Mittwoch, 29. Juni 2022

Du darfst nicht alles glauben, was du denkst

Anlass, mir dieses Buch vorzunehmen, war der Titel, denn ich kenne diesen Satz, allerdings auf Englisch, ich habe ihn sogar einem Kapitel meines Thrillers Herolds Rache vorangestellt. Ein hilfreicher Satz für Leute, die unter Süchten leiden, weil er deutlich macht, dass Süchtige (und alle anderen auch, aber eben nicht immer mit destruktiven Konsequenzen) jeden Unsinn zu glauben bereit sind.

Kurt Krömer bezeichnet sich als Prominenten und ich habe keine Zweifel, dass er prominent ist, auch wenn er mir bislang nicht bekannt war. Wie alle Medienleute so ist auch er in hohem Masse anerkennungsbedürftig und das ist eine gute Ausgangslage, wenn man süchtig werden will.

Er ist trockener Alkoholiker, seit zehn Jahren. Dann, mit 47, wird er mit einer Depression diagnostiziert. "Ich bin alleinerziehender Vater und so wie es aussieht, war ich mehr als dreissig Jahre depressiv." Eine Aussage, die mich automatisch an Emmanuel Carrère denken lässt, der auch nicht wusste, dass er bipolar ist, bis er damit diagnostiziert wurde.

Geht man so verwirrt und von Gefühlen gebeutelt durchs Leben wie das für halbwegs Sensible normal ist, ist eine Diagnose oft ein willkommener Rettungsanker, jedenfalls sofern es sich um eine behandelbare Krankheit handelt. Und dies war bei Kurt Krömer der Fall.

Er schreibt viel von seinen Ängsten und das zeichnet dieses Buch wesentlich aus. Den meisten fehlt nämlich der Mut, sich ihre Ängste zuzugeben. Sie sind ihnen peinlich, sie schämen sich und haben letztlich, so sie denn genesen wollen, doch keine andere Wahl als sich der Realität zu stellen. Doch der Weg dorthin ist kein gerader: "Ich habe mich wirklich gefragt, ob ich narzisstisch veranlagt oder ein Egomane bin." Na ja, viele psychische Probleme sind Ego-Probleme.

Besonders eindrücklich ist Krömers Schilderung seines Horrors vor einem Klinikaufenthalt. "Vielleicht hatte ich so eine Fünfzigerjahre-Vorstellung von psychiatrischer Klinik im Kopf. Vielleicht hatte ich Angst, dass ich da nicht mehr rauskommen würde. Ausserdem dachte ich ja, wir Künstler brauchen eine Vollmeise, um überhaupt so arbeiten zu können, wie wir arbeiten. Und wenn diese Vollmeise wegtherapiert wird, dachte ich, dann kann ich meine Arbeit nicht mehr ausführen. Also ein Kurt Krömer, der völlig normal ist, ist ja nicht mehr zu gebrauchen. Das wäre das Ende meiner Karriere gewesen."

Wenig überraschend entpuppt sich der Aufenthalt in der Klinik als etwas ganz anderes. Zum einen kommt er mit anderen Depressiven umstandslos ins Gespräch, zum andern lernt er, dass es sowas wie die Ursache einer Depression nicht gibt, sondern sich diese "eher so eingeschlichen" hat, es um Selbstfürsorge und Entschleunigung geht.

"In der Einzeltherapie waren wir bis zu meinem elften Lebensjahr zurückgegangen." Der Mann hat eindeutig ein besseres Gedächtnis als ich; bei mir selber gibt es fast keine Erinnerungen an meine Jugend, geschweige denn an ein bestimmtes Altersjahr. Es schildert seinen Vater als Alkoholiker, der immer alle fertigmachte und fragt sich dann: "Welcher nicht-depressive Mensch kommt auf die Idee, eine Fernsehsendung zu machen, in die man sich nur Leute einlädt, die man nicht leiden kann." Dry drunks, zum Beispiel.

