Mittwoch, 30. Dezember 2015

Fortune & Misfortune

This is a great book! Chiefly for two reasons: 1) It makes me ponder things I've never really thought about and it does so in a way that I find intriguing  it felt as if I was watching the author think. 2) Armando Benitez is an original thinker – and most authors are not.

"Psychologists and other busybodies continually tell us that we can change ourselves. But how often can they provide us with examples to show that the accepted methods of accomplishing this are the right way? Not very often." One of the reasons that we are not very eager to correct our defects is that they make us what we are. And, to correct them would make us "an entirely different person. And most humans have no desire to become another person."

Superstitions shouldn't be relinquished, argues Armando Benitez, for there is "a rational and logical reason for them." They also might serve a useful purpose.

 Fortune & Misfortune deals primarily with how to improve our luck. "The way to change our luck for the better is by tackling the chore through small increments, which each little victory over our destiny strengthening us for the next assault ...". This is also useful advice for people who suffer from addictions. 

Armando Benitez addresses questions that most of us do not even recognise as questions. Take for instance the argument "that our chances of being struck by a lightning bolt (about 600,000-to-one) are better than our chances of winning the lottery." Such thinking assumes that the chances are the same for everyone. But they are not for "we can increase our chances of being struck by lightning. We can go out on a lake or river in a small open boat during a thunder storm; we can take shelter under a lone tree in an open meadow; we can hold up a long metal object  fishing pole, golf club, driller's loading pole, surveyor's aluminium stadia rod    during lightning and thunder activity."

Fortune & Misfortune is not only cleverly argued but also a fun read. Just have a look at these titles: Escaping poverty by eating rich foods; Is Daydreaming a Dangerous Enterprise? 

Armando Benitez has inhabited many diverse realities – "I have been broke and without a job more times than I care to remember" – and has gone through a variety of changes which he attributes "to the application of the metaphysical truths I have discovered". Quite some of these he shares in this book. 

Fortune and Misfortune is a fascinating journey into the realms of the arcane that results, among quite some other things, in making the case for the rational basis of superstition.

Armando Benitez
The Roots and Origins of
Fortune & Misfortune
The Logic behind Superstition
Alondra Press, Houston 2015

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Abhängig bleibe ich

Heute weiß ich, dass ich ein Suchtmensch bin. Ich muss bei allem aufpassen: Wie lange ich vor dem Laptop sitze, wie viel Kaffee ich trinke oder sonst was. Meine Kifferfreunde von damals leben alle noch. Von denen, die weiter gegangen sind, kann ich das nicht behaupten (...) Abhängig bleibe ich. Würde ich wieder etwas konsumieren, wäre ich sehr schnell wieder drin. Das Suchtgedächtnis wäre umgehend wieder eingeschaltet. Deshalb hilft bei mir nur völlige Abstinenz. Wenn ich beschäftigt bin, dann geht das auch.

Für mehr, siehe hier

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Vergiss nicht, dass du im Grunde keine Ahnung hast ...

Vergiss nicht, dass du im Grunde keine Ahnung hast, was Esme in ihrem Leben widerfahren ist und welche Erfahrungen sie geprägt haben. Das weiss man immer nur über sich selbst, und die meisten Menschen wissen nicht mal das, denn der Zustand verändert sich ständig und hält kaum lange genug an, um ihn zu analysieren.

Robert Wilson: Ihr findet mich nie

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Legalisiert und reguliert den Drogenmarkt!

Johann Hari, geboren 1979, ist ein britischer Journalist und lebt in London. 2011, nach einer privaten und beruflichen Krise (er hatte unter anderem Interviews manipuliert, war in Ungnade gefallen), begab er sich auf eine drei Jahre dauernde Reise um die Welt, um die Ausmasse und Langzeitfolgen des Krieges gegen Drogen zu ergründen.

Kann man dem Buch eines Journalisten, der beim Lügen und Bescheissen erwischt worden ist, trauen? Möglicherweise mehr als all denen, die auch gelegentlich lügen und bescheissen, doch nie dabei erwischt worden sind, denn dieser Journalist will seinen guten Ruf zurück.

So macht er etwa transparent, wie er zu seinen Informationen gekommen ist. Das ist rar im Journalismus. Und höchst begrüssenswert. Doch auch der aufrichtigste Journalismus ist nicht vor Irrtümern gefeit. Davon, dass in den 80er und 90er Jahren die Drogensüchtigen der Umgebung wie Vieh in einem abgesperrten Teil des Zürcher Bahnhofs zusammengetrieben worden sind, habe ich jedenfalls bisher noch nie gehört.

Vor hundert Jahren konnte man überall auf der Welt problemlos Drogen kaufen. Viele Hustensäfte in den USA enthielten Opiate, Coca-Cola wurde aus derselben Pflanze wie Schnupfkokain hergestellt und in Grossbritannien boten Warenhäuser für die Damen der feinen Gesellschaft Heroindöschen an.

Wie viele Menschen Alkohol trinken, ohne Alkoholiker zu werden, gab es auch viele, die zu mit Opiaten versetzten Hustensäften griffen, um ihre Nerven zu beruhigen, ohne dass sie süchtig wurden.

Im Jahre 1914 wurden in den USA Drogen verboten. Aus Angst vor den Schwarzen, Mexikanern und Chinesen, von denen man glaubte, dass sie "ihren angestammten Platz in der Gesellschaft vergassen und zur Gefahr für die Weissen wurden."

Drogen illegal zu machen, bedeutet, eine illegale Drogenindustrie zu ermöglichen. Und die Kontrolle über die Drogen in die Hände gefährlicher Verbrecher zu legen. "Die Drogendealer konnten nun exorbitante Preise verlangen. In der Apotheke hatte das Gramm Morphium zwei, drei Cents gekostet, die Gangster verlangten einen Dollar. Und die Süchtigen zahlten, was immer sie zahlen mussten." Das ist heute noch genauso.

Derart eindrücklich wie in Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges, habe ich noch nie gelesen, dass und wie der Krieg gegen Drogen gescheitert ist. Das liegt auch daran, dass Johann Hari ganz viele und ganz unterschiedliche Seiten zum Zug kommen lässt. Von der drogen- und alkoholkranken Billie Holiday zu Arnold Rothstein, einem der ersten Drogenbarone. Vom Strassendealer Chino zu Harry Anslinger, der in den Dreissigerjahren Amerikas oberster Drogenjäger war und das Drogenverbot initiierte.

Auch mit Rosalio Reta, der für eine mexikanische Drogenbande gemordet hatte und heute in einem texanischen Gefängnis sitzt, kam Hari ins Gespräch. Nur schon lesend ist die Brutalität dieser Banden schwer zu ertragen

"Überall in den Vereinigten Staaten und überall in der Welt beobachteten Polizisten ein Phänomen. Verhaftet man viele Vergewaltiger, nimmt die Zahl der Vergewaltigungen ab. Verhaftet man viele gewaltbereite Rassisten, nimmt die Zahl rassistischer Übergriffe ab. Verhaftet man aber viele Drogendealer, laufen die Drogengeschäfte keineswegs schlechter."

Anders gesagt: Die Kriminalisierung der Drogen bringt diese nicht zum Verschwinden, sondern schafft mehr Kriminalität, mehr Kriminelle und mehr Opfer. Opfer meint nicht nur Drogensüchtige, es meint auch Menschen, die zufällig in einen Krieg zwischen Drogenbanden geraten, es meint auch die vielen 15, 17 oder 20 Jährigen, die einmal wegen eines Drogenvergehens verhaftet worden sind und deswegen jetzt keine Stelle mehr finden.

Wer glaubt, süchtiges Verhalten liesse sich mit Gewalt bezwingen, sollte unbedingt lesen, was Johann Hari über 'Tent City', eine weibliche Sträflingskolonie für Drogensüchtige, in Arizona zusammengetragen hat. Und sich auch einmal dies vor Augen halten: "Vom liberalen Staat New York bis zum liberalen Staat Kalifornien gehört das Verhaften und Foltern von Drogengefangenen zur Routine."

In Mexiko, jedenfalls in Ciudad Juárez, kontrollieren die Kartelle den Staat. Einen anderen Schluss lässt das Schicksal der Krankenschwester Marisela Escobedo, die den gewaltsamen Tod ihrer Tochter Rubi durch ein Mitglied einer einflussreichen Drogengang nicht einfach so hinnehmen wollte, sondern sich wehrte, nicht zu.

