sehen das auch so, Arbeitnehmer eher weniger.

Vielfältig angespannt geht der moderne Mensch durchs Leben. Die Zeit, um auf sich selbst zu hören, fehlt den meisten. Dass das nicht gesund ist, geschweige denn gut tut, ist allgemein bekannt, weshalb man denn in Seminaren und Workshops lernt, dass es nicht nur gut ist, ab und zu eine Pause einzulegen, sondern dass sich das auch auszahlt. Mit ein wenig Selber-Denken, könnte man sich die Kurskosten sparen.

Die Magie des Augenblicks ereignet sich so recht eigentlich immer ungeplant und meist unverhofft. Dass es trotzdem empfehlenswert ist, seine Aufmerksamkeit zu steuern, macht Werner Bartens an ganz vielen Beispielen deutlich. Dabei erfahre ich auch, dass die Diagnose ADHS (von der ich eh noch nie viel gehalten habe) von einem erfahrenen Therapeuten so kommentiert wird: "Die meisten Kinder mit dieser Diagnose haben gar kein Aufmerksamkeitsdefizit. Die Aufmerksamkeit der Kinder ist nur nicht dort, wo sie Eltern und Kinder gerne hätten."

Körperzeiten ist ein vielfältig anregendes Buch, doch wer sich davon versprochen hat, was der Untertitel verspricht, nämlich Wie wir im richtigen Moment das Richtige tun und besser lernen, lieben und leben, der wird vermutlich enttäuscht sein. Wer hingegen gerne einem talentierten Geschichten-Erzähler zuhört, der viel Lehrreiches zu berichten weiss, trifft auf eine hilfreiche und oft amüsante Fundgrube. So berichtet der Autor etwa von Sascha Lobo, der die Erfahrung machte, dass die Zeit  einiges von selbst erledigt. "Lobo hatte sich irgendwann dazu entschlossen, Behördenbriefe nicht mehr zu öffnen. Als er nach einem Jahr nachschaute, was drinstand, war das Verfahren gegen ihn wegen Geringfügigkeit eingestellt worden."

Zugegeben, meine Erwartungen wurden bei weitem nicht erfüllt. Anstatt mir zu sagen, wann genau ich was tun soll, um fortan ausgeglichen und glücklich meine Tage zu verbringen, werde ich mit einem Sammelsurium von schlauen Anregungen und vielerlei Wissenswertem abgespeist. Darunter finden sich übrigens auch ausgesprochen nützliche Hinweise. So weist der Autor unter anderem diejenigen, die glauben, was nicht verboten sei, sei ganz bestimmt unbedenklich, wie folgt zurecht: "Sicher, so wie es bis heute nicht verboten ist, mit Föhn in die Badewanne zu steigen, mit Drähten in Steckdosen herumzubohren oder sich ausschliesslich von Marzipanschweinen zu ernähren."

Körperzeiten ist unterhaltsam und erhellend, auch wenn sich darin für meinen Geschmack arg viele "es kommt drauf an"-Aussagen finden. Andererseits: So ist die Welt nun mal. Und eben auch die Wissenschaft. Gewissheiten gibt es nur auf Zeit. Das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach. Zu meinem Lieblingsratschlägen in diesem Werk gehört: "Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen." (Georg Christoph Lichtenberg).

PS: Sehr gelacht habe ich, als ich die Danksagung las, denn diese führt (auf zwei Seiten!) neben zwei Doktoren ausschliesslich Professoren auf. Es ist nicht anzunehmen, dass sie zu ihren Titeln und Funktionen gekommen sind, weil sie sich den Erfordernissen unserer überaus hektischen Zeit, und insbesondere dem Zeitdruck, entzogen haben.

Werner Bartens
Körperzeiten
Wie wir im richtigen Moment das Richtige
tun und besser lernen, lieben und leben
Droemer, München 2021

Donnerstag, 15. Juli 2021

Einsichten Ausblicke

Von den vielen Büchern, Essays und Artikeln, die ich gelesen habe, ist mir erstaunlich wenig hängengeblieben. Warum sich mir dennoch Einiges davon ins Hirn eingegraben hat und Anderes nicht, vermag ich nicht zu sagen. Zu dem Hängengebliebenen gehört eine Aussage von Albert Hofmann, dem Entdecker des LSD, auf die ich in einem Artikel der Weltwoche vom 15. Januar 1998 gestossen bin und worin es heisst: "Jeden Morgen lässt er seinen Wecker um sechs schellen, um zu erleben, wie der Morgen, wie der Tag kommt, und dem Herrgott seine Welt zu sehen."