Natürlich hat er die Klinik nicht "als komplett geheilt verlassen." Doch er wird soweit instand gestellt, dass seine "stark blutende Wunde" (ein wunderbar eingängiges Bild) versorgt wurde. Seit er aus der Klinik raus ist, geht er wachsamer durchs Leben. Weil er sich besser kennt und angefangen hat, sich Sorge zu tragen.

"Man kann fast davon sprechen, dass die Depression mir ein Geschenk gemacht hatte, nämlich die Erkenntnis, dass man als Komiker selbstverständlich über tragische Sachen sprechen konnte", notiert er einmal. Mir scheint das zu kurz gegriffen. Meines Erachtens hat ihm die Depression dazu verholfen bzw. ihn gezwungen, sich mit sich selber auseinanderzusetzen. Er hat die Chance genutzt. Bravo!

Kurt Krömer
Du darfst nicht alles glauben, was du denkst
Meine Depression
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022

Mittwoch, 22. Juni 2022

Die Dopamin-Nation

Der Einstieg in dieses Buch ist ausgesprochen gelungen, denn die Autorin tut zweierlei: Sie beschreibt ihren Arbeitsplatz, an dem sie ihre Patienten empfängt. Und sie macht deutlich, dass die Psychiaterin Dr. Anna Lembke und die private Anna Lembke zwei verschiedene Personen sind und getrennt wahrgenommen gehören. 

"Diesem Buch liegt die Absicht zugrunde, die neurowissenschaftlichen Mechanismen der Belohnung zu entschlüsseln und uns dadurch in die Lage zu versetzen, ein besseres und gesünderes Gleichgewicht zwischen Vergnügen und Schmerz zu finden. Aber Neurowissenschaft allein reicht nicht aus. Wir müssen auch auf die gelebten Erfahrungen von Menschen zurückgreifen." Nicht von irgendwelchen Menschen, sondern von Süchtigen, von denen der Philosoph und Theologe Kent Dunnington geschrieben hat: "Menschen, die unter einer schweren Sucht leiden, gehören zu jenen Propheten unserer Zeit, die wir zu unserem eigenen Verderben ignorieren, weil sie uns vor Augen führen, wer wir wirklich sind."

Dopamin ist einer der wichtigsten Neurotransmitter. Substanzen wie etwa Schokolade oder Kokain stimulieren die Dopamin-Ausschüttung und aktivieren das Belohnungssystem unseres Gehirns, das sich an die Belohnung gewöhnt, nach immer mehr verlangt und zur Sucht führen kann. Genuss und Schmerz sind im gleichen Bereich des Gehirns angesiedelt und selbstregulierend, gleichen sich also gegenseitig aus. Es gilt das Prinzip der Homöostase: "die Tendenz eines jeden lebenden Systems ein physiologisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten."

Unter dem Stichwort Dopaminfasten führt die Autorin aus wie das gestörte Gleichgewicht von Süchtigen wieder hergestellt werden kann. Es sind spannende und überaus hilfreiche Ausführungen, die zum Teil auch auf Erstaunliches hinweisen. So bewirkte etwa ein Klinikaufenthalt von vier Wochen, bei dem unter Depressionen leidende Alkoholiker nicht gegen Depressionen behandelt wurden, sondern nur ihren Alkoholkonsum einstellten, dass 80 Prozent nicht mehr die Kriterien für eine klinische Depression erfüllten.

Es ist überaus erfreulich (und ausgesprochen selten), dass die Sucht in einen grösseren Zusammenhang gestellt und grundsätzlich betrachtet wird. Überschriften wie "Die dunkle Seite des Kapitalismus" ("Der Akt des Konsumierens selbst ist zu einer Droge geworden.") und "Das Internet und die soziale Ansteckung" ("Menschen sind soziale Wesen. Wenn wir online sehen, dass andere sich in einer bestimmten Weise verhalten, erscheinen uns die Verhaltensweisen als 'normal', weil andere Menschen sie auch praktizieren.") machen dies deutlich.