So wie die Prohibition das organisierte Verbrechen ermöglicht hatte, half die Kriminalisierung der Drogen einem Geschäft auf die Beine, das brutaler und einflussreicher nicht sein könnte. Dagegen gibt es nur eine Lösung: "Legalisiert und reguliert den Drogenmarkt."

Johann Hari ist aber noch auf etwas ganz anderes gestossen. "Clean ist nicht das Gegenteil von Sucht. Das Gegenteil ist, nicht allein zu sein ... Ist man allein, kann man der Sucht nicht entkommen. Wird man geliebt, hat man eine Chance."

Fazit: Erschütternde Geschichten, notwendige Aufklärung, überzeugende Argumentation.

Johann Hari
Drogen
Die Geschichte eines langen Krieges
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015

Mittwoch, 2. Dezember 2015

Etwas für jemand anderen tun

So gehört es zu meinem Trainingsprogramm, wenn möglich jeden Tag etwas für jemand anderen zu tun. Falls Ihnen das jetzt allzu offensichtlich erscheint, hatten Sie wahrscheinlich noch nie ein Suchtproblem.
Mir scheint, dass unsere atomisierte, säkulare Kultur das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit unterdrückt.
Meine einzige Möglichkeit, alkohol- und drogenfrei zu leben, ist, mich in Demut, Wachsamkeit und mit Unterstützung durch Dritte von einem Tag zum nächsten zu hangeln.
Aus: Russell Brand: Revolution.

Mittwoch, 25. November 2015

Sich ins Leben schreiben

Ob mich ein Buch anspricht, entscheidet sich häufig bereits nach den ersten paar Sätzen. Sich ins Leben schreiben von Liane Dirks beginnt so: "Schreiben ist etwas Wunderbares. Schreibend kann man Welten entwerfen, Pläne schmieden, Nachrichten hinterlassen. Schreibend kann man erzählen von dem, was war und von dem, was kommen soll. Schreiben ist Magie. Es stellt nie gesehene Landschaften her und es bewahrt Weisheiten, die drohen, in Vergessenheit zu geraten."

Ich stimme zu, denn das alles kann Schreiben ja wirklich alles sein. Nur eben: für mich ist es das überhaupt nicht, für mich ist es viel zu oft mühsam und gar nicht etwa wunderbar, sondern notwendig. Wenig geneigt, weiter zu lesen, tat ich es trotzdem. Und erfuhr, dass Liane Dirks in jungen Jahren den Wunsch hatte, Autorin zu werden, doch dass ihr der Mut fehlte. "Stattdessen hatte ich zunächst die Welt bereist, versucht, allerorten Gutes zu tun. immer war ich mit einem Auftrag unterwegs – mich für andere zu engagieren schien doch einfacher zu sein, als selbiges für mich zu tun."

Damit hatte sie mich, denn es ist in der Tat wesentlich einfacher, sich für andere einzusetzen, als für sich selber Sorge zu tragen. Von früh auf werden wir darauf konditioniert, uns zu beweisen, anderen zu zeigen, dass wir etwas können, dass wir wer sind. Nur auf uns selber aufzupassen, lernen wir nicht, obwohl nichts nötiger, hilfreicher und dringender ist, als gerade dies.

"Wer sich ins Leben schreibt, der schreibt selbst und wird nicht länger be-schrieben. Und wer sein Leben schreibt, der wird vom Opfer seiner Geschichte zu deren Schöpfer." Mich erinnert das an das berühmte Gedicht von Antonio Machado, worin es heisst: "Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht beim Gehen."

Selbstentfaltung sei kein zielorientiertes Projekt, so die Autorin. "Es ist ein mutiges, kreatives Anvertrauen in die Schöpferkraft des Lebens, die uns innewohnt."

Damit diese Schöpferkraft sich entfalten kann, braucht es einen Anfang, doch nicht irgendeinen, sondern einen grossen, echten, einen, bei dem alles neu ist und nichts wirklich geplant werden kann. Es geht darum, dass Freude zum Dreh- und Angelpunkt der Reise wird.

"Ich selber habe lange gebraucht, den Unterschied zwischen Überleben und Leben zu begreifen, oder anders gesagt, den zwischen Entwicklung aus Not und Entfaltung aus der Freude heraus. Es stimmt, erlittenes Leid war der Motor für meine Entwicklung. Ich wollte es überwinden." Das hat sie getan, doch es galt, noch etwas anderes zu lernen. "Nur das Eintauchen in den Ur-Impuls, die pure Freude an der Hervorbringung lässt uns wirklich all unser schöpferisches Potenzial entdecken und verwirklichen."

Um sein Leben zu ändern, braucht es Mut. Liane Dirks bezeichnet Mut, Vertrauen und Offenheit als  "die besseren Seiten der Angst" und plädiert dafür, "den Fokus unserer Aufmerksamkeit nicht länger auf das Leid zu richten, sondern auf den Mut mit dem wir ihm gegenübertreten, dann können wir uns zunehmend in der Kraft verankern und im Vertrauen, dass das Neue tatsächlich möglich ist."

Wer selber schreibt, weiss, dass der Anfang das Eine, das Dabeibleiben das Andere und oftmals Schwierigere ist. Damit das Durchhalten gelingt, braucht es unter anderem Disziplin und diese hat für viele einen schlechten Klang. "Disziplin aber ist etwas, das stets einem selbst dienen sollte, sagte mein erster buddhistischer Lehrer einmal, mit Disziplin übt man neues Verhalten ein."

Ich schätze an Sich ins Leben schreiben vor allem die autobiografischen Stellen: da, wo die Autorin ganz einfach schildert, was mit ihr passiert ist und wie sie damit zurecht gekommen ist, fand ich sie am stärksten. Ihren davon abgeleiteten Folgerungen und Argumentationen mochte ich hingegen nicht immer folgen, die klangen mir häufig ganz einfach zu abgehoben, zu nett, zu positiv. Ihr Plädoyer fürs Ja-Sagen etwa. "Die Magie des Ja-Wortes birgt die Kraft all Ihrer Vorstellungen. Magisch vereint das Ja Vergangenheit und Zukunft und bringt ins Jetzt, was durch Sie entstehen will und soll."

Mir steht der Realismus von Krystyna Zywulska, der mütterlichen Freundin der Autorin, näher, die zusammen mit ihrer Mutter, an den Wachen vorbei aus dem Warschauer Ghetto spaziert ist.
"Woher hattest du den Mut?" fragte ich sie. "Ich weiss nicht", antwortete sie. "Ich habe es einfach getan, ich hab mir vertraut."
"Ich weiss nicht, ob ich das gekonnt hätte", sagte ich.
"Kann sein, kann nicht sein", meinte sie. "Wichtig ist doch nur, dass wir uns von unserem Mut erzählen, dem Mut, das Richtige zu tun und manchmal über uns hinauszuwachsen, nicht wahr?"

Mich hat Sich ins Leben schreiben unter anderem ans Thomas-Evangelium erinnert, wo es heisst: "Wenn Du hervorbringst, was in Dir ist, wird das, was Du hervorbringst, Dich retten. Wenn Du nicht hervorbringst, was in Dir ist, wird das, was Du nicht hervorbringst, Dich zerstören."

Wie dieses Hervorbringen bewerkstelligt werden kann, zeigt Liane Dirks mit Sich ins Leben schreiben anschaulich, differenziert und überzeugend.

Liane Dirks
Sich ins Leben schreiben
Der Weg zur Selbstentfaltung
Kösel Verlag, München 2015

Mittwoch, 18. November 2015

Bis es soweit ist

Du bist ein anständiger Bursche, Danny Boy. Du magst eine Krankheit in dir tragen, aber das ist nicht deine Schuld. Eines Tages wirst du aufwachen und wissen, dass du nicht mehr so weiterleben willst. Dann gehst du die Probleme an, die dich zum Trinker machen. Bis es so weit ist, kann noch einige Zeit vergehen. Ich schlage vor, dass du jetzt erst mal duschen gehst, eine frische Jeans und das Sporttrikot aus meinem Spind anziehst, und dann genehmigen wir beide uns ein anständiges Frühstück im Café.

James Lee Burke: Glut und Asche

Mittwoch, 11. November 2015

On Losers & Rebellion

"The only interesting people in the world are the losers", she said.
"Or rather, those we call the losers. Every type of deviation contains an element of rebellion. And I've never been able to understand a lack of rebelliousness."

Karin Fossum: He Who Fears the Wolf

Mittwoch, 4. November 2015

Wir wir unsere Resilienzkräfte entwickeln können

Von posttraumatischem Stress haben viele schon gehört, das posttraumatische Wachstum ist weniger bekannt. Das liegt nicht zuletzt an den Psychologen, die von den Leidenden leben.