Als ich zum ersten Mal seine Essays Einsichten Ausblicke durchblättere, fällt mein Blick auf:

Ist es nicht wunderbar.
dass wir nicht wissen,
woher wir kommen,
wohin wir gehen?
Das Wissen
würde das Wunder
zerstören.

So habe ich das noch nie gesehen. Und obwohl ich mit der Vorstellung, dass das Wissen das Wunder zerstört, nicht einig gehe, gefällt mir die Idee, dass es wunderbar sein kann, nicht zu wissen. Anstatt einen vermeintlichen Halt im Wissen zu suchen, wäre wichtiger, das Wunder des Lebens zu erfahren. So .interpretiere ich dieses Gedicht momentan.

Wobei: Das Eine schliesst das Andere ja nicht notwendigerweise aus. So hat etwa die wissenschaftliche Forschung "sichtbar werden lassen, wie der Mensch in das Ganze der Natur eingebettet ist und wie er ein unablösbarer Teil von ihr darstellt. Dieses Wissen steht in Übereinstimmung mit der emotionalen Erfahrung des Mystikers von der Einheit alles Lebendigen."

Für Kinder ist die Welt noch nicht selbstverständlich. "So erscheint sie erst den Erwachsenen mit ihrem durch Gewohnheit abgestumpften Empfinden." Albert Hofmann warnt: "An Selbstverständlichkeit könnte die Welt zugrundegehen." Um dies zu vermeiden, gilt es Gegensteuer zu geben. De-automatize, hat Osho vorgeschlagen.

Unsere Weltsicht hängt von unserem Standpunkt ab: Unten im Tal, oben auf dem Berg, in der Tiefe des Meeres, vom Weltall aus – die Perspektiven variieren, doch sie schliessen sich nicht aus, sie ergänzen sich. Und genau davon handeln diese Essays.

"Das Sender-Empfänger Modell der Wirklichkeit" heisst der erste, der aufzeigt, "dass Wirklichkeit kein fest umrissener Zustand ist, sondern das Ergebnis von kontinuierlichen Prozessen, bestehend aus einem kontinuierlichen Input von materiellen und energetischen Signalen aus dem äusseren Raum und ihrer kontinuierlichen Dechiffrierung, das heisst Umwandlung in psychische Erfahrungen, im inneren Raum." Wir sind also stetig dabei, unsere sehr persönliche Wirklichkeit zu erschaffen. Und zwar auf Grundlage dessen, was uns zur Verfügung steht, denn die menschlichen Sinne sind begrenzt. So kann etwa unser Sehapparat nur einen kleinen Ausschnitt der im Universum existierenden elektromagnetischen Wellen erkennen.

Der zweite Essay ist mit "Geborgenheit im naturwissenschaftlich-philosophischen Weltbild" überschrieben, und macht mir bewusst, wie informiertes Hinschauen das genaue Hinsehen ergänzt. "Wenn ich im Garten oder auf einem Spaziergang vor einer Pflanze stehe, sie meditierend betrachte, dann sehe ich nicht nur, was auch der Nichtchemiker sieht, ihre Gestalt, ihre Farbe, ihre Schönheit, sondern es drängen sich mir zudem Gedanken auf über ihren Bau, ihr inneres Leben und die chemischen und physikalischen Vorgänge, die ihm zugrundeliegen."

Mit "Über den Besitz" ("Der Herr sagte: Mein Garten ...– und sein Gärtner lächelte.") ist der dritte Essay überschrieben; mit "Atomkraftwerk Sonne" der vierte ("Es wurde errechnet, dass die an einem einzigen Tag auf die Erde einfallende Energiemenge ausreichen würde, um den heutigen Energiebedarf für einige hundert Jahre zu decken."). Abgerundet wird der Band mit "Gedanken und Bilder", aus dem das eingangs erwähnte Gedicht stammt. 

Diesen Einsichten Ansichten gemeinsam ist eine Grundhaltung der Ehrfurcht – und diese tut uns Not.

