Man merkt es bereits auf den ersten Seiten, dass dies ein wirklich tolles Buch ist: Es ist der frische Ton, das eigenständige Denken, der Witz, die dazu beitragen, dass die Lektüre eine wahre Freude ist. Die Autorin Titiou Lecoq, geboren 1980, referiert nicht einfach, was sogenannte Grössen über Balzac geäussert haben, sie setzt sich damit auseinander. Auch ist Balzac selber für sie nicht die letzte Autorität in eigener Sache. So zeigt sie etwa, dass seine Schilderung seiner eigenen Mutter kaum ein realistisches Porträt gewesen sein kann
Realistisch ist hingegen (jedenfalls für meine Vorstellungswelt) wie Titiou Lecoq Balzac charakterisiert: "Er wollte bekannt, geliebt und reich werden." Und: "Balzac war ein Genie und ein sympathischer Loser, von dem wir lernen können, unser Leben selbstbestimmt zu führen. Und für eine erfolgsverliebte Gesellschaft wie die unsere ist er ein strahlendes Gegenbeispiel."
Gestaunt habe ich, dass Balzac, dessen Eltern ihn als künftigen Notar sahen, ihn bereitwillig unterstützen, als er beschloss, Schriftsteller zu werden. Und noch mehr gestaunt habe ich, dass er mit Anfang zwanzig eine Tragödie über Cromwell verfasste. Woher sein einschlägiges Wissen stammte, erfährt man leider nicht.
Dafür erfährt man einiges über das damalige Paris, wo Sein und Schrein identisch waren (und immer noch sind), was dem wenig attraktiven Balzac gar nicht entsprach. "Den Kriterien seiner Zeitgenossen zufolge glich Honoré eher einem Wurstverkäufer auf einem Markt in Tarn als jemandem, der den existenziellen Schmerz einer Epoche verkörpern musste." Zudem war er ruhmsüchtig, wollte zu den Adeligen gehören, doch die sogenannt besseren Kreise betrachteten ihn keineswegs als einen der ihren.
Balzac und Ich bietet überzeugende und überaus hilfreiche Aufklärung. So thematisierte Balzac die Wichtigkeit des Geldes, was revolutionär war, dominierte doch die Auffassung (die sich bis heute in weiten Kreisen gehalten hat), die schöngeistige Literatur solle nicht mit Profanem verunreinigt werden. Die Ironie dabei: Er selber konnte mit Geld überhaupt nicht umgehen. Er gab Geld aus, das er hatte, und auch Geld, das er nicht hatte. Die Schulden türmten sich, Mässigung kannte er nicht.
Wie jedes biografische Werk, so vermittelt auch Balzac und Ich viel Aufschlussreiches über die damalige Zeit, in der es üblich war, dass vermögende Eltern ihre Kinder in die Obhut einer Amme gaben. Und man lernt: Für den Code Civil, der 1804 erlassen wurde, war es das Eigentum, das die Familie begründete. "Es regelte daher die finanziellen Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern."
Ausgiebig widmet sich Titiou Lecoq der Situation der Frau, die damals weitestgehend ohne Rechte war. "Balzac beschrieb die Frauen so, wie sie sind, und nicht so, wie sie sein sollten, er stellte sie in den Vordergrund seiner Handlungen und schilderte sogar ihre Verschiedenheit. Ein unerträgliches Verbrechen für viele Kritiker seiner Zeit."
Balzac und Ich gehört zu den Büchern, die mich oft lachen machten. Weniger über Balzac, dessen Naturell mir ein Rätsel ist (so handelte er etwa komplizierte Verträge aus, an die er sich jedoch nicht gebunden fühlte), als über den Scharfsinn von Titiou Lecoq, die weit mehr als eine Biografie geschrieben hat, nämlich eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen. Zu diesen gehört auch, wie es bloss möglich ist, dass die Mehrheit sich ausbeuten lässt. Und: "Wie können wir im Einklang mit unseren Werten leben, wenn die Gesellschaft sie nicht teilt?"
Man mag es als Tragik begreifen, dass Balzac just in dem Moment starb, als er das Glück, nach dem er sich sehnte, zu fassen bekam. Man kann es aber auch ganz anders sehen: Er starb, als er zu kämpfen aufhörte. Welche Version man bevorzugt, ist eine Frage des eigenen Naturells.
Er habe zwar etliche Schwächen gehabt, sei aber im Grunde ein feiner Kerl gewesen, so Titiou Lecoq, die höchst wohlwollend mit Balzac umgeht, der ein Leben lang von Obsessionen getrieben war, die er nicht einmal ansatzweise konfrontiert, jedoch wortreich rationalisiert hat. So entstand grosse Literatur, die auch heute noch aktuell ist, wie Titiou Lecoq sehr schön am Beispiel Emmanuel Macrons darlegt.
Titiou Lecoq
Balzac und Ich
Wie man sein Leben meistert, indem man grandios scheitert.
Friedenauer Presse, Berlin 2025
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