Die meisten Menschen kommen jedoch ohne Psychologen durchs Leben und das liegt unter anderem daran, dass sie selbst katastrophale Ereignisse erstaunlich gut bewältigen.

Michaela Haas' Stark wie ein Phönix handelt von Frauen und Männern, die durch posttraumatische Belastungen emotional gereift sind und neue Lebenslust gewonnen haben.

Das hat mit Resilienz zu tun. Und das meint hier: die Fähigkeit, Widrigkeiten nicht an sich abprallen zu lassen, sondern ihre Wucht zur Veränderung zu nutzen.

Michaela Haas ist Journalistin und geht das Thema entsprechend an: Sie befragt Menschen, die an schweren Schicksalsschläge gewachsen sind. Darunter finden sich auch bekannte Namen wie die Bürgerrechtlerin Maya Angelou, Roshi Bernie Glassman oder der Def-Leppard-Schlagzeuger Rick Allen.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse würden die aufbauenden Einsichten dieser Menschen bestätigen, lese ich und frage mich: Und wenn es nicht so wäre? Wenn keine Bestätigung der Wissenschaft vorliegen würde? Wären dann diese Einsichten etwa weniger hilfreich?

Der Psychologe Richard Tedeschi gilt als einer der führenden Köpfe in der Erforschung von posttraumatischem Wachstum. Und er sagt so vernünftige Sachen wie: "Das Wachstum kommt nicht von dem Ereignis an sich, als wäre das, was geschehen ist, etwas Grossartiges. Posttraumatisches Wachstum entsteht nicht aus dem Tod des geliebten Kindes, sondern aus dem langen, mühevollen und schmerzhaften Kampf der Eltern, den Verlust zu bewältigen." Es mag unbescheiden klingen, doch darauf wäre ich vermutlich auch selber gekommen.

Man lernt viel Hilfreiches in diesem Buch. So meint etwa Maya Angelou: "Es wird sich nichts tun, wenn du es nicht tust", Und sie fordert: "Wirf dich in den Kampf. Kämpfe!" Doch alleine schafft das selten jemand. Wir alle brauchen Hilfe und Unterstützung, damit wir zu vergeben lernen, den anderen und uns selber, und Neues wagen können. Besonders eindrücklich und berührend fand ich die dramatische Geschichte von Cindi Lamb, die es schaffte, dem Mann zu vergeben, der ihre Tochter auf dem Gewissen hat.

Am überzeugendsten ist Michaela Haas, wenn sie von sich selber berichtet. Sie tut dies mit inspirierender Aufrichtigkeit, doch ohne Nabelschau. "Die revolutionäre Einsicht Buddhas ist, dass wir sind, was wir denken – dass wir unsere Wirklichkeit im Kopf erschaffen. Unser Geist erschafft Glück und Leiden, unabhängig von den äusseren Umständen. Für mich hiess das, dass ich mein Glück nicht länger in den alten Revieren suchen durfte. Ganz offensichtlich hatte ich mich gründlich getäuscht: in meinem Mann, in meinem Leben, auch in mir. Das Leben, das ich mir vorgestellt hatte, gab es nicht mehr. Ich musste loslassen und mir ein neues suchen."

Das geht nur, indem wir uns dem Leiden stellen. "Wer am meisten versucht, Leiden zu vermeiden, ist am Ende derjenige, der am meisten leidet", schreibt der christliche Theologe Thomas Merton. In den Worten von Michaela Haas: "Bevor wir Leiden überwinden können, müssen wir uns hindurchwinden. Der Weg zum Licht am Ende des Tunnels führt durch den Tunnel."

Michaela Haas
Stark wie ein Phönix
Wir wir unsere Resilienzkräfte entwickeln
und in Krisen über uns hinauswachsen
O.W. Barth, München 2015

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Die Droge Politik

Sucht. Droge. Entzug. Die meisten Politiker benutzen die Begriffe aus der Junkie-Szene mit bemerkenswerter Beiläufigkeit, um ihre eigene Befindlichkeit zu beschreiben. Sie tun so, als seien die Sucht-Vergleiche blosse Metaphern, harmlose Umschreibungen für eine etwas peinliche Besessenheit. Sucht light, sozusagen.

Doch wer von Drogen redet und von Sucht, der redet zugleich von Realitätsverlust. Wenn also gerade jene Menschen Gefahr laufen, von Berufs wegen ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit zu entwickeln, denen wir durch Wahl den Auftrag erteilt haben, unser eigenes Leben, unsere persönliche Alltagsrealität zu ordnen, zu schützen oder gar zu verändern, dann brauchen wir uns über den beklagenswerten Zustand der Welt nicht zu wundern.

Jürgen Leinemann
Höhenrausch: Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker

Mittwoch, 21. Oktober 2015

Die Psychologie des Gelingens

An psychologischen Theorien darüber, wie man Verhaltensveränderungen erreichen kann, herrscht kein Mangel. Nachweisbare Erfolge sind hingegen ziemlich rar und auch schwer zu erbringen. Kein Wunder, bei Ansätzen wie etwa diesem: "Behandlungsmethoden für Alkoholabhängige machen den Patienten beispielsweise klar, dass zwei Drinks am Tag nicht 'normal' sind, wie ein Alkoholiker vielleicht denkt, sondern deutlich über dem Durchschnitt liegen. Der Betroffene erkennt, dass er über der Norm liegt, und wird dadurch motiviert, weniger zu trinken." Jeder Alkoholiker, der das liest, wird ob soviel Weltfremdheit wohl unverzüglich zur Flasche greifen.

Gabriele Oettingen, die an der New York University und der Universität Hamburg lehrt, will mit ihrer Psychologie des Gelingens die existierenden Ansätze nicht konkurrieren, sondern ergänzen. "Das Buch beruht auf zwanzig Jahren Arbeit in der Motivationsforschung und präsentiert eine ausserordentlich überraschende Schlussfolgerung: Gerade die Hindernisse, von denen wir glauben, das sie uns von der Wunscherfüllung abhalten, können uns am meisten helfen, unsere Wünsche zu verwirklichen, wir müssen nur anders als gewohnt mit ihnen umgehen."

Forschungsergebnisse hätten gezeigt, so Oettingen, dass das Prinzip "träumen, wünschen, tun" nicht funktioniere, denn: "Indem Sie davon träumen, rauben Sie sich die Energie, die Sie brauchen, um etwas anzupacken."

Das heisst nicht, dass man nicht träumen soll. Genau so wenig heisst es, dass man nicht positiv denken soll. Vielmehr geht es darum, "das Beste aus unseren Phantasien herauszuholen, indem wir sie mit dem kontrastieren, was man uns zu ignorieren oder kleinzureden gelehrt hat: den Hindernissen, die uns im Weg stehen."

 Da mentales Kontrastieren sich als hilfreich erwies, fragte sich Oettingen, ob man es nicht noch effektiver machen könnte. Und wurde fündig bei ihrem Ehemann, Peter M. Gollwitzer, der in einem verwandten Gebiet forschte, den Durchführungsintentionen. Dabei stellte er (zusammen mit seiner damaligen Mitarbeiterin Veronika Brandstätter  – auch Frau Oettingen stellt ihre Mitarbeiter jeweils namentlich vor) fest, "dass ein ausformulierter Plan Menschen half, zu handeln und Hindernisse zu überwinden, wenn sie sich fest vorgenommen hatten, ein Ziel zu erreichen." Wer hätte das gedacht?!

In der Folge begann Frau Professor Oettingen "mentales Kontrastieren und Durchführungsintentionen als zusammengehöriges System zu lehren" und fasste dies unter dem Namen WOOP   Wish, Outcome, Obstacle, Plan; auf Deutsch: Wunsch, Ergebnis, Hindernis, Plan  zusammen.

Eventuell könne WOOP auch bei der Überwindung von Alkoholismus und Drogenabhängigkeit helfen, meint die Autorin. "Unsere Forschung spricht dafür." Indem man etwa nicht zu vage bleibt ("Wie schön wäre es, wenn ich nicht mehr trinken würde"), sondern sich an konkreteren Wünschen orientiert ("Eine besserer Beziehung zu meiner Frau"; "Wieder ein angesehener Mitarbeiter meines Teams zu sein"; "Ein besserer Vater zu sein"). Das klingt einleuchtend. Und mag tatsächlich manchmal helfen. Ob der Sucht   die so ziemlich gar nicht logisch ist   dadurch beizukommen ist, nun ja, wer weiss das schon?

"Nutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand" lautet einer der Titel in diesem Buch. Wäre dieser verbreiterter, würde es Die Psychologie des Gelingens vermutlich gar nicht brauchen.

Gabriele Oettingen
Die Psychologie des Gelingens
Pattloch Verlag, München 2015

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Stop Caretaking the Borderline or Narcissist

"Being in a relationship with a borderline/narcissist can be intoxicating, full of spontaneity, exciting, and thrilling. You may feel deeply needed and super important to him or her. At the same time, this life is all about them and none about you. You may have even lost sight of who you are and what you want, and your own interests, feelings, and needs."

In other words, a relationship with a borderline/narcissist (BP/NP) is far, very far from being a healthy one. "A healthy relationship gives you energy, helps you feel relaxed, and makes you feel wanted and comfortable just the way you already are." A relationship with a borderline/narcissist is pretty much the opposite.

Borderlines and narcissists, according to Margalis Fjelstad, appear "like a pair of opposites on the outside. The borderline acts emotionally more negative, less social, less predictable, and more dependent. The narcissist acts more friendly, outgoing, outrageously optimistic, fantastically competent, and in control."

What they share is "low self-esteem, fear, anxiety, paranoia, and deep emotional pain from a sense of 'not feeling good enough.'" Moreover, "both use many of the same defense mechanisms: blaming, projection, devaluing, idealization, splitting, denial, distortion, rationalization, and passive-aggressiveness."

Why do borderlines and narcissists need caretakers? Since they do not have a healthy sense of self, the world to them is scary. And so they need somebody who listens and cares and creates "a world that is no longer scary", argues Margalis Fjelstad, who characterises the caretaker role as "equivalent to being a full-time, unpaid therapist".

Not all caretakers are alike (neither are borderlines and narcissists) and their involvement levels might differ considerably. There are however characteristics that many do share. Among them might be fear of anger. "Fear of anger puts you at the mercy of the BP/NP who has no fear of expressing his or her feelings and even blaming them on you." Or, the deep-seated yet delusional belief that reason is the solution. "The truth is that the BP/NP is unable to consistently respond logically."

Caretakers are as much in denial about his or her situation as the BP/NP. "How much energy and time are you spending covering up the reality that you are in a relationship with a mentally ill person, all the while pretending that your partner is 'normal' and that your drama-laced interactions are 'normal'? The fantasy that the BP/NP is just like everybody else, only 'more intense,' is a mystification."

Part of the problem with personality disorders is that "people who have them cannot perceive the changes needed, they feel threatened by change, and they often don't follow through with the changes needed."

Fact is, you can't force anyone else to change, you only have the power to change yourself. "You have been looking for a way to have more power in this relationship ... You have been focusing in the wrong place."

Acceptance is key. "You cannot change the BP/NP. You must accept the fact of your limitations, and you must accept the BP/NP just the way he or she is."

Again and again, Margalis Fjelstad stresses that the BP/NP suffers from a serious mental illness. "As long as you stay in the Caretaker role, you are reinforcing the insane, dysfunctional behavior of the BP/NP."

So what is there to do?
First of all caretakers need to give to themselves what they are giving to the BP/NP. "Self-care sets up a reverse scenario. That is, you fill yourself up until you don't need the other person to fill you up. Then, whatever you give will come from a place of abundance rather than neediness ... It honors and respects your own needs and individuality, as it honors the BP/NP for who he or she is."

Stop Caretaking the Borderline or Narcissist is refreshingly no-nonsense, provides lots of useful hints on how to put this self-care model into practise while at the same time informing thoroughly and in no uncertain terms about the BP/NP's view of the world. It is a most helpful book!

Margalis Fjelstad
Stop Caretaking the Borderline or Narcissist
How to End the Drama and Get On with Life.
Rowman & Littlefield Publishers, Inc.
Lanham ° Boulder ° New York ° London

Mittwoch, 7. Oktober 2015

Drogen und ihre Nutzer

"Eine kleine Geschichte des Drogenkonsums – so fragmentiert, als hätte man selbst nicht mehr alle Sinne beisammen", hat die Süddeutsche Zeitung Breites Wissen ... nachgelegt von Ingo Niermann & Adriano Sack treffend charakterisiert. Und der Verlag informiert: "Die komplett durchgesehene, um 50% erweiterte Neuauflage des 2007 erstmals erschienenen Klassikers Breites Wissen ist noch um vieles einmaliger; viele neue Drogen, viele neue Nutzer, viel neues Wissen in neuer, noch rauschhafterer Gestaltung."

Das ist schön gesagt und sicher wahr, obwohl, ich kann das nicht wirklich beurteilen, ich kenne den Klassiker von 2007 (und da dachte ich immer, bis etwas zum Klassiker werde, müssten schon etwa zehn Jahre vergehen ...) nicht. Andererseits haben seither sowohl Drogen als auch Nutzer zweifellos zugenommen, schliesslich leben wir in einer Konsumgesellschaft, die sich ja – man höre nur den Wachstum, Wachstum fordernden Politikern zu – am "Immer mehr, und bitte von allem" orientiert.

Breites Wissen ... nachgelegt liefere "reines Entertainment und reine Information", lese ich unter anderem in der Verlagsinformation. Das stimmt nicht nur, das trifft es sogar sehr genau.

War die Einnahme von Drogen einstmals mit Avantgarde und Rebellentum verbunden, ist sie heutzutage so recht eigentlich normal. "Eine Fernsehserie über Tony Blairs New Britain wäre so wenig ohne Kokain denkbar wie 'Mad Men' ohne Zigaretten und harte Drinks." Und, so die beiden Autoren: "Die meisten, die heute illegale Drogen nehmen, sind nicht süchtig."

Das meint nicht, dass Breites Wissen ... nachgelegt den Drogenkonsum propagiert, es bietet ganz einfach eine recht ungewöhnliche Sicht auf die seltsame Welt der Drogen und ihrer Nutzer, wie der Untertitel so schön heisst: unterhaltend, witzig und informativ. Unter dem Titel "Drogen kann man nicht besiegen" wird unter anderem die Meinung vertreten, dass die Legalisierung der Drogen sinnvoll wäre. Und überhaupt, und auch das steht in diesem Buch: "Drogen müssen nicht sein."

Was man hier vorfindet ist ein Sammelsurium von gänzlich Unterschiedlichem. Klatsch (Prominente und ihre Drogenprobleme) und Kuriosa (eine Auflistung der deutschsprachigen Kokainlieder), eine kleine Drogenkunde wie auch Angaben über "angebliche Höchstdosierungen, die überlebt wurden" (falls nicht, wären sie schwer zu berichten gewesen), literarische Drogenklassiker sowie Fantasie-Drogen aus Literatur, Film und Fernsehen.

Breites Wissen ... nachgelegt ist ein wunderbar unterhaltendes Buch; selten, dass man dermassen amüsant über Drogen und ihre Nutzer (insgesamt 34 werden porträtiert) aufgeklärt wird.

Als Nutzer Nummer 23 figuriert Brian Wilson, dessen Autobiografie offenbar von seinem Therapeuten Eugene Landy mit Hilfe eines People-Redakteurs geschrieben wurde, "um ein möglichst positives Bild von seiner Arbeit zu vermitteln." Übrigens nimmt der 1942 geborene Wilson heute "nur noch milde Psychopharmaka, komponiert und geht auf Tournee. Er gilt als 'gut eingestellt'".

Breites Wissen ... nachgelegt ist auch auf vielfältige Art lehrreich. Und ganz besonders – jedenfalls für mich – die Rubrik "Bedeutende und weniger bedeutende Theorien, die unter Drogeneinfluss entstanden". Dazu gehören neben den Selbstbetrachtungen des Marc Aurel (Opium – daher sein stoischer Gleichmut) auch die Psychoanalyse des Sigmund Freud ("Unerschütterlich ist der Glaube des vom Kokain Berauschten, er müsse sich nur mit allem, was ihm durch den Kopf geht, vor einem Gegenüber offenbaren, dann werde alles gut").

Wussten Sie übrigens wogegen Heroin hilft?
Husten, schlechte Laune, Aggressivität, Angst, Schmerzen, Schlafstörungen, Durchfall, Übergewicht, Atmen, Folterqualen, Lügen.

Und noch dies: es gibt in dem Buch auch eine Rubrik "Drogenfreie Musiker". Aufgeführt ist darunter gerade mal ein Name: Frank Zappa. 

Fazit: Ein Genuss. Unbedingt empfehlenswert!