Die Herausforderung für den Menschen besteht darin, mit dem Leben klarzukommen. Die Art und Weise wie er das tut ist auch zeit- und kulturabhängig. Heutzutage erwarten wir, dass es gegen jegliches auch noch so milde Unbehagen ein Mittel gibt. Wir fliehen vor dem gegenwärtigen Moment, lenken uns ab, zerstreuen uns. Neil Postman schrieb bereits in den 1980er Jahren (in: Wir amüsieren uns zu Tode), dass die Amerikaner nicht mehr miteinander redeten, sondern sich unterhielten. "Sie tauschen keine Gedanken aus, sie tauschen Bilder aus. Sie argumentieren nicht mit Sätzen; sie argumentieren mit gutem Aussehen, Prominenz und Werbesprüchen."

Es zeichnet dieses Buch ganz besonders aus, dass es nicht die Sucht in den Vordergrund rückt, sondern die dahinter liegenden Ursachen angeht. Wir sind aus dem Gleichgewicht geraten. "Der Grund dafür, dass wir alle so unglücklich sind, könnte darin zu finden sein, dass wir uns so intensiv darum bemühen zu vermeiden, unglücklich zu sein."

Wer eine Sucht langfristig zum Stillstand bringen will, muss ehrlich sein, radikal ehrlich. Ehrlichkeit ist der Schlüssel, heisst es bei den Anonymen Alkoholikern und Anna Lembke teilt diese Auffassung. "Wir sind von klein auf so konstruiert, zu lügen, und wir alle tun es, ob wir es zugeben mögen oder nicht."

Die Dopamin-Nation zeigt anhand vieler Fallbeispiele Schritt für Schritt, was nötig ist, um zu einer nüchternen Sicht auf die Welt zu gelangen. Besonders angesprochen haben mich die eigenständige Art und Weise, wie Dr. Lembke Konzepte, die zwar in aller Munde sind, doch selten verstanden werden, vorstellt. "Wenn ich am Nachthimmel die Milchstrasse betrachte, bin ich jedes mal ganz überwältigt davon, wie geheimnisvoll es ist, dass wir ein Teil von etwas sein können, das so weit weg und so losgelöst von uns erscheint. Achtsamkeit zu praktizieren ist so, wie die Milchstrasse zu betrachten: Es verlangt uns ab, unsere Gedanken und unsere Emotionen als von uns losgelöst und doch als einen Teil von uns zu sehen." Wer das begreift und praktiziert, braucht keine (anderen) Drogen.

Fazit: Nützlich, realistisch und fundiert. Eines der für mich besten Bücher zum Thema Sucht!

Dr. Anna Lembke
Die Dopamin-Nation
Balance finden im Zeitalter des Vergnügens
Unimedica, Kandern 2022

Mittwoch, 15. Juni 2022

Emmanuel Carrère: Yoga

Positiver eingestimmt könnte ich ein Buch kaum angehen, denn ihm ist dieses Zitat aus dem Thomas-Evangelium Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird das, was in dir ist, dich retten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du nicht hervorgebracht haben wirst, dich töten vorangestellt, genau wie meinem Thriller Herolds Rache.

Ich habe einige Werke von Emmanuel Carrère gelesen, mit Gewinn gelesen; geblieben ist mir vor allem ihre Intensität. Er ist ein glänzender Schreiber, dass seine Bücher wesentlich um ihn kreisen, stört mich überhaupt nicht, im Gegenteil, auch wenn es mir manchmal ein wenig zu viel wird. Dazu kommt, dass seine Schonungslosigkeit gelegentlich zudeckt, dass das Leben letztlich ein Geheimnis ist und sein soll.