Albert Hofmann
Einsichten Ausblicke
Essays
Nachtschatten Verlag, Solothurn 2021

Mittwoch, 7. Juli 2021

Der König auf diesem Planeten

 Meiner Meinung nach ist das Virus der König auf diesem Planeten, und wir sollten uns nach ihm richten. Der Mensch existiert nur als Gast dieses Meisters der Quantensprünge, der sich so hervorragend an das anpasst, was er nicht vorhergesehen hat.

Pauline Melville: Der Bauchredner (2000)

Donnerstag, 1. Juli 2021

Bewölkt aber trocken

"Ein Roman-Debüt, in dem tiefer Ernst und überbordernder Witz auf grossartige Weise zusammenkommen", lese ich auf dem Buchumschlag. Da habe ich offenbar ein ganz anderes Buch gelesen. Auf mich wirkte die Lektüre extrem detailreich (jeder Gedanke, welcher der Protagonistin durch den Kopf geht, scheint ihr wert, aufgezeichnet zu werden – sogar was es in der Klinik zum Mittagessen gibt und dass man dabei Schlange stehen muss, erfährt man); ihre Rückblenden auf die Probleme mit Mann und Sohn waren mir schlicht zu viel. Doch dieses wortreiche Abschweifen von dem, worum es eigentlich gehen sollte – sich der Sucht zu stellen – ist natürlich typisch für Alkoholiker und insofern eben auch ausgesprochen realitätsnah.

Lucy, 35, fährt angetrunken in eine Leitplanke. Der zweijährige Sohn auf dem Rücksitz bleibt zwar unverletzt, doch sie selber kriegt einen gehörigen Schreck (Schuldgefühle inklusive). Auf Betreiben ihrer Freundin Marie geht sie in eine Entwöhnungsklinik. "Sie sind nicht sehr freundlich gewesen zu ihrem Körper", fasst die einweisende Ärztin den Alkoholismus schön zusammen.

Ein Klinikeintritt bedeutet nicht, dass man bereit ist, sich der Sucht zu stellen und das Nötige zu tun, um davon loszukommen bzw. sie zum Stillstand zu bringen. Lucys Widerstände sind mannigfaltig, ihr differenziertes. kritisches Denken, das sie vornehmlich zum Rationalisieren ihrer Skepsis einsetzt, stehen einer Genesung im Weg. Sie hat einen Rückfall, wird jedoch nicht rausgeschmissen.

Sie nimmt an Treffen der Anonymen Alkoholiker teil, hört Hilfreiches von der Therapeutin, die ihr rät, in den Körper, ins Hier und Jetzt zu kommen. "Der Körper kennt keine Vergangenheit. Und keine Zukunft. Er ist immer gegenwärtig. In jeder Sekunde sterben Zellen und es bilden sich neue. Je besser Sie lernen, sich in Ihrem Körper zu verankern, umso weniger kann die Angst Sie überfluten. Ihr Körper holt Sie zurück auf den Boden. Üben Sie, ihn zu spüren. einfach irgendwo anfangen. Bei den Händen zum Beispiel." Es sind vor allem solche Stellen, welche die Lektüre für mich lohnen.

Bewölkt aber trocken überzeugt vor allem als Dokument des Sich-Nicht-Ändern-Wollens. Nichts, das die Protagonistin nicht kritisiert. "Alles, was  in der Gruppe passiert, bleibt hier im Raum", sagt die Therapeutin nach einem Gruppentreffen. Ein Standardsatz, der bei den Meetings der Anonymen Alkoholiker regelmässig zu hören ist. Es ist eine Aufforderung an alle Teilnehmenden, doch Lucy, weit weg von jeder Eigenverantwortung, fragt sich, wie die Therapeutin das bloss garantieren will.

Therapeuten haben den Vorteil der Distanz und können so Muster erkennen, die denen, die zu nahe dran sind, meist entgehen. Lucy wollte nie so sein, wie ihre trinkende Mutter. "Kinder sind wie Spiegel", sagt die Therapeutin einmal. Möglicherweise habe ihre Mutter sich selbst gesehen.

Wie alle Alkoholiker ist Lucy feige, weicht aus, konfrontiert sich nicht mit der Lebenswirklichkeit. Bevor sie eine Entscheidung treffe, so die Therapeutin, müsse sie auch die Konsequenzen kennen. Ein Leben ohne Alkohol bedeute: "Kein Sicherheitsnetz mehr. Sie werden Angst haben. Sich einsam fühlen. Wütend sein. Alles, was zum Leben gehört." Kein Wunder, gelingt den wenigsten, der Sucht Paroli zu bieten.

