Der Einstieg ist ganz wunderbar – die Begeisterung der Medizinethikerin Alena Buyx für ihre Arbeit ist gleichsam mit Händen zu greifen. Man wünschte sich mehr solcher Menschen; mir selber sind aus meiner Studienzeit in der Schweiz, Wales, Australien und Schottland nur gerade zwei Dozenten in Erinnerung, deren Begeisterung ich als ansteckend empfunden habe.
"Die Medizinethik beschäftigt sich mit dem guten und richtigen Handeln in der Medizin. Das kann sowohl die Entwicklung neuer Technologien betreffen als auch die konkrete Versorgung am Krankenbett." Alles klar, denkt es so in mir, doch kurz darauf stocke ich dann bei diesem Satz: "Es geht um Argumente und es geht um Gründe und Begründungen." In der Jurisprudenz ist das auch so, ja, so recht eigentlich ist das in allen akademischen Disziplinen so. Weshalb habe ich also gestockt? Weil ich es jetzt im Alter eigenartig finde, dass das moralisch Gesollte, Erlaubte und Zulässige von Argumenten und Begründungen abhängen soll. Ich weiss, ich weiss, so funktionieren wir nun einmal, sonderbar finde ich gleichwohl, dass "das Richtige" von einem guten oder besseren Argument entschieden wird. Doch zugegeben, das wäre eine andere Geschichte ...
Die leitenden medizinethischen Prinzipien sind: Das Prinzip des Respekts vor Selbstbestimmung von Patienten, das Prinzip des Nichtschadens, das Prinzip der Fürsorge/des Wohltuns, das Prinzip der Gerechtigkeit. Natürlich kommen da auch die Juristen ins Spiel ... und das ist ein Problem (das in diesem Buch allerdings nicht zur Sprache kommt), denn die Juristerei ist hauptsächlich ein Geschäftsmodell, weshalb sie denn auch ein Interesse daran hat, die Dinge zu verkomplizieren, sonst könnte schliesslich jeder und jede mitreden – und aus wär's mit dem Geschäft. Alena Buyx hingegen bezieht die Leser und Leserinnen mit ein, fordert sie auf, sich eigene Gedanken zu machen.
Leben & Sterben ist ein gutes und anregendes Buch. Ich will das an drei Beispielen erläutern bzw. ausführen, was diese bei mir ausgelöst haben.
Beispiel 1: Zwei frühgeborene Zwillinge, Tim und Mark. Mark entwickelt sich gut, Tim hingegen musste bereits dreimal reanimiert werden und erlitt zwei Gehirnblutungen. Die Eltern, beides Ärzte, wollen, dass die lebenserhaltende Behandlung bei Tim eingestellt wird. Tims Vater: "Was sie hier noch mit ihm machen, ist doch Quälerei, das bringt doch nichts! Und was er dann vor sich hat, das ist doch kein Leben. Ausserdem entscheiden immer noch wir, die Eltern, was sie mit unserem Kind machen dürfen und was nicht."
Meine gleichsam automatische Reaktion darauf: Der Mann hat Recht. Und fast gleichzeitig denkt es in mir: Eltern, die ihre Kinder als ihnen gehörig, also als Besitz bzw. Eigentum betrachten, sind nicht richtig bei Trost. Dazu kommt: Wer sich von angstgeplagten Vorstellungen leiten lässt, unterschätzt die Resilienz des Menschen, dessen Biologie ihm zu leben vorgibt.
Das medizinische Team sieht die Lage anders als die Eltern, auch natürlich, weil es emotional distanziert bzw. nicht so nahe dran ist. Für das Team hat Tims Wohlergehen Priorität, müssen die Rechte der Eltern hintanstehen. Aus diesem Grundsatzentscheid ergibt sich alles Weitere. Es folgen viele Gespräche mit den Eltern, die schliesslich einwilligen, Tim leben zu lassen.
Und so ist die Lage heute. "Tim hat einen schweren Sehfehler und trägt, seit er zwei Jahre alt ist, eine dicke Brille. Er ist sehr klein und zart gewachsen und wird wohl immer deutlich kleiner sein als Gleichaltrige und auch als Erwachsener vermutlich die 1.60 nicht erreichen. Abgesehen davon ist Tim gesund und munter, geht in die dritte Klasse der Grundschule, ist klug und witzig und ein beliebtes sonniges Kind. Ein gutes Leben." Soweit Alena Buyx, die sehr wohl weiss, dass es auch ganz anders hätte ausgehen können.
Gefragt habe ich mich, wie Tim und seine Eltern das heute sehen? Denn die Frage ist ja nach wie vor: Was ist eigentlich, ein lebenswertes Leben? Als ich einmal einem brasilianischen Neurochirurgen sagte, ein Leben im Rollstuhl hielte ich für mich nicht für lebenswert, erzählte er mir von einem Patienten, der genau dasselbe gesagt habe, dann im Rollstuhl gelandet sei – und sein Leben wider Erwarten lebenswert gefunden habe.
Beispiel 2: Zu Beginn ihrer Hauptvorlesung fragt Alena Buyx ihre Studenten jeweils, wie sie sich ihren eigenen Tod vorstellten. Die Antworten gehen von im eigenen Bett einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen bis zu umringt von seinen Liebsten friedlich einzuschlafen. Sterben auf der Intensivstation oder im Altenpflegeheim, wo 70 Prozent sterben, schwebt so recht eigentlich niemandem vor. Nichts könnte deutlicher zeigen, in was für Illusionen wir Menschen unser Leben verbringen. Leben & Sterben bietet Gegensteuer.
Beispiel 3: Aktive Sterbehilfe ist in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg seit einigen Jahren nicht mit Strafe bedroht, in Deutschland schon. Die Argumente für und wider sind differenziert und intelligent; den Ausschlag gibt das eigene Menschenbild. Wer davon ausgeht, dass der Mensch weiss, was er tut, wird wohl für Selbstbestimmung plädieren (offenbar gehen auch die Gerichte zunehmend in diese Richtung, was natürlich mit dem juristischen Menschenbild zu tun hat, gemäss dem der Mensch einen freien Willen haben muss). Wer hingegen das Leben als Schicksal begreift (also nicht davon ausgeht, dass er oder sie Kontrolle über das Leben hat), sieht das naturgemäss anders. Wer versteht, dass Entweder/Oder die Realität nicht abbilden kann, kommt möglicherweise zu Alena Buyxs schöner und lebensgerechter Schlussfolgerung: "Ich würde also zusammenfassend, die prinzipielle ethische Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe bejahen, aber ich plädiere nicht dafür, sie einzuführen."
Leben & Sterben ist ein vielfältig überzeugendes und höchst anregendes Buch, das die Auseinandersetzung lohnt. Einerseits, weil die Autorin nicht mit ihrer Meinung zurückhält, aber eben auch darlegt, wie sie dazu gekommen ist. Andererseits, weil das kein theoretisches (und damit unverbindliches) Werk ist, sondern Lebensfragen (anhand konkreter Fallbeispiele) auf ihre ethische Tauglichkeit (die Würde des Menschen ist unantastbar) prüft.
Alena Buyx
Leben & Sterben
Die grossen Fragen ethisch entscheiden
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025
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