Ingo Niermann & Adriano Sack
Breites Wissen ... nachgelegt
Die seltsame Welt der Drogen und ihrer Nutzer
Rogner & Bernhard, Berlin 2015

Mittwoch, 30. September 2015

Alles im Leben ist wichtig

Ich glaube, alles im Leben ist wichtig. Der schlimmste Verlust wäre, nicht bei dieser grossen Party dabei gewesen zu sein. Ein befreundeter Priester erzählte mir einmal von den Erfahrungen, die er am Sterbebett vieler seiner Gemeindemitglieder gemacht hat. Es waren nicht ihre Sünden, die sie bereuten, sondern das, was sie im Leben verpasst hatten.

James Lee Burke

Mittwoch, 23. September 2015

Was Therapeuten falsch machen

"Der Kunst der Gesprächsführung und dem erfolgreichen Umgang mit kleineren Fehlern oder Schnitzern, die eine Beziehung belasten können, wird nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt", schreibt Arnold A. Lazarus, emeritierter Professor für Psychologie an der Rutgers University im Vorwort zu Was Therapeuten falsch machen.

Das erstaunt nicht wirklich, denn das Ziel akademischer Ausbildungen ist die Erlangung eines offiziell anerkannten Diploms und nicht die Befähigung zur Hilfeleistung bei realen Problemen.

"Der vielleicht beste Rat, den ich erhielt", schreibt Lazarus, "kam von einem Supervisor während meiner Assistenzzeit an einer Tagesklinik in London. 'Sei du selbst', sagte er, 'aber überprüfe deine Gefühle.'" Zweifellos ein guter Rat, doch dass ausgebildete Therapeuten nicht selber drauf kommen, erstaunt schon etwas.

"Wir sind zutiefst überzeugt, dass Behandlungsentscheidungen auf den besten verfügbaren Forschungsergebnissen basieren sollten", schreiben die Autoren von Was Therapeuten falsch machen, Bernard Schwartz und John V. Flowers.

Wer würde da auch widersprechen wollen? Nur eben: diese Überzeugung gründet in der Annahme, dass die therapeutische Arbeit eine von der Wissenschaft geprägte und damit messbar sei. Ich teile diese Auffassung nicht, halte standardisierte Vorgehensweisen für ungeeignet, um seelische Leiden zu behandeln.

Gleichzeitig finde ich Forschungsergebnisse oft nützlich. "Theoretische Ansätze sind kein 'religiöses Dogma'; sie in Frage zu stellen wenn neue Erkenntnisse vorliegen, ist also keine Blasphemie." So haben etwa Untersuchungen gezeigt, "dass Klienten, deren Therapeuten (oder sie an sich selbst) eine Co-Abhängigkeit festgestellt hatten oder die bei Testverfahren hohe Werte bei den Merkmalen des Syndroms erzielten, eher die Diagnosekriterien einer Persönlichkeitsstörung erfüllten."

Was Therapeuten falsch machen listet mehr als fünfzig Fehler auf. Das beginnt mit "Sie ignorieren die Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen des Klienten" und endet mit "Die Kraft menschlicher Resilienz unterschätzen."

Bei nicht wenigen der aufgeführten Fehler staunt der Laie über die offenbar geringe Selbstreflexion einiger Therapeuten. Und auch darüber, dass die Autoren es nötig finden, für vollkommen Selbstverständliches Studien anzuführen. "Daraus lässt sich schliessen, dass wir Therapeuten genauso talentiert in Sachen Verleugnung, Selbsttäuschung und Rationalisierung (je nach Denkschule) sind wie unsere Klienten."

Nun gut, wir leben in Zeiten der Spezialisierung. Gesunder Menschenverstand ist da wenig gefragt, denn darauf lässt sich kein Fachgebiet aufbauen. Ausser natürlich, man versieht ihn mit einem möglichst gefragten Label wie zum Beispiel Therapie. "Am Ende ist alles eine Frage des Marketings", sagte mir mal ein Finanzspezialist aus New York.

Was Therapeuten falsch machen ist ein nützliches Buch, weil es auf Selbstverständlichkeiten aufmerksam macht, die allzu oft wenig selbstverständlich sind. Etwa dass Patient und Therapeut zusammenarbeiten müssen. Oder dass der Beziehungsaufbau wichtiger ist als die Technik.

Was mich überrascht hat: Was Therapeuten falsch machen ist zwischendurch auch ein unterhaltsames Buch. "Wie sollten wir – als Therapeuten – vorgehen, um einzuschätzen, wie die Klienten selbst ihre Probleme einschätzen? So wie Stachelschweine Liebe machen – mit grosser Vorsicht und auch mit einer ordentlichen Portion Skepsis."

Bernard Schwartz / John V. Flowers
Was Therapeuten falsch machen
50 Wege, Ihre Klienten zu vergraulen
Klett-Cotta, Stuttgart 2015

Mittwoch, 16. September 2015

Wer heute ein Diplom besitzt ...

Wer heute ein Diplom besitzt, das ihn dazu befähigt, Kinder zu erziehen, der kann es. Wer kein Diplom hat, kann es nicht. Fachwissen ist alles, die praktische Erfahrung zählt wenig. Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil die Behörde damit sehr weit entfernt ist von ihrer Klientel. Sie besteht aus Fachleuten mit sauberen Lebensläufen. Diese entscheiden über Menschen, die ein Chaos haben. Eine Amtsperson mit Lebenserfahrung hat ein ganz anderes Einschätzungsvermögen, eine ganz andere Art, mit solchen Leuten zu reden. Ich beobachte auch, dass sich Kesb-Mitarbeiter gegenüber Süchtigen und ihren Angehörigen auf eine höhere Stufe stellen. Das machen sie wohl auch, um sich abzugrenzen. Aber es kann kontraproduktiv sein, weil sich das Gegenüber dann zurückzieht.

Michelle Halbheer
Autorin von "Platzspitzbaby"
in einem Interview im Zürcher Tagesanzeiger

Mittwoch, 9. September 2015

Leben mit Epilepsie

"Die Welt soll davon erfahren. Von Epilepsie. Von Epileptikern. Von Anfällen. Und von unserem am Ende doch ganz wunderbaren und meist furchtbar normalen Leben damit."

Sarah Elise Bischof ist zwanzig und hat gerade die Schule hinter sich, als sie einen Epilepsieanfall erleidet. Und dann noch einen. Und noch einen. Das sei jetzt zehn Jahre her, schreibt sie in ihrem Erfahrungsbericht, dem Roman Panthertage. "Um genau zu sein: zehn Jahre, neun verschiedene Antiepileptika, 24 Klinikaufenthalte in acht Kliniken, sieben ambulante Neurologen, zahllose Anfälle, Nebenwirkungen und EEGs".

Mit einem EEG werden die Gehirnströme gemessen. Dabei wird nach Auffälligkeiten gesucht. Man will herausfinden, ob die Medikation wirkt, oder ob "trotz der Medikation Unruhen bestehen. Auch bestimmte Herde können so lokalisiert werden."

Bei der Epilepsie handelt es sich um vorübergehende Funktionsstörungen im Gehirn, die epileptische Anfälle auslösen. Solche wirken häufig dramatisch, klingen jedoch meist nach wenigen Minuten ab.

Epilepsie assoziieren wohl die meisten mit "zappelnden und zuckenden, mit Schaum vorm Mund und verzerrtem Gesicht" Anfällen, doch gibt es offenbar "zahlreiche unterschiedliche Formen und nicht nur die eine Epilepsie."

Grundsätzlich könne man zwischen fokalen und generalisierten Epilepsien unterscheiden, schreibt die im schwedischen Malmö aufgewachsene und heute in München lebende Sarah Elise Bischof. "Bei einer fokalen Epilepsie ist im Gehirn ein bestimmter Herd auszumachen, in dem die Anfälle sich abspielen, manche auch ohne Bewusstseinsverlust. Bei den grossen, generalisierten – meinen – finden die Anfälle hingegen im gesamten Hirn statt."

Die Form, unter der die Autorin leidet, geht auf eine Fehlbildung in der Hirnrinde zurück und äussert sich in Krampfanfällen sowie dem Verlust des Bewusstseins. "Es gibt Dinge, die Anfälle mit sich bringen, an die ich mich gewöhnt habe. Doch das Gefühl, nach einem Anfall im nassen Bett aufzuwachen oder mehrere Stunden im eigenen Urin zu schlafen", sei jedes Mal so unangenehm wie beim allerersten Anfall.

Dann tritt Stefan in Sarahs Leben. Die beiden verlieben sich. Als sie ihm von ihrer Epilepsie erzählt, zeigt sich Stefan verständnisvoll, fühlt sich dann jedoch bei ihrem ersten Anfall völlig überfordert und nimmt Reissaus.