Schlussendlich traut sich Lucy, zu fühlen, was sie fühlt und zu sagen, was sie denkt. Sie hat den Mut zur Eigenverantwortung. Und macht die Erfahrung, dass wenn sie sich ändert, auch die Menschen um sie herum sich ändern.

PS: Der Kondukteur im Zug wirft einen Blick auf den Buchumschlag und so frage ich ihn, was er glaube, wovon das Buch wohl handle. Offenbar vom Wetter, meint er. Ich nicke nur und denke so für mich: Jeder Kontext ist wieder anders, die Vorstellungen, die wir der Welt überstülpen, höchst individuell. 

Marion Zechner
Bewölkt aber trocken
Leykam Verlag, Wien 2021

Dienstag, 15. Juni 2021

Die Wurzeln des Glücks

Wie die Natur unsere Psyche schützt lautet der Untertitel und ist auch der Grund, weswegen ich mich für dieses Buch interessiere. Ich habe schon viel über das Verhältnis Natur und Mensch gelesen und darunter viel Anregendes, doch der Begriff der "Naturdefizit-Störung" von Richard Louv war für mich neu. "Er beschreibt den Preis, den der Mensch angesichts seiner mangelnden Verbindung zur Natur zahlt: eine Unterentwicklung der Sinne, Konzentrationsschwierigkeiten und die Zunahme von körperlichen und seelischen Krankheitsbildern." Diese Abspaltung, die auch in vielen anderen Bereichen charakteristisch für den modernen Menschen ist, scheint mir die Hauptkrankheit unserer Zeit.

"Doch trotz unserer Entfremdung beziehen wir uns noch immer auf die Natur. Sogar im Internet: 'Web' ('Netz'), 'Stream' ('Strom/Fluss'), 'Bug' (Käfer'). Linguistisch und mental sind wir stark mit der Natur verwoben ...". Dies auch praktisch zu erfahren, ist natürlich noch einmal etwas anderes. "Kein Arzt hatte mir 'Natur' verschrieben oder mir angeraten, Zeit im Freien zu verbringen. Ich war mehr oder weniger darüber gestolpert. Doch ich stellte zusehends fest, dass ich die Natur brauchte und ähnlich von ihr Gebrauch machte wie vom Alkohol, der mich früher benebelt hatte. Grosses Plus: Von der Natur bekommt man keinen Kater."

Bereits in den 1760ern habe man geglaubt, dass die Erde sich positiv auf psychisch Kranke auswirken würde. Dass Erde in der Tat wohltuend ist, wissen auch Kinder. "Alle Babys, die man sich selbst überlässt, essen Erde", so Graham Rook, emeritierter Professor und medizinischer Molekularbiologe vom University College London. Auch Erwachsene schätzen den erdigen Geruch nach einem Regenschauer, wenn die Pflanzen bestimmte Öle in die Luft abgeben. Geosmin heisst die organische Verbindung, die für den metallischen Geruch der Erde verantwortlich ist.

Dass sich die Natur positiv auf unser Wohlbefinden auswirkt, lässt sich übrigens messen. Roger Ulrich, Architekturprofessor des schwedischen Center for Healthcare Architecture Research der Chalmers University of Technology, hat herausgefunden, dass bei Patienten, die nach der OP auf Bäume blicken konnten, kürzere Krankenhausaufenthalte, weniger negative Vermerke der Pfleger sowie geringere Schmerzmitteldosen die Folge waren.

Schon einmal von E.O. Wilson gehört? Mir war er bislang als Sozialbiologe bekannt, der sich vor allem mit Insekten befasst hat. Jetzt lerne ich (und das ist höchst spannend erzählt), dass er als junger Teenager ein Auge verlor, so dass ihm nur noch ein kurzsichtiges Auge blieb und er deswegen seine Vogel-, Frösche- und Bären-Beobachtungen aufgeben und sich Wesen zuwenden musste, die sich aus der Nähe betrachten liessen. Und so begann seine Erforschung der Ameisen, die ihn weltberühmt machen sollte.

