Mittwoch, 21. Juli 2021

Körperzeiten

Werner Bartens, geboren 1966, hat Medizin, Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. In seinem neuesten Buch Körperzeiten verspricht der Untertitel Wie wir im richtigen Moment das Richtige tun und besser lernen, lieben und leben eine Verbesserung der Lebensqualität. Sein Ansatz dabei: Entscheidend ist nicht so sehr, wie wir die Dinge tun, sondern wann.

Diese Herangehensweise setzt natürlich voraus, dass es die Zeit auch wirklich gibt. Die nordamerikanischen Indianer (jedenfalls die in Süd Dakota) bezweifeln das; ich selber scheine eine immerwährende Gegenwart zu erleben. Auf der praktischen Alltagsebene scheint es sich jedoch mit der Zeit so zu verhalten, wie Einstein einmal unser Verhältnis zur Realität definiert hat: Sie mag eine Illusion sein, doch eine erstaunlich beständige.

Die Zeit ist ein Terrorist, pflegte mein ehemaliger Zahnarzt (damals bereits über neunzig) zu sagen. Daran musste ich denken als ich bei Werner Bartens las, wie vielfältig sie uns unter Druck setzt und unser Leben bestimmt. Sofern wir uns das gefallen lassen, will ich sofort hinzufügen. Es geht also darum, "sich nicht als wehrloses Opfer der Umstände zu sehen, sondern den Handlungsrahmen auszuschöpfen, den man hat. Und der ist häufig erstaunlich weit gefasst, in freien, demokratischen Gesellschaften sowieso", behauptet der Autor. Arbeitgeber sehen das auch so, Arbeitnehmer eher weniger.

Vielfältig angespannt geht der moderne Mensch durchs Leben. Die Zeit, um auf sich selbst zu hören, fehlt den meisten. Dass das nicht gesund ist, geschweige denn gut tut, ist allgemein bekannt, weshalb man denn in Seminaren und Workshops lernt, dass es nicht nur gut ist, ab und zu eine Pause einzulegen, sondern dass sich das auch auszahlt. Mit ein wenig Selber-Denken, könnte man sich die Kurskosten sparen.

Die Magie des Augenblicks ereignet sich so recht eigentlich immer ungeplant und meist unverhofft. Dass es trotzdem empfehlenswert ist, seine Aufmerksamkeit zu steuern, macht Werner Bartens an ganz vielen Beispielen deutlich. Dabei erfahre ich auch, dass die Diagnose ADHS (von der ich eh noch nie viel gehalten habe) von einem erfahrenen Therapeuten so kommentiert wird: "Die meisten Kinder mit dieser Diagnose haben gar kein Aufmerksamkeitsdefizit. Die Aufmerksamkeit der Kinder ist nur nicht dort, wo sie Eltern und Kinder gerne hätten."

Körperzeiten ist ein vielfältig anregendes Buch, doch wer sich davon versprochen hat, was der Untertitel verspricht, nämlich Wie wir im richtigen Moment das Richtige tun und besser lernen, lieben und leben, der wird vermutlich enttäuscht sein. Wer hingegen gerne einem talentierten Geschichten-Erzähler zuhört, der viel Lehrreiches zu berichten weiss, trifft auf eine hilfreiche und oft amüsante Fundgrube. So berichtet der Autor etwa von Sascha Lobo, der die Erfahrung machte, dass die Zeit  einiges von selbst erledigt. "Lobo hatte sich irgendwann dazu entschlossen, Behördenbriefe nicht mehr zu öffnen. Als er nach einem Jahr nachschaute, was drinstand, war das Verfahren gegen ihn wegen Geringfügigkeit eingestellt worden."

Zugegeben, meine Erwartungen wurden bei weitem nicht erfüllt. Anstatt mir zu sagen, wann genau ich was tun soll, um fortan ausgeglichen und glücklich meine Tage zu verbringen, werde ich mit einem Sammelsurium von schlauen Anregungen und vielerlei Wissenswertem abgespeist. Darunter finden sich übrigens auch ausgesprochen nützliche Hinweise. So weist der Autor unter anderem diejenigen, die glauben, was nicht verboten sei, sei ganz bestimmt unbedenklich, wie folgt zurecht: "Sicher, so wie es bis heute nicht verboten ist, mit Föhn in die Badewanne zu steigen, mit Drähten in Steckdosen herumzubohren oder sich ausschliesslich von Marzipanschweinen zu ernähren."

Körperzeiten ist unterhaltsam und erhellend, auch wenn sich darin für meinen Geschmack arg viele "es kommt drauf an"-Aussagen finden. Andererseits: So ist die Welt nun mal. Und eben auch die Wissenschaft. Gewissheiten gibt es nur auf Zeit. Das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach. Zu meinem Lieblingsratschlägen in diesem Werk gehört: "Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen." (Georg Christoph Lichtenberg).

PS: Sehr gelacht habe ich, als ich die Danksagung las, denn diese führt (auf zwei Seiten!) neben zwei Doktoren ausschliesslich Professoren auf. Es ist nicht anzunehmen, dass sie zu ihren Titeln und Funktionen gekommen sind, weil sie sich den Erfordernissen unserer überaus hektischen Zeit, und insbesondere dem Zeitdruck, entzogen haben.

Werner Bartens
Körperzeiten
Wie wir im richtigen Moment das Richtige
tun und besser lernen, lieben und leben
Droemer, München 2021

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