Dass es mich gibt ist einem Zufall zu verdanken. Hätten sich nämlich Ei- und Samenzellen meiner Eltern nicht genau zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt getroffen und vereinigt, gäbe es mich nicht. Für diejenigen, die hinter Allem und Jedem einen geheimen Plan vermuten oder sich Bedeutsames erhoffen, ist das eine ziemlich ernüchternde Erkenntnis, auf mich selber wirkt sie jedoch vor allem (nein, nicht nur) befreiend. Auch natürlich weil sie nicht nur mich, sondern so recht eigentlich alle Lebewesen betrifft und so meine Ego-Fixiertheit relativiert.
Noch Einiges mehr ist dem Zufall zu verdanken, wie Martin Brüne, Jahrgang 1962, Professor für Psychiatrie, in Der unangepasste Mensch. Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution ausführt, auch wenn es dem Menschen eignet, die Dinge entschieden anders zu sehen und die Tatsache, dass er überlebt, mehr seinem Geschick als der Natur zurechnet. Was das typisch Menschliche ausmacht, was uns von unseren nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet und was uns verbindet, darum geht es in diesem Buch, das überdies davon handelt, „welche psychischen und körperlichen Probleme uns begegnen, wenn wir versuchen, den Spagat zwischen Steinzeit und Moderne zu meistern“ und auch davon, „was uns unsere evolutionäre Vergangenheit lehren kann, Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln.“
So nachvollziehbar ein anthropozentrisches Weltbild auch ist (wie wir die Welt wahrnehmen, liegt schliesslich in uns begründet), es ist nachweislich falsch und führt letztlich zu einem nicht mehr rückgängig zu machenden Desaster. Auch die Aufforderung „Macht Euch die Erde untertan“ hat zu Corona und zur Klimakatastrophe geführt. Nichtsdestotrotz: wir haben uns als unglaublich erfolgreich erwiesen, sind aber nach wie vor extrem vulnerabel (und können daran wenig bis gar nichts ändern, meint Professor Brüne).
Es ist hilfreich, den Menschen in grösseren Zusammenhängen zu betrachten. „Wenn sich Umwelten so rasch ändern, dass Tier- und Pflanzenarten nicht die Flexibilität haben, sich daran anzupassen, sterben sie aus. Dies ist es, was wir heute geradezu in Echtzeit beobachten können. Jedes Jahr verschwinden geschätzte 20 000 Tier und Pflanzenarten unwiederbringlich von unserem Planeten.“ Bedauerlicherweise scheint es uns nicht gegeben, vorausschauend zu empfinden (vorausschauend zu denken geht schon, aber was nützt schon denken?), doch uns darum zu bemühen, unseren Erkenntnissen auch Taten folgen zu lassen, wäre überaus nützlich.
Es wäre nicht nur wünschenswert, sondern ist geradezu überlebenswichtig, dass wir lernen, „der Natur nicht zu sehr ins Handwerk zu pfuschen“. Dabei hilft es auch, sich zu vergegenwärtigen, dass unser Organismus ein eigentliches Ökosystem bildet, bestehend aus etwa 30 Billionen eigener Zellen „und mindestens noch einmal so viele Zellen in uns und auf uns, die nicht unser Erbgut tragen, sondern das von Bakterien, Pilzen und Viren – zusammengenommen ‚Mikrobiota‘ genannt.“ Es gibt Schätzungen, die von einem Verhältnis von 10 zu 1 ausgehen. Das Verhältnis von unseren etwa 25 000 Genen zu den etwa acht Millionen Gene des Mikrobioms ist noch drastischer. „Die nüchterne Bilanz ist daher, dass das meiste in und auf unserem Körper nicht uns gehört, sondern artfremd ist.“ Das wirklich zu verstehen, kann ehrfürchtig machen.
Martin Brüne widmet sich ganz unterschiedlichen Themen, von der Evolution zur Genetik, dem Darm zur Borderline-Störung, der Schizophrenie zum Mitgefühl mit Gefühl. Immer wieder stosse ich auf Sätze, die mich innehalten und sie bedenken lassen. Etwa dass Tiere, entgegen uns Menschen, einen Grossteil ihres Lebens tatsächlichen Gefahren ausgesetzt sind. „Anders als sie können nur wir Menschen uns bedroht fühlen, ohne dass dafür ein faktischer Grund dafür vorliegt.“ Daraus schliesse ich unter anderem: Eine gute Therapie (von griechisch ‚therapeia‘ für ‚Dienst, Pflege, Heilung’“) sollte sich an Fakten (und weniger an Interpretationen) orientieren.
Zu einer guten Behandlung gehörte früher auch immer die Einbettung der Massnahme in ritualisierte Abläufe. Davon gibt es in der modernen Medizin leider immer weniger, weil Rituale Zeit kosten.“ Und Krankenhäuser immer häufiger zu kranken Häusern werden, was damit zu tun hat, dass unsere Zeit sich der Profit-Maximierung verschrieben hat, der auch (verblendeter geht es kaum) das Gesundheitswesen unterworfen wird.
Fast schon seherisch (kurz vor der Drucklegung erschien Covid-19 auf der Bildfläche) weist Martin Brüne darauf hin, dass möglicherweise „irgendein fieser ‚Superbug‘ auftaucht, der die Welt in Atem hält. Mit dem Klimawandel ziehen nämlich, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, Tiere bei uns ein, die höchst unwillkommen sind.“
Fazit: Grundsätzlich, lehrreich und nützlich.
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