"Ein Roman-Debüt, in dem tiefer Ernst und überbordernder Witz auf grossartige Weise zusammenkommen", lese ich auf dem Buchumschlag. Da habe ich offenbar ein ganz anderes Buch gelesen. Auf mich wirkte die Lektüre extrem detailreich (jeder Gedanke, welcher der Protagonistin durch den Kopf geht, scheint ihr wert, aufgezeichnet zu werden – sogar was es in der Klinik zum Mittagessen gibt und dass man dabei Schlange stehen muss, erfährt man); ihre Rückblenden auf die Probleme mit Mann und Sohn waren mir schlicht zu viel. Doch dieses wortreiche Abschweifen von dem, worum es eigentlich gehen sollte – sich der Sucht zu stellen – ist natürlich typisch für Alkoholiker und insofern eben auch ausgesprochen realitätsnah.
Lucy, 35, fährt angetrunken in eine Leitplanke. Der zweijährige Sohn auf dem Rücksitz bleibt zwar unverletzt, doch sie selber kriegt einen gehörigen Schreck (Schuldgefühle inklusive). Auf Betreiben ihrer Freundin Marie geht sie in eine Entwöhnungsklinik. "Sie sind nicht sehr freundlich gewesen zu ihrem Körper", fasst die einweisende Ärztin den Alkoholismus schön zusammen.
Ein Klinikeintritt bedeutet nicht, dass man bereit ist, sich der Sucht zu stellen und das Nötige zu tun, um davon loszukommen bzw. sie zum Stillstand zu bringen. Lucys Widerstände sind mannigfaltig, ihr differenziertes. kritisches Denken, das sie vornehmlich zum Rationalisieren ihrer Skepsis einsetzt, stehen einer Genesung im Weg. Sie hat einen Rückfall, wird jedoch nicht rausgeschmissen.
Sie nimmt an Treffen der Anonymen Alkoholiker teil, hört Hilfreiches von der Therapeutin, die ihr rät, in den Körper, ins Hier und Jetzt zu kommen. "Der Körper kennt keine Vergangenheit. Und keine Zukunft. Er ist immer gegenwärtig. In jeder Sekunde sterben Zellen und es bilden sich neue. Je besser Sie lernen, sich in Ihrem Körper zu verankern, umso weniger kann die Angst Sie überfluten. Ihr Körper holt Sie zurück auf den Boden. Üben Sie, ihn zu spüren. einfach irgendwo anfangen. Bei den Händen zum Beispiel." Es sind vor allem solche Stellen, welche die Lektüre für mich lohnen.
Bewölkt aber trocken überzeugt vor allem als Dokument des Sich-Nicht-Ändern-Wollens. Nichts, das die Protagonistin nicht kritisiert. "Alles, was in der Gruppe passiert, bleibt hier im Raum", sagt die Therapeutin nach einem Gruppentreffen. Ein Standardsatz, der bei den Meetings der Anonymen Alkoholiker regelmässig zu hören ist. Es ist eine Aufforderung an alle Teilnehmenden, doch Lucy, weit weg von jeder Eigenverantwortung, fragt sich, wie die Therapeutin das bloss garantieren will.
Therapeuten haben den Vorteil der Distanz und können so Muster erkennen, die denen, die zu nahe dran sind, meist entgehen. Lucy wollte nie so sein, wie ihre trinkende Mutter. "Kinder sind wie Spiegel", sagt die Therapeutin einmal. Möglicherweise habe ihre Mutter sich selbst gesehen.
Wie alle Alkoholiker ist Lucy feige, weicht aus, konfrontiert sich nicht mit der Lebenswirklichkeit. Bevor sie eine Entscheidung treffe, so die Therapeutin, müsse sie auch die Konsequenzen kennen. Ein Leben ohne Alkohol bedeute: "Kein Sicherheitsnetz mehr. Sie werden Angst haben. Sich einsam fühlen. Wütend sein. Alles, was zum Leben gehört." Kein Wunder, gelingt den wenigsten, der Sucht Paroli zu bieten.
Schlussendlich traut sich Lucy, zu fühlen, was sie fühlt und zu sagen, was sie denkt. Sie hat den Mut zur Eigenverantwortung. Und macht die Erfahrung, dass wenn sie sich ändert, auch die Menschen um sie herum sich ändern.
PS: Der Kondukteur im Zug wirft einen Blick auf den Buchumschlag und so frage ich ihn, was er glaube, wovon das Buch wohl handle. Offenbar vom Wetter, meint er. Ich nicke nur und denke so für mich: Jeder Kontext ist wieder anders, die Vorstellungen, die wir der Welt überstülpen, höchst individuell.
Marion Zechner
Bewölkt aber trocken
Leykam Verlag, Wien 2021
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