Von Vipassana hat er in Indien gehört. "Vipassana-Kurse sind das Kampftraining der Meditation." Von Teleportation ebenso. "Teleportation heisst, dass man sich allein Kraft seines Geistes spontan von einem Ort zu einem anderen befördert. Man verschwindet in Madras und taucht im nächsten Augenblick in Bombay wieder auf. Eine Variante davon ist die Bilokation: Bei dieser befindet man sich an zwei Orten gleichzeitig." Selten so gelacht ...

Er begibt sich in ein Meditationszentrum, um den Einfluss seines, wie er schreibt, anstrengenden, despotischen Egos einzudämmen. "Beim Meditieren tut man nichts anderes und soll auch gar nichts anderes tun als beobachten." Und das ist so ziemlich das Schwierigste überhaupt, denn unser Hirn ist antizipierend unterwegs, befindet sich also stets in der Zukunft und damit da, wo der Körper noch gar nicht ist.

"Schriftsteller, die über das schreiben, was ihnen durch den Kopf geht, sind mir die liebsten ...", notiert er (mir geht es übrigens genauso) und beschreibt sich damit so recht eigentlich selber. Seine Überlegungen, Folgerungen und Zweifel sind mannigfaltig und höchst lesenswert, auch wenn es gelegentlich in mir dachte, weniger wäre manchmal mehr gewesen. So nimmt zum Beispiel seine ausführliche Schilderung des Liebesaktes diesem die Magie, macht ihn gleichsam unpersönlich, obwohl er doch genau das nicht gewesen ist. Zudem: Bekenntnisse, die auch andere betreffen, gehören nicht an die Öffentlichkeit.

Emmanuel Carrère teilt in diesem Werk auch ganz viele höchst hilfreiche Einsichten. So meinte Glenn Gould: Das Ziel der Kunst ist nicht, kurzfristig einen Adrenalinschub auszulösen, sondern geduldig ein Leben lang auf einen Zustand der Gelassenheit und des Staunens hinzuwirken. Und Freud definierte Gesundheit als zum Lieben und Arbeiten fähig zu sein sowie als das Zulassen von gemeinem Unglück, jedoch nicht von neurotischem Elend. "Neurotisches Elend ist das, was man sich schrecklicherweise immer wieder selbst erschafft, gemeines Unglück dagegen das, was einem das Leben auf so unterschiedliche wie unvorhersehbare Weise beschert."

Bereichernd fand ich auch den Hinweis auf seinen Freund Hervé Clerc, der als AFP-Journalist in Spanien, den Niederlanden und Pakistan gelebt hat und sich immer bemüht hat, "keine Karriere zu machen, um, wie er sagt, unter dem Radar zu laufen." Kann man dem Samsara entkommen? Klar, meint er, wenn man die Dinge so sieht wie sie wirklich sind.

Ich kann mir kaum jemanden vorstellen, der ein grösseres Bewusstsein seiner selbst hat als Emmanuel Carrère. Er befragt und analysiert sich unaufhörlich, beobachtet genau, was mit ihm und um ihn herum geschieht, erlebt sich intensiv und auch immer mal wieder leicht, trotz seiner Anstrengungen, von denen er nicht abzulassen imstande scheint.

Dann passiert der Angriff auf Charlie Hebdo, bei dem auch ein Bekannter von ihm ermordet wird. Kurz darauf erhält er die Diagnose bipolare Störung. "Es ist bestürzend, mit fast sechzig eine Krankheit diagnostiziert zu bekommen, an der man sein ganzes Leben gelitten hat, ohne dass sie einen Namen hatte."

Er verbringt einige Monate in einer psychiatrischen Klinik, gefolgt von einem Aufenthalt auf den griechischen Inseln, der ihn mit der Flüchtlingskrise konfrontiert. Kann man sich selber entkommen, wenn man sich mit anderen beschäftigt? Das Schicksal junger Afghanen lehrt ihn, dem Standpunkt seiner Eltern recht zu geben, "dem zufolge man in Kriegszeiten nicht genug Freizeit hat, um neurotisch zu sein." 