In seinem 1984 erschienen "Biophilia" befasste er sich mit der Frage, ob die Menschheit mit der Ausbeutung der Natur ihre geistige Gesundheit verliert. "Wenn eine unserer Hauptaufgaben darin bestand, so Wilson, geeigneten Lebenstraum zu finden, ist es sehr wahrscheinlich, dass unsere Gehirne und Sinne dafür hilfreiche Charakteristika herausgebildet haben. Der moderne Mensch – Sie, ich, wir alle – kommt nicht auf die Erde, als stiege er aus einem Zug. Unser Fleisch und Blut und unsere DNA und Gedanken und Vorlieben werden von der Vergangenheit geprägt." Sich auf diese Einsicht wirklich einzulassen, bedeutet, das Leben zu verstehen: Unsere Existenz ist eingebettet in ein grösseres Ganzes.

Es gibt ja heute kaum mehr ein Phänomen, zu dem nicht geforscht wird. Lucy F. Jones erwähnt auch den Psychologen Dacher Keltner von der University of California in Berkeley, der die Emotion des Staunens untersucht hat. "Wenig überraschend stellte Keltner fest, dass Staunen zu gesteigertem Glücksempfinden führt und Stress reduziert." Staunen, es versteht sich, kann man über das, was man wahrnimmt bzw. wahrnehmen kann. Schwinden die Lebensräume, schwinden auch die Möglichkeiten des Staunens und der Welterfahrung. Staunen hat auch das Potential, unser Interesse von uns selbst weg, zu anderen hin zu führen. Und ist damit ein Gegenmittel gegen den grassierenden Narzissmus, der sich auch oft in Süchten entlädt, bei denen das Kreisen ums eigene Ego zentral ist.
 
Die Forschung zeige, so Lucy F. Jones, dass wir alle zum Erhalt unserer geistigen Gesundheit in irgendeiner Form auf die Natur angewiesen sind. "Ohne Zugang zu naturbelassenen Landschaften und der gesamten Bandbreite an Biodiversität, zu Blumen, Pflanzen, Tieren und Bäumen, können wir uns sehr viel weniger effektiv erholen, Ruhe und psychische Nahrung finden." Es gilt einzuhalten und dies zu bedenken. Jetzt, denn uns rennt die Zeit davon, wie Klimaforscher und Wissenschaftler uns schon lange predigen.

Die Wurzeln des Glücks ist eine faszinierende, informative und überaus anregende Lektüre.

Lucy F. Jones
Die Wurzeln des Glücks
Wie die Natur unsere Psyche schützt
Blessing, München 2021

Dienstag, 1. Juni 2021

Borderline und Narzissmus

Von den vielen Büchern über Borderline, die ich gelesen habe, ist dies erst das zweite, das im Titel Borderline und Narzissmus zusammenbringt, obwohl die Verbindung doch, jedenfalls in meiner Vorstellung, offensichtlicher kaum sein könnte: Eine von Impulsen dirigierte Gefühlsachterbahn, gekoppelt mit einer Unfähigkeit zur Empathie, dabei süchtig nach Bestätigung, das jedes Mass sprengt. Und nicht zu vergessen: Wut, Hass und ein Sich-An-Schuldzuweisungen-Klammern, das einem den Schnauf abdreht.

Borderliner suchen hauptsächlich Liebe, Narzissten Bewunderung und Schizoide Sicherheit, so die Gestalttherapeutin Elinor Greenberg. Dass sie diese drei Störungen zusammen nimmt, erachte ich als sehr sinnvoll, ist doch für alle drei die Abspaltung charakteristisch. Wie unterschiedlich sich diese manifestiert, erfährt man in diesem Buch. Und auch wie man darauf sinnvoll regiert. Das Buch richtet sich an Therapeuten und Therapeutinnen. Wie sich Persönlichkeitsstörungen ausserhalb des geschützten Therapie-Raums manifestiert, ist noch einmal eine andere Geschichte.

Doch was ist eigentlich eine Persönlichkeitsstörung? Elinor Greenberg zieht den Begriff "Persönlichkeitsanpassung" vor "um zu betonen, dass der Ursprung dieser Schwierigkeiten in kreativen Anpassungen an eine schwierige Kindheitssituation liegt." Charakteristisch für die Betroffenen ist, dass sie sich selbst und andere durch eine extrem polarisierte Brille sehen, also entweder als rundum gut oder rundum schlecht. Auch fehlt ihnen die Objektkonstanz. "Ohne die Fähigkeit, gilt buchstäblich das Prinzip 'Aus den Augen, aus dem Sinn'." Überdies projizieren sie von den Eltern nicht erfüllte Bedürfnisse auf ihr Gegenüber, reagieren wütend, wenn diese die ihnen zugedachte Rolle nicht spielen wollen, lassen jedoch nicht davon ab, diesen besonderen Menschen zu suchen, den sie in der Kindheit entbehren mussten.

