Vor dem Supermarkt, in dem ich in Santa Cruz do Sul meine Einkäufe mache, befindet sich ein Blumenbeet, bei dem ich stehengeblieben bin, um Fotos zu machen, als mir ein Mann, der vor seiner offenen Autotür steht, auf English zuruft; Wir kennen uns doch! Es wird sich wohl um einen ehemaligen Schüler handeln, denkt es so in mir. Und so war es denn auch. Da ich ihn selber nicht erkannt hätte (er ist jetzt 42, verheiratet, vier Kinder), bin ich einigermassen verblüfft, dass er mich erkannt hat. Offensichtlich habe ich mich in den letzten 18 Jahren äusserlich nicht entscheidend verändert.
Doch eine Veränderung hat stattgefunden, innerlich, und zwar eine massive. Jedenfalls kommt es mir so vor. Fast alles, woran ich einst geglaubt habe, hat sich in Luft aufgelöst. So war ich in jüngeren Jahren Rockmusikern und Schriftstellern zugetan (damals war mir überhaupt nicht klar, dass sie alle Beifallssüchtige waren), heute finde ich viele von ihnen eitle Langweiler und Besserwisser, die ein Bild von sich selber haben, das nur Menschen eignet, die von Selbsttäuschung keine Ahnung haben.
Zugegeben, Musik von damals (und einiges von heute) finde ich immer noch toll. Das gilt auch für Bücher. Nur weiss ich heute mit Bestimmtheit, dass ich weder Musiker noch Autoren kennenlernen möchte, schliesslich habe ich keine Lust, mir ihre Werke vergällen zu lassen.
Und dann die Politik. Am Deutlichsten zeigt sich in Amerika, dass wir von Leuten regiert werden, die nicht alle Tassen im Schrank haben. Doch so recht eigentlich ist das überall auf der Welt so (und war wohl schon immer so), doch noch nie war es so offensichtlich. Jedenfalls für mich. Ignoranz, Chaos, Spektakel, Selbstinszenierungen. Der Mensch ein zivilisiertes Wesen? Die Mehrheit der Wähler jedenfalls nicht ...
"Wie können wir im Einklang mit unseren Werten leben, wenn die Gesellschaft sie nicht teilt"?, fragt Titiou Lecoq in Balzac und Ich. Indem man sich dieser Gesellschaft verweigert und seinen eigenen Weg geht. Diejenigen, die das tun, kommen in den Medien (und damit im öffentlichen Bewusstsein) nicht vor.
Sinn sei keine Lebensweisheit oder Glücksformel, lese ich in Ich möchte lieber nichts von John von Düffel, sondern eine Richtung. Der Schauspieler Bill Murray meinte in einem Interview (ich zitiere aus dem Gedächtnis), er würde gerne öfter auch geistig da sein, wo er bereits physisch sei. Dies ist die Richtung, die mir vorschwebt. Sie lässt sich üben.
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