Mittwoch, 29. Januar 2025

Herzschlag

Heiner Wilmer, geboren 1961, promovierter Theologe, seit 2018 Bischof von Hildesheim, hatte vorgehabt, acht Tage bei den Trappisten in Orval, im südlichen Belgien, zu verbringen, doch Corona kam dazwischen und verhinderte das. Und so hat er bei sich zuhause einen kleinen Raum eingerichtet, für eine innere Einkehr. Er möchte sich mit dem Tagebuch von Etty Hillesum beschäftigen. "Möchte lesen, wie du in dich 'hineinhorchst', und dabei auch in mich selbst 'hineinhorchen'."

Etty Hillesum wird m Alter von 29 Jahren in Auschwitz ermordet. Ihr Tagebuch gilt als spiritueller Klassiker. In Herzschlag tritt Heiner Wilmer in einen fiktiven Dialog mit Etty. Dabei erzählt er auch ihr Leben, voller Sympathie und Zuneigung; er ist weder Problematisierer noch Erklärer, er beschäftigt sich mit spirituellen Fragen und versteht sich als Lernender.

Heiner Hilmers Auseinandersetzung mit Etty ist in erster Linie eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Treffend sagt der Talmud: Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind. Doch Herzschlag ist keine Nabelschau, sondern wesentlich eine Frage bzw. ganz viele Fragen, die sich mit dem beschäftigen, was Etty Hillesum so alles umgetrieben hat. Und auch Heiner Wilmer umtreiben. Der Hass etwa, zu dessen Destruktivität er sich differenziert auslässt. "Die Überwindung von Hass ist eine Frage der Seelenhygiene."

Ettys Therapeut und Liebhaber, 35 Jahre älter als sie (er ist 54, sie 27), ist Jungianer. "Was hat dich so lange an Jung fasziniert? War es, dass Jung in den dunklen Momenten des Lebens nicht nur eine Kraft sieht, die uns eventuell zerstört, sondern auch einen Keim für Transformation und Wachstum? War es, dass Jung uns dazu anhält, unsere inneren Konflikte zu erkennen und zu integrieren, dass wir unseren eigenen Schatten, die dunkle Seite unserer Psyche, erkennen und annehmen müssen und nur so das Potential finden, um zu reifen und uns zu erneuern, auch angesichts von Krankheiten und grossem Leid?"

Disziplin und Ordnung sind Etty wichtig. "Solange deine innere Disziplin nicht in Ordnung ist, brauchst du die äussere Disziplin, schreibst du. Wenn du morgens eine Stunde länger schläfst, bedeutet es für dich nicht, ausgeschlafen zu sein, sondern mit dem Leben nicht zurechtzukommen und zu versagen. Auch das sagst du." Auch Heiner Wilmer sind Riten, Rituale und Rhythmen wichtig, die er am ehesten beim Rückzug in eine Abtei findet.

"Das Lesen in deinem Tagebuch wirft mich auf mich zurück." Als er davon spricht, was ihm alles Angst macht, berührt das ungemein. Das wirkt auf mich wie eine Beichte, und eine solche befreit bekanntlich. Die Lebensfreude, die er bei Etty wahrnimmt, entdeckt er auch bei sich. Immer wieder greift sie zu Rilke, der beiden Zugang zum Grossen und Schönen eröffnet.

Herzschlag ist ein Buch voller vielfältiger Lebensauseinandersetzungen. Die Würde, die sich Etty nicht nehmen lässt. Dostojewski macht sie vertraut mit dem Unaussprechlichen, dem, was unser Verstand nicht zu erfassen vermag. Das Bedürfnis zu schreiben, das Heiner Wilmer versteht als das Bemühen, alles zu behalten, "wie in einem grossen Speicher", um den späteren Generationen erzählen zu können, wie alles einst gewesen ist.

Wie gross und schön das Leben doch ist, schreibt Etty immer wieder. "Kann es sein, dass das, was in dir das Allertiefste ist, das du der Einfachheit halber als Gott bezeichnest, dass dieser Gott Schönheit pur ist, Herrlichkeit?" Heiner Wilmer stellt sich vor, dass das Schöne das Potential hat, uns zu verwandeln. "Kann es sein, dass Dostojewski recht hat, wenn er in seinem Roman 'Die Brüder Karamasow' sagt, dass am Ende die Schönheit die Welt retten wird?"

Heiner Wilmer
Herzschlag
Etty Hillesum – Eine Begegnung
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2024

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