Die Behandlungsvorschläge, die Elinor Greenberg macht, richten sich daran aus, dass der Therapeut dem Klienten zu lernen hilft, "Freude an sich selbst zu haben." Borderliner sind gefühlsmässig in der Kindheit steckengeblieben, da sie in der Regel emotional dafür belohnt wurden, sich nicht von ihren Eltern abzulösen. Oder sie wurden mit Liebesentzug und Beschimpfungen bestraft, wenn sie es trotzdem versuchten. Und was macht nun der Therapeut oder die Therapeutin? Sie ermuntert sie (unter anderem), sich dem Schmerz zustellen. Ein trockener Alkoholiker gab dazu einmal diesen Rat: "Ich lasse es wehtun. Und mit jedem Mal ist der Schmerz ein wenig schwächer."

Schaffen Sie ein sicheres, verlässliches Umfeld, Finden Sie einen angemessenen Umgang mit Wut, Übernehmen Sie bei Bedarf Hilfs-Ich-Funktionen, Fördern Sie die Ich-Entwicklung, Ermutigen Sie zu Ablösung und Individuation, Selbstwertgefühl aufbauen, Ändern Sie allzu strafende Über-ichs und negative Introjekte, Nutzen Sie eine angemessene Art der Konfrontation, Finden Sie Ihren Klienten oder Ihre Klientin liebenswert. So lauten die 10 Punkte, die bei der Behandlung von Borderline-Patienten zur Anwendung kommen sollten. Es handelt sich hier nicht um eine abschliessende Liste. "Es wäre unmöglich, alles aufzulisten, was ich tue, zumal meine besten Interventionen spontan sind." Was die aufgeführten Punkte klar machen, ist vor allem, dass Elinor Greenberg auch nur mit Wasser kocht. Wie so recht eigentlich alle, die Borderliner zu therapieren versuchen.

"All das verlangt Therapeuten eine Menge ab", hält sie fest. Das ist zweifellos richtig, zutreffender wäre allerdings zu sagen, dass Borderliner Therapeuten schlicht überfordern. Übrigens nicht nur Therapeuten, sondern auch Partner, Freunde und Familienangehörige, und zwar in weit höheren Masse, also fast rund um die Uhr und nicht nur ein-, zweimal die Woche für eine Stunde. Die Borderline-Anpassung nimmt übrigens den weitaus grössten Teil dieses Buches ein. 

Elinor Greenberg unterscheidet den gesunden Narzissmus vom defensiven oder pathologischen Narzissmus, bei dem "das Selbstwertgefühl der Person von der Meinung anderer abhängt." Die Gründe werden wie üblich in der Kindheit verortet. Das Bemühen des Therapeuten sollte sich auf eine realistische Selbsteinschätzung des Klienten zubewegen. Dies geschieht wesentlich dadurch, dass seine Stärken und Erfolge betont und seine negativen Selbsteinschätzungen in Frage gestellt werden.

Sehr schön beschreibt die Autorin wie wir alle in einem Kontakt-Rückzug-Zyklus gefangen sind, der so charakterisiert werden kann: Gewahrwerden – Verlangen – Handlung – Kontakt – Übersättigung – Rückzug. "Aber was geschieht, wenn wir Angst vor dem haben, wonach es uns am meisten verlangt?" Und vor allem: Was tun wir dann? Aktiv in die Therapie eingebunden zu werden, stösst mitunter auf Widerstand, was die Therapeutin Greenberg schon mal dazu bewegt, das Handtuch zu werfen. An diesem Punkt jedoch geschieht manchmal Faszinierendes ...