"Von Anfällen kann ich mich erholen. Von Stefans erniedrigendem Verhalten hingegen nicht. 'Er hat mich einfach so liegen lassen', hallt es Tag für Tag durch meinen Kopf." Doch will sie ihm sein Verhalten trotzdem nicht übel nehmen, denn: "Ich weiss, wie Anfälle aussehen, und wenn er das nicht ertragen kann, dann ist das menschlich und nur richtig, dass er ehrlich zu mir war."

Und wie kommt das Buch zu seinem Titel Panthertage? Das ist Sarah Elise Bischofs Bezeichnung für Anfallstage und Post-Anfallstage. "Ein Panther ist düster, geheimnisvoll, gefährlich aber ebenso stolz und stark. Anfälle brechen wie ein Raubtier aus dem Nichts, aus der Dunkelheit über mich herein, greifen mich an, drohen mich zu zerfressen. Diese Tage sind schwarz wie ein Panther und unheimlich und dennoch gehe ich aus allen überstandenen Panthertagen noch stärker und stolzer hervor."

Sarah Elise Bischof
Panthertage
Mein Leben mit Epilepsie
Eden Books, Berlin 2015

Mittwoch, 2. September 2015

Nothing is enough

I begin pacing back and forth, like a zoo animal. "Nothing is enough, nothing is ever enough. It's like there's this pit inside of me that can't be filled, no matter what. I'm defective."
"You're not defective. You're an alcoholic," he says, as if this neatly explains everything. Which, of course, it does.

Augusten Burroughs
Dry. A Memoir

Mittwoch, 26. August 2015

Eine Pforte zur Erfahrung des Zen

Es gehöre zum Wesenskern des Zen, möglichst direkt auf das Wesentliche zuzusteuern, schreibt Stephan Schuhmacher und genau das tut er dann auch selber. "Die Frage ist also, was die Überlieferung des Zen hier und jetzt für jeden Einzelnen von uns existenziell bedeutet. Kann sie mir helfen, meine Lösung zu finden?"

Eingeleitet wird Zen. Die unlehrbare Lehre mit der Schilderung des Weges, den der Königssohn Siddhãrtha gegangen ist. Er hatte alles: er war reich, genoss Privilegien, hatte eine junge, schöne Frau und einen gesunden Sohn. Er besass all das, was der moderne Kapitalismus den Erfolgreichen zu bieten vermag. Dass das alles nicht glücklich macht, das wissen wir alle, doch etwas zu wissen, hilft meist nicht viel und so rennen wir denn lieber weiter, bevor uns unser Wissen zu stark erschreckt.

Anstatt wie die meisten von uns weiter zu rennen, ist Siddhãrtha ausgestiegen, hat sich auf die Suche gemacht, ausprobiert, was es ausprobieren gab und schliesslich erschöpft aufgegeben. Denn es gab nichts zu finden. "Wer bei dem innezuhalten vermag, was er nicht weiss, der hat das Höchste verwirklicht."

Stephan Schuhmacher erzählt unter anderem davon, wie das Zen von Indien nach China gelangte, doch ihm geht es nicht um die Historie, nicht um die intellektuelle Auseinandersetzung mit den uns bedrängenden Fragen. Ihm geht es um eine grundlegende (nicht auf das Zen beschränkte) menschliche Erfahrung, die uns zeigt, "dass die Phänomene nicht die absolute Wirklichkeit, sondern Illusionen, Projektionen des eigenen Gehirns sind." Auch die moderne Hirnforschung weist übrigens in diese Richtung.

Toll an diesem Buch ist, wie der Autor Ereignisse von vor Jahrhunderten in Bezug zur Gegenwart setzt. "Der Markt der Heilsversprechungen und Weisheitslehren war vor 2500 Jahren in Indien zwar längst nicht so bunt und vielfältig wie der westliche spirituelle Supermarkt unserer Tage, aber er hatte doch eine Vielzahl von unterschiedlichen Lehren und Techniken anzubieten, die zum Seelenfrieden führen sollten. Siddhãrtha probierte sie alle – und er schonte sich nicht dabei."

Genauso toll ist, dass Stephan Schuhmacher auf Zitate hinführt, die überzeugend darlegen, worauf es beim Zen ankommt. Etwa: "Erleuchtung ... bedeutet zu wissen, ... dass jedes Ding von Natur aus die ganze Wahrheit verkörpert." Und: "Es gibt nichts, was zu übermitteln wäre. Es kommt nur auf die Einsicht in das eigene Wesen an."

Im Zen wird die Non-Dualität, die Nicht-Zweiheit, angestrebt. Diese kann nur erfahren werden. "Die Subjekt-Objekt-Spaltung wird als die Wurzel allen Übels und aller Leiden des Menschen angesehen."

Zen. Die unlehrbare Lehre ist auch deswegen ein beeindruckendes Buch, weil es eindrücklich darlegt, dass Zen-Meister keineswegs als abgehobene Esoteriker unterwegs sind, sondern sich nicht zuletzt durch ihre profunde Menschenkenntnis auszeichnen. "Ein Meister des Zen erkennt schon allein an der Körpersprache und dem gesamten Habitus eines Menschen, der ihm gegenübertritt, dessen Bewusstseinszustand."

Vor allem jedoch macht Zen. Die unlehrbare Lehre Mut, sich auf sich selber einzulassen und seinen eigenen Weg zu gehen. "Nicht umsonst hatte bereits Buddha Shãkyamuni in seiner Rede an die Kalamer betont, niemand solle nur aufgrund von Rang und Ansehen eines Lehrers dessen Lehren übernehmen, ohne deren Wahrheitsgehalt aus eigener Erfahrung bestätigen zu können."

Neu ist, was Stephan Schuhmacher erzählt, nicht, doch wie er es erzählt  leicht, einfach, klar und mitunter witzig , das nimmt mich sehr für diesen Text ein. Dazu kommt, dass dieses Buch schön gestaltet, mit Tuschebildern und Kalligraphien illustriert sowie einem ansprechenden Umschlag versehen ist und gut in der Hand liegt.

"Eine Pforte zur Erfahrung des Zen" schreibt der Verlag. Und genau das ist es!

Stephan Schuhmacher
Zen. Die unlehrbare Lehre
Kösel Verlag, München 2015

Mittwoch, 19. August 2015

On Freedom & Responsibility

The really religious person is one who stops finding excuses for his misery. It needs guts to accept that I am responsible, that `This is my choice, I have chosen my life this way,` that ´My freedom is there, has always been there, to choose whatsoever I want. I can choose misery, I can choose bliss.`

Man`s soul consists of freedom.

I teach you freedom.

But freedom means taking the responsibility, total responsibility for your life, on your own shoulders, not throwing it onto somebody else.

Osho
The Book of Wisdom

Mittwoch, 12. August 2015

"Viele glauben, ich sei betrunken"

"Viele glauben, ich sei betrunken", lautete der Titel des Interviews mit dem Schriftsteller Richard Wagner über seine Parkinson-Krankheit in der Basler Zeitung. Wer darunter leidet, kann seine Bewegungsabläufe nicht mehr kontrollieren. "Herr Parkinson verwirrt den Körper und lässt den Kopf zuschauen", charakterisiert Wagner die Krankheit. Und: "Man muss den Istzustand aushalten – und sein Leben danach neu ausrichten."

Ein pragmatischer, ja ein weiser Satz. Realistisch und keineswegs resignativ. Eine ständige Aufforderung an sich selber, anwendbar auf alle Menschen, nicht nur auf die, die unter Parkinson leiden. Nur, dass es für letztere eine grössere Herausforderung ist, als für "uns Normalos".

Früher sprach man von Schüttellähmung, heute spricht man beschwichtigend vom Restless-Legs-Syndrom. "Das Syndrom der ruhelosen Beine. Als ginge es bloss um die Beine, und nicht auch um den Kopf, der angeblich alles kontrolliert, aber kaum etwas unter Kontrolle hat."

Wie alle, die mit einer schweren Krankheit diagnostiziert werden, will er anfangs nicht wahrhaben, was ist. "Ich versuchte mir zwar immer noch einzureden, die Symptome seien noch nicht eindeutig genug, aber die Diagnose stand fest, an ihr war kaum zu rütteln."

Was helfen  könne, so der Autor, sei die medikamentöse Einstellung. "Sie kann zumindest vorübergehend durch pragmatische Beobachtung und Selbstbeobachtung des Verhaltens des Erkrankten verbessert werden. Vorausgesetzt sein Verhalten ist logisch."

