Der Einstieg in dieses Buch ist ausgesprochen gelungen, denn die Autorin tut zweierlei: Sie beschreibt ihren Arbeitsplatz, an dem sie ihre Patienten empfängt. Und sie macht deutlich, dass die Psychiaterin Dr. Anna Lembke und die private Anna Lembke zwei verschiedene Personen sind und getrennt wahrgenommen gehören.
"Diesem Buch liegt die Absicht zugrunde, die neurowissenschaftlichen Mechanismen der Belohnung zu entschlüsseln und uns dadurch in die Lage zu versetzen, ein besseres und gesünderes Gleichgewicht zwischen Vergnügen und Schmerz zu finden. Aber Neurowissenschaft allein reicht nicht aus. Wir müssen auch auf die gelebten Erfahrungen von Menschen zurückgreifen." Nicht von irgendwelchen Menschen, sondern von Süchtigen, von denen der Philosoph und Theologe Kent Dunnington geschrieben hat: "Menschen, die unter einer schweren Sucht leiden, gehören zu jenen Propheten unserer Zeit, die wir zu unserem eigenen Verderben ignorieren, weil sie uns vor Augen führen, wer wir wirklich sind."
Dopamin ist einer der wichtigsten Neurotransmitter. Substanzen wie etwa Schokolade oder Kokain stimulieren die Dopamin-Ausschüttung und aktivieren das Belohnungssystem unseres Gehirns, das sich an die Belohnung gewöhnt, nach immer mehr verlangt und zur Sucht führen kann. Genuss und Schmerz sind im gleichen Bereich des Gehirns angesiedelt und selbstregulierend, gleichen sich also gegenseitig aus. Es gilt das Prinzip der Homöostase: "die Tendenz eines jeden lebenden Systems ein physiologisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten."
Unter dem Stichwort Dopaminfasten führt die Autorin aus wie das gestörte Gleichgewicht von Süchtigen wieder hergestellt werden kann. Es sind spannende und überaus hilfreiche Ausführungen, die zum Teil auch auf Erstaunliches hinweisen. So bewirkte etwa ein Klinikaufenthalt von vier Wochen, bei dem unter Depressionen leidende Alkoholiker nicht gegen Depressionen behandelt wurden, sondern nur ihren Alkoholkonsum einstellten, dass 80 Prozent nicht mehr die Kriterien für eine klinische Depression erfüllten.
Es ist überaus erfreulich (und ausgesprochen selten), dass die Sucht in einen grösseren Zusammenhang gestellt und grundsätzlich betrachtet wird. Überschriften wie "Die dunkle Seite des Kapitalismus" ("Der Akt des Konsumierens selbst ist zu einer Droge geworden.") und "Das Internet und die soziale Ansteckung" ("Menschen sind soziale Wesen. Wenn wir online sehen, dass andere sich in einer bestimmten Weise verhalten, erscheinen uns die Verhaltensweisen als 'normal', weil andere Menschen sie auch praktizieren.") machen dies deutlich.
Die Herausforderung für den Menschen besteht darin, mit dem Leben klarzukommen. Die Art und Weise wie er das tut ist auch zeit- und kulturabhängig. Heutzutage erwarten wir, dass es gegen jegliches auch noch so milde Unbehagen ein Mittel gibt. Wir fliehen vor dem gegenwärtigen Moment, lenken uns ab, zerstreuen uns. Neil Postman schrieb bereits in den 1980er Jahren (in: Wir amüsieren uns zu Tode), dass die Amerikaner nicht mehr miteinander redeten, sondern sich unterhielten. "Sie tauschen keine Gedanken aus, sie tauschen Bilder aus. Sie argumentieren nicht mit Sätzen; sie argumentieren mit gutem Aussehen, Prominenz und Werbesprüchen."
Es zeichnet dieses Buch ganz besonders aus, dass es nicht die Sucht in den Vordergrund rückt, sondern die dahinter liegenden Ursachen angeht. Wir sind aus dem Gleichgewicht geraten. "Der Grund dafür, dass wir alle so unglücklich sind, könnte darin zu finden sein, dass wir uns so intensiv darum bemühen zu vermeiden, unglücklich zu sein."
Wer eine Sucht langfristig zum Stillstand bringen will, muss ehrlich sein, radikal ehrlich. Ehrlichkeit ist der Schlüssel, heisst es bei den Anonymen Alkoholikern und Anna Lembke teilt diese Auffassung. "Wir sind von klein auf so konstruiert, zu lügen, und wir alle tun es, ob wir es zugeben mögen oder nicht."
Die Dopamin-Nation zeigt anhand vieler Fallbeispiele Schritt für Schritt, was nötig ist, um zu einer nüchternen Sicht auf die Welt zu gelangen. Besonders angesprochen haben mich die eigenständige Art und Weise, wie Dr. Lembke Konzepte, die zwar in aller Munde sind, doch selten verstanden werden, vorstellt. "Wenn ich am Nachthimmel die Milchstrasse betrachte, bin ich jedes mal ganz überwältigt davon, wie geheimnisvoll es ist, dass wir ein Teil von etwas sein können, das so weit weg und so losgelöst von uns erscheint. Achtsamkeit zu praktizieren ist so, wie die Milchstrasse zu betrachten: Es verlangt uns ab, unsere Gedanken und unsere Emotionen als von uns losgelöst und doch als einen Teil von uns zu sehen." Wer das begreift und praktiziert, braucht keine (anderen) Drogen.
Fazit: Nützlich, realistisch und fundiert. Eines der für mich besten Bücher zum Thema Sucht!
Dr. Anna Lembke
Die Dopamin-Nation
Balance finden im Zeitalter des Vergnügens
Unimedica, Kandern 2022
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