Mittwoch, 9. April 2025

Eine Frau, die trinkt

Das Thema dieses Romans sei "ein bis heute existierendes Tabu: der weibliche Alkoholismus", so der Verlag, der damit wohl den Verkauf anzukurbeln hofft, denn bekanntlich lesen vor allem Frauen. Nur eben: den weiblichen Alkoholismus gibt es nicht, es gibt nur Alkoholismus. Und dieser wird nicht tabuisiert, sondern filmisch und literarisch problematisiert, der vorliegende Text ist fast hundert Jahre alt. Seine Verfasserin starb im Alter von 35 Jahren an Tuberkulose.

Eine Frau, die trinkt will "keinen Charakter freilegen, wo nie einer war, keine Zusammenhänge herstellen, wo nichts zusammenhängt. Es wird lediglich versucht, diese alkoholischen Episoden als aussergewöhnliche Gefühlszustände, eingebettet in ein  Leben", das Leben von Guita, darzustellen.

Guita ist acht und will ein Schmetterlingsnetz. Da ihr Vater auf ihr drängendes Begehren nicht eingeht, steigt sie in den Keller hinab und betrinkt sich mit Rotwein. Mit sechzehn wird sie betrunken von Jacques entjungfert, heiratet ihn, obwohl sie ihn nicht liebt, doch da er sie liebt, ist schliesslich immerhin einer der beiden zufrieden. Und sie, sie fühlt sich frei

Sie betrügt ihn, wird selber betrogen. Sie liebt den Rausch, gibt sich ihm hin. Sie nimmt das Leben spielerisch, vertieft nichts, geht über alles hinweg, ist leichtsinnig und versteht dies zu geniessen. Einerseits. Doch da ist auch die andere Seite, Alkoholabhängigen bestens bekannt als Mister Hyde, dem Pendant zu Doktor Jekyll. Sie versteckt die leeren Flaschen, will sich ihrem
 Mann offenbaren, es bleibt beim Vorsatz und dem heimlichen Entsorgen der Flaschen

Colette Andris (Pseudonym von Pauline Toutey) war 28 als dieser Roman, ihr erster, erschien, der sich vor allem durch die Sprache, den Ton auszeichnet. Als luftig, leicht und unbeschwert, wunderbar lebensfähig wird Guita geschildert. Von heiterer Neugierde angetrieben, sich dem Alkohol ausliefernd, dabei eine sensible Denkerin. "Es ist aussichtslos, dieses Laster (nennen wir die Dinge beim Namen) bekämpfen zu wollen. Besiegt wäre es erst, wenn man die Welt in einen Ort der Freude verwandeln würde."

Doch Guita ist nicht einfach dem Alkohol, sie ist dem Rausch verfallen, und dieser kann sich in vielem zeigen. Im Sex, im Trinken, im Betrügen, im Sammeln von Liebhabern, in der Sehnsucht nach dem Leben ... you name it.

Im Wachzustand nimmt sich der Mensch meist als bewusst handelnder Akteur wahr, im Schlaf hingegen regieren ihn Kräfte, auf die er keinen Einfluss hat. "Sie wird von Bildern bedrängt (aus welchen Untiefen, welchem Nichts mögen sie kommen?), und aus dem Dunkel treten böse, undurchdringliche, gequälte Fratzen hervor. Jene, die sie festhalten will, lösen sich auf und verschwinden; jene aber, die sie ängstigen oder abstossen, setzen sich fest und drängen sich auf, sobald Guita die Augen schliesst – eine teuflische Parade."

Zu den Dingen, die sie ängstigen, gehört der Tod. "Was gäbe sie dafür, an die Unsterblichkeit zu glauben!" Die Nacht bedeutet ihr Grauen, sie fürchtet um ihren Verstand. Als der Morgen endlich kommt, fühlt sie sich erlöst. "Ein neuer Tag ist angebrochen, rein und unverbraucht, und mit ihm die Freude am täglichen Kampf, am Leben, die Freude an allen Dingen."

"Und auch wenn er ins Verderben führt, wird der Alkohol nicht nur verdammt. Er ist hier Weltflucht und Zerstreuung, Sucht und Sinn", schreibt Jan Rhein im Nachwort. Worin der Unterschied von Weltflucht und Zerstreuung liegen könnte, ist mir schleierhaft, da sie doch recht eigentlich (jedenfalls in meinem Verständnis) gleichbedeutend sind. Auch dass der Alkohol in diesem Buch "Sucht und Sinn" sei, kann nur jemand behaupten, der keine Erfahrung mit (und keine Ahnung von) Sucht hat.

Wie Alkohol stimuliert und beflügelt, führt Colette Andris gekonnt und mit leichter Feder vor. Gleichzeitig, und darin liegt die Stärke dieses Buches, macht sie deutlich, dass Guita erst ohne einen Tropfen Alkohol klar sieht. "... keine verzweifelten Tränen, keine oberflächliche Trauer, wie sie die Trunkenheit allzu oft hervorruft. Vielmehr eine heilige, reine Verzückung."

Colette Andris
Eine Frau, die trinkt
Roman
Wagenbach, Berlin 2025

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