Die Medikation wirkt, Richard Wagners Zustand bessert sich erstaunlich schnell, doch nur vorübergehend. Der schlaue Herr Parkinson und seine Truppen lassen sich nicht so leicht abfertigen.

Unerklärliche Krankheiten zu personalisieren, macht Sinn. Damit man zumindest einen Anhaltspunkt hat, an dem man sich orientieren kann. "Herr Parkinson hat keinen Zweck im Auge, er hat nichts mit einem vor. Er handelt aus dem Augenblick heraus und ist vom Ergebnis nicht weniger überrascht als der Erkrankte."

Richard Wagner hat mit "Herr Parkinson" nicht nur seine persönliche Leidensgeschichte aufgezeichnet, sondern auch von anderen berichtet, die unter dieser Krankheit zu leiden hatten, vom Schweizer Schriftsteller Jürg Federspiel über den Schauspieler Michael J. Fox zum preussischen Bildungserneuerer Wilhelm von Humboldt.

"Herr Parkinson" ist ein sehr menschliches ("Der Träger einer so konsequent sinnsprengenden Krankheit wie Morbus Parkinson will getröstet sein, jenseits von Ursachenforschung und Therapie") wie auch ein traurig-witziges Buch: "Es kam der Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Brief nicht zu Ende schreiben konnte, und es beunruhigte mich nicht besonders, denn das Briefschreiben ist nie meine Stärke gewesen."

Vor allem jedoch beeindruckt "Herr Parkinson" als Dokument des würdevollen Umgangs mit seinem Schicksal.

Richard Wagner
Herr Parkinson
Knaus Verlag, München 2015

Mittwoch, 5. August 2015

These Boots Are Made for Walkin'

You keep saming when you ought to be changing.

(Statt dich zu ändern, machst du weiter, als ob nichts wäre)

Lee Hazlewood 
These Boots Are Made for Walkin'

Mittwoch, 29. Juli 2015

Die Macht des Guten

Als im März 2008 Tibeter in Lhasa und anderen tibetischen Städten gegen die kommunistische Regierung protestierten und diese ihre Armee auf die Demonstranten schiessen und viele Mönchen verhaften liess, reagierte der Dalai Lama wie folgt:

"Ich habe die chinesischen Beamten visualisiert, ihren Ärger, ihren Argwohn und die sonstigen negativen Gefühle auf mich genommen und ihnen dafür Liebe, Mitgefühl und Vergebung zukommen lassen. Das löst zwar nicht unbedingt die Probleme, aber für mich war es sehr wichtig, um innerlich ruhig zu bleiben."

Auf Brutalität mit Mitgefühl zu reagieren, klingt schon fast übermenschlich, doch wenn das Ziel ist, ruhig zu bleiben, weil man sich mit ruhigem Gemüt leichter tut, Lösungen zu finden oder Gegenmassnahmen zu ergreifen, lohnt sich die Anstrengung.

Ärger ist kein guter Ratgeber. Das wissen wir alle. Doch Ärger schadet uns auch. Weil er "die Gesundheit untergräbt, weil er das Immunsystem schwächt." Doch Ärger, etwa über Ungerechtigkeiten, kann uns auch motivieren, uns gegen diese zu wehren.

Gefühle sind weder gut noch schlecht. Wie wir mit ihnen umgehen, ist entscheidend. Nehmen wir die Angst: sie kann uns vor unüberlegtem Handeln schützen, sie kann uns aber auch lähmen.

"Wir bestimmen nicht selbst, wann bei uns Ärger und Angst und in welcher Stärke aufkommen, aber wir haben sehr wohl Einfluss darauf, was wir tun, wenn wir unter dem Einfluss solcher Gefühle stehen. Wer ein inneres Frühwarnsystem aufgebaut hat, so der Dalai Lama, der hat an dieser Stelle eine Wahl, und diese Fähigkeit gilt es auszubilden."

Denke ich an den Dalai Lama, denke ich ganz automatisch an Tibet und an Religion. Und lerne bei Daniel Coleman, dass es dem Dalai Lama um mehr als Religion geht, ja, dass "seine Ethik des Mitgefühls auf keine Religion oder Ideologie oder irgendeine bestimmte Glaubensrichtung" gründet. Für den Dalai Lama ist der Mensch von Natur aus mitfühlend.

"Kleine Kinder", sagt er, "reagieren nicht auf die Stellung, die Bildung oder das Bankguthaben, das einer hat, sondern auf das Lächeln in seinem Gesicht."

Buddha regte bekanntlich seine Anhänger an, nicht blind zu glauben, was er sagte, sondern selber zu forschen und  zu experimentieren. "Das ist doch ein sehr wissenschaftliches Denken", sagte der Dalai Lama. "Wir können Buddha als indischen Wissenschaftler der Antike betrachten."

Obwohl der Dalai Lama an wissenschaftlichen Erkenntnissen sehr interessiert ist, ist er keineswegs blind wissenschaftsgläubig. "Wissenschaft ist für ihn nur einer der möglichen Wege zum Erfassen der Realität und wie jede andere Erkenntnismethode durch ihre eigenen Annahmen und ihre eigene Methodik begrenzt."

Sein Denken und seine Weltsicht ergänzen die Wissenschaft, indem sie Akzente setzen, die das Gemeinsame und Gemeinschaftliche betonen. So definiert sich etwa geistige Gesundheit in der westlichen Psychiatrie, gemäss Lewis L. Judd, dem ehemaligen Direktor des National Institute of Mental Health der USA, "hauptsächlich als die Abwesenheit psychischer Symptome." Für den Dalai Lama zählen jedoch auch Qualitäten wie Weisheit und Mitgefühl zu den Kriterien für geistige Gesundheit.

Als er einmal von einem Journalisten gefragt wurde, ob aus ihm auch ein Wissenschaftsphilosoph hätte werden können, meinte der als Kind von Bauern Geborene: "Also, um ganz ehrlich zu sein, wenn man mich nicht als Dalai Lama erkannt hätte, wäre ich ein Bauer." Ein weiser und mitfühlender, möchte man da hinzufügen.

Mitgefühl zeigt sich im Handeln. Und dieses impliziert, "dass man sich gegen Missstände wendet und zum Beispiel Unrecht anprangert und sich für den Schutz der Menschenrechte engagiert."

Der Dalai Lama engagiert sich für eine andere, menschen- und lebensfreundlichere Bildung als die, welche wir derzeit haben und in immer grösseren Unterschieden zwischen Reich und Arm mündet. "Wer in diesem System aufwächst, erfährt nicht viel über die Wichtigkeit der inneren Werte. Fortschritt, Geld und materialistische Werte scheinen Vorrang zu haben."

Sein Rat?
"Behalten Sie Ihre hohen Bildungsmassstäbe bei, aber vollständig kann Bildung nur sein, wenn sie auch etwas von Herzenswärme vermittelt."

Daniel Coleman
Die Macht des Guten
Der Dalai Lama und seine Vision für die Menschheit
O.W.Barth Verlag, München 2015

Mittwoch, 22. Juli 2015

De-Automatization

You are not supposed to do big things. Eating, taking a bath, swimming, walking, talking, listening, cooking your food, washing your clothes - de-automotize the process. Remember the word de-automatization; that is the whole secret of becoming aware.

Osho
The Book of Wisdom

Mittwoch, 15. Juli 2015

Die Krankheit Langeweile

"Wo endet die Party und wo beginnt der Absturz? Eva und Henry teilen die gleichen Vorlieben. Alkohol, viel Alkohol, noch mehr Alkohol ..." so beginnen die Verlagsinformationen zu Anne Philippis Giraffen und ich frage mich, soll ich das wirklich lesen? und bin dann ganz überrascht (und dann doch wieder nicht, denn Rogner & Bernhard ist ein wirklich guter Name im Verlagsgeschäft ... obwohl, wie kann man nur, ums Himmels Willen, "Megaseller" [Helene Hegemann] auf den Umschlag setzen ...), nein, nicht wie gut Anne Philippi schreibt (wer für die FAZ, Vogue und Vanity Fair geschrieben hat, von der darf man erwarten, dass sie konventionell gut schreibt und das tut sie auch), sondern, weil sie treffend auf den Punkt bringt, was Sucht wesentlich ausmacht ... dass man die Langeweile ("etwas wirklich Schlimmes, eine tödliche Krankheit") nicht erträgt und Verantwortung scheut ("Ich will Reissaus nehmen können. Zu jedem Zeitpunkt.")

