Walter Mischel, geboren 1930 in Wien
und im Alter von acht Jahren mit seiner Familie vor den
Nationalsozialisten nach New York geflohen, hat sich sein Leben lang eine
gesunde Skepsis über die Aussagekraft psychologischer Tests bewahrt.
Unter anderem auch deswegen, weil er kurz nach der Ankunft in Amerika
einen Intelligenztest – auf Englisch – absolvieren musste und
dabei (wenig überraschend, würde man meinen) schlecht abschnitt.
Mischel ist klinischer
Psychologe. Seine Forschungen wurden angetrieben von der Idee, dass
es sich bei der Fähigkeit, sofortige Belohnungen zugunsten künftiger
Resultate aufzuschieben, um eine kognitive Kompetenz handelt, die man
erwerben kann.
Berühmt geworden ist er durch den Marshmallow-Test. „Meine Studenten und ich stellten die Kinder vor
die Wahl zwischen einer Belohnung (etwa einem Marshmallow), die sie
sofort bekommen konnten, und einer grösseren Belohnung (zwei
Marshmallows), für die sie jedoch – bis zu zwanzig Minuten –
warten mussten.“
Die Forscher stellten fest, dass je
länger Vier- oder Fünfjährige warten konnten, desto besser kamen sie als Erwachsene mit Frustrationen und Stress zurecht. Das hätten
viele vermutlich auch ohne Forschungen gewusst.
Die Frage ist: Ist die Fähigkeit zur
Selbstkontrolle genetisch vorgegeben? Oder können wir sie uns
aneignen? Die wenig überraschende Antwort ist ein typisch
akademisches Sowohl-als-Auch. „Die meisten Prädispositionen sind
bis zu einem Grad 'vorprogrammiert', aber sie sind auch flexibel,
form- und veränderbar.“
Unser Gehirn lässt sich in ein
heisses, emotionales System (das limbische System) und ein kühles,
kognitives System unterteilen. Das heisse System „reagiert
reflexartig, ohne nachzudenken und emotional, was dazu führt, dass
es unwillkürlich ganz schnell die Konsumlust erhöht, die
Aufmerksamkeit steigert oder impulsive Handlungen auslöst.“ Das
kühle System sitzt im präfrontalen Kortex und „ist kognitiv,
komplex und schwerer zu aktivieren.“
Die beiden Systeme stehen in einer
Wechselbeziehung zueinander. „In dem Masse, wie die Aktivität des
einen zunimmt, sinkt die des anderen.“ Problematisch ist das bei
andauerndem Stress, denn dieser „beeinträchtigt die
Funktionstüchtigkeit des präfrontalen Kortex, der viele Dinge
entscheidend beeinflusst – nicht nur auf Marshmallows zu warten,
sondern auch die Highschool und das Studium abzuschliessen, länger
bei einem Job zu bleiben, Bürointrigen durchzustehen, Depressionen
zu vermeiden, Beziehungen aufrechtzuerhalten und keine Entscheidungen
zu treffen, die intuitiv richtig zu sein scheinen, sich aber bei
näherer Betrachtung als unvernünftig erweisen.“
Vieles von dem, was Walter Mischel und
die vielen Kollegen, die er zitiert (und die wie er selbst meist in
Harvard oder Stanford lehren und offenbar häufig weltweit
führende Experten oder sonstwie herausragend sind) herausgefunden haben, scheint einigermassen
banal. „Kurzum, wenn Kinder früh im Leben positive Erfahrungen
machen, steigert sich dadurch ihre Bereitschaft und ihre Fähigkeit,
Ziele beharrlich zu verfolgen, optimistische Zukunftserwartungen zu
entwickeln und mit Frustrationen, Misserfolgen und Verlockungen
fertigzuwerden, die unvermeidlich sind, wenn sie heranwachsen.“
Doch immer wieder weist er eben auch
auf enorm hilfreiche Forschungsergebnisse hin, die die Lektüre
dieses Werkes höchst lohnenswert machen. Etwa dass Menschen, die
sich selbst häufig die Warum-Frage stellen, sich damit keinen
Gefallen tun, weil dies dazu führt, dass es ihnen dann meist
schlechter geht. Oder dass Menschen, die es schaffen, ihre Gefühle
aus Distanz zu betrachten, damit ein Ereignis kognitiv neu bewerten
können.
Wir können die Fähigkeit zum Aufschub
lernen. Indem wir Strategien entwickeln, um schmerzliche Emotionen
abzukühlen. Etwa indem wir tief einatmen, unsere Gedanken umlenken,
an langfristige Ziele denken, uns 'Wenn-dann'-Pläne aneignen und das
Grundprinzip nicht aus den Augen verlieren: „Das 'Jetzt' abkühlen,
das 'Später' erhitzen.“
Doch so wichtig die Fähigkeit zur
Selbstkontrolle auch ist, „es sind die Ziele selbst, die uns
motivieren und uns leiten. Und sie bestimmen massgeblich, ob wir mit
unserem Leben glücklich und zufrieden sind.“
Walter Mischel
Der Marshmallow-Test
Willensstärke, Belohnungsaufschub und
die Entwicklung der Persönlichkeit
Siedler Verlag, München 2015
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