Yoga, diese Schatztruhe vielfältig anregender und hilfreicher An- und Einsichtenist ein gescheites, aufrichtiges, berührendes und zutiefst wesentliches Buch.

Emmanuel Carrère
Yoga
Matthes & Seitz Berlin 2022

Mittwoch, 8. Juni 2022

Die Magie unserer Sinne

Mir ist bereits nach wenigen Seiten klar, dass ich dieses Buch schätzen werde. Das liegt an den Autoren, die davon berichten, was sie selber nicht wussten, doch bei der Beschäftigung mit den Sinnen entdeckt haben. So waren sie etwa überrascht, "dass Menschen weniger essen, wenn Speisen aromareich und geschmackvoll sind – und dass sie dadurch sogar abnehmen können." Ich bin natürlich genauso überrascht, wie auch über noch vieles andere mehr in diesem aufklärenden Werk.

Als die fünf Klassiker werden Riechen, Schmecken, Hören, Sehen und Tasten bezeichnet. Lange Zeit wurde das Riechen nur in der Nase verortet, mittlerweile weiss man, dass Riechrezeptoren fast überall im Körper vorkommen. Der Ausdruck, jemanden nicht riechen können, ist wohl allen geläufig, doch woran liegt das? Nicht an der Genetik, so die Autoren, sondern an der Erziehung oder den Erfahrungen, die man als Kind gemacht hat. Übrigens: "Die Nase sucht den Partner aus." Und: Der Geruchssinn lässt sich trainieren; Beispiele finden sich in diesem Buch.

Auch Geschmacksrezeptoren finden sich fast überall im Körper. Bitter bedeutet: "Gefahr! Gift! Nicht geniessbar! Auch wenn das natürlich nicht immer zutrifft, macht der Mensch nicht viel falsch, wenn er Bitteres meidet." Es sind nicht zuletzt solche praktischen Hinweise, die Die Magie unserer Sinne auch zu einem nützlichen Ratgeber machen. Übrigens: Neben den Geschmackszellen befinden sich im Mund auch spezielle Nervenfasern, die darauf spezialisiert sind, Schmerz zu empfinden.

Die beiden Autoren zitieren aus zahlreichen Studien, darunter auch: "Ungefähr 80 Prozent dessen, was wir allgemein mit 'Schmecken' bezeichnen, ist eigentlich 'Riechen'". Sie führen als Beispiel die Lebensmittelprüfer an, die ausgiebig an allem schnuppern, bevor sie es in den Mund nehmen. "Dabei schlürfen, schmatzen und schnauben sie, um dem Essen und Trinken feinste Aromen zu entlocken." Vor meinem inneren Auge erschien automatisch ein schnaubendes Pferd ...

Die Magie unserer Sinne ist überaus reich an Informationen, die mich staunen machen. Etwas "dass uns seit Urzeiten das am besten schmeckt, was viele Kalorien hat." Oder dass die Empfindung 'scharf' keine Geschmacksqualität ist und unsere Zunge sie nicht wahrnehmen kann. Oder dass man Schokolade auf der Zunge zergehen lassen sollte. "Wer ein Stück Schokolade gleich zerkaut und runterschluckt, anstatt es zu lutschen, lässt der chemischen Reaktion nicht genügend Zeit und verliert daher viel vom Geschmack, weil sich die Aromen nicht voll entfalten können."

Bewusst geworden ist mir auch, dass ich mir über ganz vieles noch gar nie Gedanken gemacht habe. Etwa darüber, dass Schokolade bei Zimmertemperatur fest und bei Körpertemperatur flüssig wird. Oder dass das Zuhören einen grösseren Anteil an der Kommunikation hat als das Sprechen. Oder "dass liebevolle Berührungen dazu beitragen, dass Partnerschaften Bestand haben und Paare ihr Beziehung als sicherer empfinden."