"Denial is not a river in Egypt", heisst es bei den Anonymen Alkoholikern. Im heutigen Berlin definiert sich gekonntes Verdrängen so: "Die Sucht, das war nicht die Tablette. Die Pille, die Tinktur, die Verzauberung durch Valium, als ich mir den Arm brach, das Erlebnis einer psychedelischen Erweckung, als ich Tetrazykline schluckte. Die Sucht, das war Christiane F., ihre schlampigen Haare, ihr hartes Berlin, das ich niemals hätte ertragen können."

Bei den Anonymen Alkoholikern (AA) landet Eva übrigens auch einmal. Im Anschluss an einen wenig erhebenden Besuch bei einer Koabhängigkeitsgruppe, wo man (eine wunderbar komische Szene) nicht miteinander spricht, sondern die Probleme in den Raum redet, ins Nichts. 

Bei den AA geniesst Eva die Aufmerksamkeit. "Es ist schön, wenn mir dreissig Augenpaare folgen, nur weil ich vom Saufen vom letzten Wochenende erzähle. Ich gebe Gas, ich mach weiter, ich erfinde noch ein paar Koksmärchen, krasse Abstürze, Überdosen, die ich nie genommen habe ...".

Eva und Henry fliegen mit Easyjet (schon das signalisiert, dass es die beiden mit dem Neuanfang ernst meinen .. ich meine das nur halb-ernst) nach Olbia, wo es zu meiner Verblüffung offenbar Stierkampf gibt. In Sardinien trifft Eva dann auch auf die Giraffe, die sie in Berlin schon einmal beobachtet hat ... und die Geschichte nimmt eine recht unerwartete Wende, die hier jedoch nicht verraten werden soll ...

Besonders angetan haben es mir die Schilderungen der Therapeuten Dr. Müller und Dr. Heinrich. Müller hatte seine eigenen Speed-Erfahrungen gemacht, weshalb ihm Eva auch mehr glaubt als Heinrich, den sie so schildert: "Er sass da mit dickem Bauch und grauem Bart, er war der Typ, der Zwanzigjährige im Zug anglotzte, aber der Meinung war, man solle den Körper, den physischen Körper, aus der Therapie weglassen. Er hatte natürlich unrecht."

Ganz wunderbar auch Evas Reaktion auf Dr. Müller, den sie unter anderem fragte, "woher die Kontrolle käme, wenn man sie dringend brauchte. Dr. Müller zuckte mit den Schultern. 'Kontrolle ist ein bürgerliches Konzept', sagte er und danach rief ich Dr. Müller nicht mehr an. Mit solchen Abstraktionen konnte ich nicht umgehen."

"Giraffen" ist kein Sucht-Buch. Es ist auch kein Bekenntnis-Buch mit anschliessender Läuterung. Es ist einfach eine gut und spannend erzählte Geschichte, mit nützlichen Einsichten für Süchtige und nicht ganz so Süchtige, die länger als die meisten auf ein gemachtes Bett und andere ihnen zusagende Umstände warten, bevor sie selber aktiv werden. "Ich fühlte mich immer wohler in anderer Leute Zuhause, ich habe bis heute keine Idee, wie ein Zuhause geht ... Ich setzte mich in gemachte Nester, ich schleifte meine Klamotten dorthin und legte mich in fremde Betten. Das lag mir, darin war ich gut."

Anne Philippi
Giraffen
Roman
Rogner & Bernhard, Berlin 2015

Mittwoch, 8. Juli 2015

Looking for Miracles

I go straight to Perry Street AA. Tonight, the speaker is talking about how people in recovery are always looking for this big, dramatic miracle. How we want the glass of water to magically rise up off the table. How we overlook the miracle that there is a glass at all in the first place. And given the universe, isn't the real miracle that the glass doesn't just float up and away?

Augusten Burroughs
Dry. A Memoir

Mittwoch, 1. Juli 2015

Der Marshmallow-Test

Walter Mischel, geboren 1930 in Wien und im Alter von acht Jahren mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten nach New York geflohen, hat sich sein Leben lang eine gesunde Skepsis über die Aussagekraft psychologischer Tests bewahrt. Unter anderem auch deswegen, weil er kurz nach der Ankunft in Amerika einen Intelligenztest – auf Englisch – absolvieren musste und dabei (wenig überraschend, würde man meinen) schlecht abschnitt.

Mischel ist klinischer Psychologe. Seine Forschungen wurden angetrieben von der Idee, dass es sich bei der Fähigkeit, sofortige Belohnungen zugunsten künftiger Resultate aufzuschieben, um eine kognitive Kompetenz handelt, die man erwerben kann.

Berühmt geworden ist er durch den Marshmallow-Test. „Meine Studenten und ich stellten die Kinder vor die Wahl zwischen einer Belohnung (etwa einem Marshmallow), die sie sofort bekommen konnten, und einer grösseren Belohnung (zwei Marshmallows), für die sie jedoch – bis zu zwanzig Minuten – warten mussten.“

Die Forscher stellten fest, dass je länger Vier- oder Fünfjährige warten konnten, desto besser kamen sie als Erwachsene mit Frustrationen und Stress zurecht. Das hätten viele vermutlich auch ohne Forschungen gewusst.

Die Frage ist: Ist die Fähigkeit zur Selbstkontrolle genetisch vorgegeben? Oder können wir sie uns aneignen? Die wenig überraschende Antwort ist ein typisch akademisches Sowohl-als-Auch. „Die meisten Prädispositionen sind bis zu einem Grad 'vorprogrammiert', aber sie sind auch flexibel, form- und veränderbar.“

Unser Gehirn lässt sich in ein heisses, emotionales System (das limbische System) und ein kühles, kognitives System unterteilen. Das heisse System „reagiert reflexartig, ohne nachzudenken und emotional, was dazu führt, dass es unwillkürlich ganz schnell die Konsumlust erhöht, die Aufmerksamkeit steigert oder impulsive Handlungen auslöst.“ Das kühle System sitzt im präfrontalen Kortex und „ist kognitiv, komplex und schwerer zu aktivieren.“

Die beiden Systeme stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. „In dem Masse, wie die Aktivität des einen zunimmt, sinkt die des anderen.“ Problematisch ist das bei andauerndem Stress, denn dieser „beeinträchtigt die Funktionstüchtigkeit des präfrontalen Kortex, der viele Dinge entscheidend beeinflusst – nicht nur auf Marshmallows zu warten, sondern auch die Highschool und das Studium abzuschliessen, länger bei einem Job zu bleiben, Bürointrigen durchzustehen, Depressionen zu vermeiden, Beziehungen aufrechtzuerhalten und keine Entscheidungen zu treffen, die intuitiv richtig zu sein scheinen, sich aber bei näherer Betrachtung als unvernünftig erweisen.“

Vieles von dem, was Walter Mischel und die vielen Kollegen, die er zitiert (und die wie er selbst meist in Harvard oder Stanford lehren und offenbar häufig weltweit führende Experten oder sonstwie herausragend sind) herausgefunden haben, scheint einigermassen banal. „Kurzum, wenn Kinder früh im Leben positive Erfahrungen machen, steigert sich dadurch ihre Bereitschaft und ihre Fähigkeit, Ziele beharrlich zu verfolgen, optimistische Zukunftserwartungen zu entwickeln und mit Frustrationen, Misserfolgen und Verlockungen fertigzuwerden, die unvermeidlich sind, wenn sie heranwachsen.“

Doch immer wieder weist er eben auch auf enorm hilfreiche Forschungsergebnisse hin, die die Lektüre dieses Werkes höchst lohnenswert machen. Etwa dass Menschen, die sich selbst häufig die Warum-Frage stellen, sich damit keinen Gefallen tun, weil dies dazu führt, dass es ihnen dann meist schlechter geht. Oder dass Menschen, die es schaffen, ihre Gefühle aus Distanz zu betrachten, damit ein Ereignis kognitiv neu bewerten können.

Wir können die Fähigkeit zum Aufschub lernen. Indem wir Strategien entwickeln, um schmerzliche Emotionen abzukühlen. Etwa indem wir tief einatmen, unsere Gedanken umlenken, an langfristige Ziele denken, uns 'Wenn-dann'-Pläne aneignen und das Grundprinzip nicht aus den Augen verlieren: „Das 'Jetzt' abkühlen, das 'Später' erhitzen.“

Doch so wichtig die Fähigkeit zur Selbstkontrolle auch ist, „es sind die Ziele selbst, die uns motivieren und uns leiten. Und sie bestimmen massgeblich, ob wir mit unserem Leben glücklich und zufrieden sind.“

Walter Mischel
Der Marshmallow-Test
Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit
Siedler Verlag, München 2015