Elinor Greenberg
Borderline und Narzissmus
Wie Menschen nach Liebe und Bewunderung streben
Kösel Verlag, München 2021

Samstag, 15. Mai 2021

Unter freiem Himmel

"Eine Anleitung für ein Leben in der Natur", so der Untertitel dieses sehr schön gestalteten Buches von Markus Torgeby, mit mich sehr ansprechenden Fotografien von Frida Torgeby. Doch wieso interessiert mich so ein Werk, da es mich selber überhaupt nicht danach verlangt, in der Natur zu leben? Neugier auf des Autors Motivation und auch darauf, was ihn dieses Leben lehrt.  "So lasst uns also unser Leben begreifend verbringen", habe ich als Jugendlicher in Henry David Thoreaus "Walden" gelesen. Es gilt für mich nach wie vor.

Draussen scheint Markus Torgeby alles einfach. "Mich plagten keine Zweifel, ich fühlte mich nicht komisch. Wenn ich im Meer schwamm und im Wind segelte, wurde mir klar, dass es etwas gab, das ich nie kontrollieren konnte: Ich konnte mich nur unterordnen, Die Natur war eine Schule, die ich mochte, mit anderen Fächern als Schwedisch, Mathematik und Religion."

Es sind solche Sätze, die mich innehalten lassen. Der Zweck der Schule ist es, uns zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft werden zu lassen. Wir werden nicht gefragt, ob uns das passt oder entspricht oder ob wir uns wohlfühlen; von uns wird erwartet, dass wir uns ins System einfügen, dass wir gehorchen. 

Markus Torgeby liegt das nicht. Er verlässt die Insel, wo er aufgewachsen ist, geht weg von der Krankheit seiner Mutter, seinen spirituellen Zweifeln und dem ständigen Genörgel seiner Oma. Neunhundert Kilometer im Norden von Göteborg beginnt er eine Ausbildung zum Pfleger und entschliesst sich unter einem Baumwolltuch im Wald zu wohnen.

"Mir gefiel die Idee, vollständig auf mich allein gestellt zu sein, wenn viel auf dem Spiel stand und alles schief gehen konnte." Er lebt ohne Radio und Fernsehen, versucht, sich zuzulassen und merkt, dass es okay ist, wenn er nicht alles kontrollieren kann und dass es in seinem Kopf immer "einen Raum voller Angst, Furcht und Kleingeistigkeit" geben würde. "Das Nichtstun sorgte dafür, dass mein Kopf endlich auf meinem Körper landete."

Unter freiem Himmel ist ein Lehrstück in Sachen Akzeptanz. Seine Angst vor der Dunkelheit lässt sich nicht vertreiben, doch sich nicht gegen sie zu wehren, macht sie erträglich. Er lebt sehr körperlich: Läuft durch die Sümpfe, schwimmt, klettert auf Bäume; im Winter ist er auf breiten Tourenskiern unterwegs, spaltet Holz, holt Wasser. "Ich machte alles in gemächlichem Tempo, hatte viel Zeit zum Nachdenken." Ich fühlte mich an das buddhistische Slow down time erinnert. 

Wir streben nach Glück, anstatt nach Sinn und das sei das Problem, so Markus Torgeby. Doch was hindert  uns, dieses anzugehen? Und überhaupt: Was genau ist es? Für ihn sei es ein Zuviel von allem gewesen, schreibt er. Zu viel Unruhe, zu viele Eindrücke. "Die Lösung bestand darin, nahezu sämtliches Input aktiv zu beseitigen. Das war nicht einfach, und es hat einige Zeit gedauert, aber für manche Probleme gibt es einfach keine schnellen Lösungen."

Unter freiem Himmel ist auch praktische Anleitung und informiert über die richtige Fussbekleidung, Schlafsack, Messer, Wolle, Axt, essbare Pflanzen und anderes mehr. Markus und Frida Torgeby leben heute mit ihren drei Töchtern in zwei Welten, auf einer umgebauten Alm in Jämtland, wo sie Strom haben, aber mit Holz heizen, und einem kleinen Haus in Öckerö. "Das Leben ist keine gerade Autobahn, es ist ein Waldpfad mit Wurzeln und Steinen, bergauf, bergab, durch Sumpfgebiete und über Bäche."

Fazit: Berührend und inspirierend, mit höchst gelungenen Fotos.