Spannend auch die Erläuterungen zu den mouches volantes, die ich aus eigener Erfahrung kenne. "Der Glaskörper füllt als grösster Anteil des Auges den Raum zwischen Linse und Netzhaut aus und besteht zu 98 Prozent aus Wasser sowie aus Hyaluronsäure und einem dreidimensionalen stabilisierenden Gerüst aus Fasern. Durch seine durchsichtige, geleeartige Masse kann das Licht ungehindert auf die Netzhaut fallen. Werden wir jedoch älter ('jedoch' ?), verliert der Glaskörper an Spannung, schrumpft ein wenig, das Fasernetz verklumpt und Teilchen davon lösen sich ab."

Neben den fünf klassischen Sinnen, machen die Autoren noch auf fünf Exoten aufmerksam. Ja, haben wir denn jetzt noch mehr als den berühmten sechsten Sinn? Haben wir. Man denke etwa an den Gleichgewichtssinn, ohne den so ziemlich gar nichts geht.

Die Magie unserer Sinne bietet vielfältige Aufklärung über das Funktionieren unseres Körpers bzw. erläutert unseren gegenwärtigen Wissensstand. Vieles ist nämlich noch gar nicht so lange bekannt und noch vieles mehr gänzlich unbekannt, vor allem in Sachen Gehirn.

Fazit: Eine willkommene Horizonterweiterung

Dr. med. Ragnhild Schweitzer
Jan Schweitzer
Die Magie unserer Sinne
Warum wir ohne sie nicht lachen, lieben, leben können
Wie wir sie wiederentdecken und richtig nutzen
Goldmann, München 2022

Mittwoch, 1. Juni 2022

Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein

Armin Falk, geboren 1968, sei Verhaltensökonom, lese ich. Was das wohl ist? Wird jetzt auch noch das Verhalten ökonomisiert bzw. unter wirtschaftlichen Aspekten gesehen? Wikipedia informiert mich, die Verhaltensökonomik befasse sich mit menschlichem Verhalten in wirtschaftlichen Situationen. Verhält sich denn der Mensch anders, wenn es um Wirtschaftliches geht? 

Es gehe ihm in diesem Buch darum, "zu verstehen, welche Mechanismen das Gute behindern. Warum wir mit unseren eigenen Vorstellungen vom richtigen Handeln so oft scheitern. Und was wir dagegen tun können." An Selbstvertrauen fehlt es dem Mann definitiv nicht.

Kein Ökonom, bei dem nicht von Kosten und Nutzen die Rede ist. "Wir wägen das moralisch Wünschbare ab mit den Unannehmlichkeiten und Nachteilen, die mit unseren Handlungen verbunden sind. In diesem Zielkonflikt, so simpel er uns scheinen mag, liegt der Kern des Problems begründet, warum nicht jeder von uns immer ein 'guter Mensch' ist und nicht automatisch den allgemein akzeptierten moralischen Vorstellungen folgt. Schlicht deswegen, weil es teuer ist." Nur eben: Das setzt voraus, dass sich der Mensch tatsächlich vom Kosten/Nutzen-Denken leiten lässt. Das kann man zwar glauben (und die meisten tun es – es wurde ihnen ja auch lange genug eingebläut), wirklich wissen kann man das nicht, denn die Seele ist uns nach wie vor ein Rätsel und weitaus fantasievoller als unser Denken in Vor- und Nachteilen.

Der rational denkende Mensch, der überlegt und abwägt, bevor er sich entscheidet, ist ein Mythos. "... der Verstand ist nicht immer Herr im eigenen Haus. Häufig sind es eben Stimmungen, Erregungslagen und Emotionen, die unser Verhalten leiten, wie die umfangreiche Forschung der letzten 25 Jahre gezeigt hat." Mit Verlaub: Das weiss man auch ohne Forschung, und wusste es bereits vor Freud, der sich vor mehr als hundert Jahren diesbezüglich sehr deutlich geäussert hat.