Markus Torgeby
Unter freiem Himmel
Eine Anleitung für ein Leben in der Natur
Heyne Hardcore, München 2021

Samstag, 1. Mai 2021

Wir müssen alle sterben

Jasmin Schreiber, Jahrgang 1988, schreibt ein Buch "Über das Leben, das Sterben und den Tod – und was ein Hamster damit zu tun hat." Und in mir denkt es: Was will mir eine junge Frau darüber schon sagen, sie soll zuerst einmal leben, ein paar Erfahrungen machen und so weiter. Und dann steht im Klappentext noch "gefeierte Bestsellerautorin", was für mich gleichbedeutend ist mit Mainstream (und wer will da schon dazugehören?). Gleichzeitig denkt es aber auch dies in mir: Bin neugierig, wie sie das sieht, bestimmt anders als ich. Und dann beginne ich zu lesen und bin sofort ganz begeistert. Wegen der Sprache, dem Stil und dem Rhythmus. Und weil ich einiges lerne.

Die Autorin ist studierte Biologin und ihre Betrachtungsweise eine biologische. "In diesem Buch möchte ich zeigen, wieso der Tod unschön ist, wir ihn aber trotz allem brauchen." So habe ich es noch nie gesehen, was womöglich auch daran liegt, dass ich mich bislang nicht mit Biologie auseinandergesetzt habe. Übrigens: Hermine ist ein Zwerghamster, lebte 2,5 Jahre, musste dann wegen schwerer Krankheit eingeschläfert werden – sehr berührend, wie das geschildert wird – und eignet sich, so die Autorin, "hervorragend dazu, Leben und Tod zu erklären."

 Dass wir aus Zellen bestehen, wusste ich, dass diese sich teilen, ebenfalls, doch Zelldifferenzierung? Zellen unterscheiden sich, eine Nierenzelle hat eine andere Aufgabe als eine Blutzelle. Dass Zellen absterben, war mir auch bekannt, doch falsch sei, so erfahre ich, "dass sich der menschliche Körper alle sieben Jahre komplett erneuere." Wobei: Es ist so ähnlich. Wie genau, darüber gibt dieses Buch Auskunft.

Wir Menschen sind zwar Teil der Natur, doch erleben wir uns getrennt von ihr. Das liegt an unserem Denken, das in Kategorien von gut und böse, traurig und grausam operiert. Solche Zuordnungen kennt die Natur nicht. "Alles ist darauf ausgerichtet, ohne moralische Wertung und möglichst effizient, die jeweilige Aufgabe zu erfüllen, sodass ein gut funktionierendes ökologisches Gleichgewicht herrscht."

Doch obwohl der Tod eine biologische Notwendigkeit ist ("Gäbe es den Tod nicht, würden wir uns entweder mit uralten und kaum funktionierenden Zellen eher schlecht als recht herumschleppen, oder wir wären durch die Gegend suppende Zellhaufen, die immer grösser werden würden."), tun wir uns gleichwohl schwer, ihn zu akzeptieren. Jasmin Schreiber bringt das Dilemma auf den Punkt: "... habe ich keine Lust zu sterben. Und dennoch ist mir klar, dass ich in keiner Welt leben wollte, in der es keinen Tod gäbe." 

Jasmin Schreiber schreibt anschaulich und witzig: Und sie kennt ihre Grenzen, weiss, dass man nicht sagen kann, wie man stirbt, trotz aller Erkenntnisse. Doch sie denkt auch über den Tellerrand hinaus und weist etwa darauf hin, dass man früher Friedhöfe oft auf Anhöhen anlegte, weil man der Meinung war, Leichen würden giftige Ausdünstungen absondern. "Man glaubte, dass diese Leichengase Krankheiten übertragen könnten, von Bakterien, Viren oder Pilzsporen, hatte man damals noch nicht einmal eine unscharfe Ahnung." Händewaschen und Desinfektion hielt man  übrigens bis weit ins 19. Jahrhundert für "unseriösen Humbug."

Sich mit biologischen Prozessen vertraut zu machen – und darum geht es hauptsächlich in diesem Buch – , trägt dazu bei, Leben und Tod als das zu begreifen, was sie so recht eigentlich sind  natürliche Vorgänge. Sich dagegen zu wehren, ist nicht nur aussichtslos, sondern auch ziemlich blöd. Doch auch Blödheit gehört zum Menschen. Dies zu akzeptieren, hat durchaus das Potential, uns mit der eigenen Sterblichkeit zu versöhnen. Gelegentlich.

Jasmin Schreiber
Abschied von Hermine
Über das Leben, das Sterben und den Tod
 – und was ein Hamster damit zu tun hat
Goldmann, München 2021