Armin Falk ist, im Gegensatz zu mir, kein Anhänger des 'sozialen-Intuitionen-Modells', gemäss dem unsere moralischen Urteile automatisch ablaufen. "Das Nachdenken über Moral und ihre kognitive Begründung wird hierbei primär verstanden als eine Expost-Rationalisierung, um das immer schon existierende Urteil vor anderen oder sich selbst rechtfertigen zu können." Die Hirnforschung sieht das übrigens genauso. Falk will das Hirn nicht auf ein Rationalisierungsinstrument reduziert sehen, seine Einwände sind bedenkenswert und ganz besonders sein Rat "Besser drüber schlafen, Runterkommen. Überlegen", bevor man weitreichende Entscheidungen trifft – auch wenn diese dann möglicherweise doch viel unbewusster ablaufen als unserem Selbstbild lieb ist.

Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein führt ganz viele Studien und Untersuchungen an, die interessant und unterhaltsam sind, auch wenn sie meist "nur" bestätigen, was wir eh schon wissen. Etwa: Wie andere uns wahrnehmen, ist uns wichtig. Wie wir uns selber wahrnehmen ebenso. Obwohl: Armin Falk geht darüber hinaus und zeigt unter anderem auf, wie unser Anerkennungsbedürfnis für gute Zwecke eingesetzt werden kann, aber auch wo es zu moralisch zweifelhaftem Verhalten führt. "In solchen Situationen liegt es an uns zu entscheiden, wer wir sein wollen. " Nicht nur in solchen Situationen ...

Armin Falk ist kein Mann der Floskeln, sondern der klaren Worte. Wenn er also davon schreibt, dass Gesellschaften nur funktionieren, wenn ihre Bürger kooperieren. macht er das etwa an der Impfverweigerung fest, die er als "ein unkooperatives, antisoziales und zutiefst eigennütziges Verhalten" bezeichnet. Und er folgert: "Es verdient die gesellschaftliche Ächtung genau wie andere Formen mangelnder Kooperation, sei es Korruption, Schwarzfahren, das Verbreiten von Lügen oder die Verschmutzung der Umwelt."

Wissenschaft ist wesentlich durchs Messen gekennzeichnet. Das Problem der sogenannten Sozial-Wissenschaften liegt unter anderem darin, dass sich ganz vieles nicht wirklich messen lässt. Wenn etwa gefragt wird, ob uns moralisches Verhalten glücklich mache, geht man davon aus, dass glücklich eine Kategorie ist, die für alle dasselbe bedeutet, was, wie jeder weiss, eine ziemlich absurde Annahme ist. Zudem: Auch an die Vernunft appellierende Fragen führen nicht notwendigerweise zu vernünftigen Antworten. "Würden Sie jemanden zum Bürgermeister oder als Abgeordneten wählen, von dem Sie vermuten, dass er korrupt und zuallererst auf den eigenen Vorteil bedacht ist?" Ich nicht, die meisten hingegen schon – ein Blick auf die Weltpolitik genügt.

Vieles in diesem Buch ist nichts anderes als gesunder Menschenverstand, auch wenn man es zum Beispiel Reziprozität nennt, denn es meint nichts anderes als Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Auch die Ratschläge des Autors – Positive Vorbilder schaffen, Andere mir Respekt behandeln, Sich ehrlich machen, Reputationseffekte nutzen etc. – sind den meisten kaum fremd. Wobei: Es ist durchaus sinnvoll, daran zu erinnern – und ganz besonders anhand vieler anregender Forschungen und mit dem wunderbaren Kästner-Zitat: 
Es gibt nichts Gutes, 
Ausser man tut es.

Woody Allen hat einmal gemeint, fast 50 Jahre Therapie hätten bei ihm nichts an seinen grundsätzlichen Problemen geändert, doch habe er ab und zu einen Schubs in die richtige Richtung gekriegt. So ist es mir mit diesem Buch ergangen.

Armin Falk
Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein
... und wie wir das ändern können: Antworten eines Verhaltensökonomen
Siedler, München 2022