Mittwoch, 30. April 2025

On Gratitude

 "To be grateful for the good things that happen in our lives is easy, but to be grateful for all of our lives - the good as well as the bad, the moments of joy as well as the moments of sorrow, the successes as well as the failures, the rewards as well as the rejections - that requires hard spiritual work. Still we are only truly grateful people when we say thank you to all that has brought us to the present moment. As long as we keep dividing our lives between events and people we would like to remember and those we would rather forget, we cannot claim the fullness of our beings as a gift of God to be grateful for. Let us not be afraid to look at everything that has brought us to where we are now and trust that we will soon see in it the guiding hand of a loving God."

Henri Nouwen

Sonntag, 27. April 2025

Wieder werden

Wir rennen durchs Leben, unser antizipatorisch angelegtes Hirn treibt uns voran. Entschleunigen ist uns fremd, es sei denn, wir werden dazu gezwungen. Die Ärztin Magdalena Gössling wurde dazu gezwungen, durch einen Schlaganfall im Alter von 32, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Sie muss sich (neben vielem anderen) auch daran gewöhnen, sehr langsam zu schreiben, was zur Folge hat: "Ich lerne, genauer hinzuschauen."

Detailliert beschreibt sie, wie sie ihren Schlaganfall erlebt, ohne anfänglich zu begreifen, dass es einer ist. "Mein Gehirn war längst ein anderes, es hatte mich verändert, und nichts war mehr wie gewohnt." Sie ist nicht mehr Ärztin, sondern Patientin; ihr Körper gehorcht ihren Gedanken nicht mehr.

Sie wird auf die Charité verlegt, kriegt Besuch von ihrem Partner, einem Neurologen, der Mutter (Krankenpflegerin von Beruf), mit der sie sich auch über die logopädische und ergotherapeutische Behandlung austauschen kann. Selber Patientin sein, lässt sie auch über ihr eigenes Verhalten als Ärztin reflektieren. Sensibel registriert sie, wie wichtig ihr echte menschliche Anteilnahme ist. Und auch ihre Wertvorstellungen erfahren eine Neuausrichtung. "Den Selbstwert nicht an Schnelligkeit und Leistung zu binden, ist für mich immer noch ein Lernprozess. Was es bedeutet, in einer auf Leistung, Umsatz und Wachstum getrimmten Welt schwer zu erkranken, das konnte ich vor meinem Schlaganfall nicht ermessen."

Sie kriegt alles mit, ist geistig da, doch sprechen kann sie nicht, sich mit Worten zu verständigen geht nicht. Eine Freundin besucht sie, der Bruder, die Schwester kommen vorbei, der Vater liest ihr vor. Selber lesen ermüdet sie und so schaut sie fern, bleibt bei Germany's Top Model hängen. "Es ist mir peinlich, dass ich solche Shows gucke. Ich weiss, dass sie hirnlos sind. Und ich will unbedingt zeigen, dass ich Hirn habe." Ihren Humor hat sie nicht verloren! Er zeigt sich auch in der Schilderung der grossen Visite nach der gelungenen Operation, bei der die Ärzte vor allem sich selber beglückwünschen.

"Ich habe überlebt. Jetzt kommt die Fleissarbeit. Ich muss Fuss fassen, weiter kämpfen", notiert sie. Bewegungs- und Sprachübungen, es ist anstrengend. Als sie das Schreiben übt, bemerkt sie, dass schon ein einzelner Buchstabe den Sinn verschiebt. "Ich schreibe Freude statt Freunde, Schmerz statt Scherz, Wut statt Mut." Was auch immer der Grund dafür sein mag (wenn es denn überhaupt einen Grund dafür gibt), dass Buchstaben Gefühle ausdrücken können, ist ein Wunder, das sich auch darin zeigt, dass unsere Erklärungen dafür recht dürftig wirken.

Dann kommt die Reha, Grad der Behinderung: fünfzig. Die Tage sind durchgetaktet; sie ist ehrgeizig, macht Fortschritte, und verzweifelt dennoch fast, denn sie vergleicht sich mit dem Vorher und dem Jetzt, doch der Schlaganfall hat sie im Kern erschüttert. "Motorisches Geschick, Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität – alles ist vernichtend getroffen." Hält man sich die Schwierigkeiten vor Augen, welches das  Lesen auf ein mühsames Entziffern von Wörtern reduziert, lässt einen mehr als nur staunen, dass sie dieses Buch schreiben konnte.

Ihre Tochter kommt zur Welt, kurze Zeit später erleidet sie selber einen epileptischen Anfall. Magdalena Gössling bleibt wirklich nichts erspart, denkt es so in mir. Gleichzeitig beeindruckt mich ihr Lebenswille, ihre Kämpfernatur, ihre pragmatische Art mit dem, was ihr zustösst, umzugehen. Sie will wieder in ihren Beruf, die Handchirurgie, zurück – ermutigt wird sie nicht. Nur schon das hätte wohl viele in die Verzweiflung getrieben.

"Suche nach einem neuen Ich" ist ein Kapitel überschrieben. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Doch sie weiss auch, dass sie loslassen muss. Dieses Wissen hilft nicht, es steht ihr im Weg. Ihre Widerstände sind mannigfaltig, ihre Aufrichtigkeit eindrücklich. Auch als sie dauerhafte Berufsunfähigkeit attestiert bekommt, gibt sie nicht auf. "Ich habe Launen, Gefühlsausbrüche, vor denen ich mich ekle und die mich beschämen." Als sie sich nach Monaten bewusst anderen Dingen zuwendet, beginnt sie, ihr Leben neu zu gestalten. Es ist ihre Auseinandersetzung mit Sprache, die ihr allmählich die Welt des Schreibens eröffnet. Aus der Handchirurgin wird eine Autorin.

"Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick." Dieses Zitat von Joan Didion, das treffender kaum illustrieren könnte, was wohl die Wenigsten auf dem Radar haben, hat Magdalena Gössling ihrem Erlebnisbericht vorangestellt, der dokumentiert, dass und wie wir unserem Schicksal ausgeliefert sind. Sie lernt zu akzeptieren, was sie nicht ändern kann, und bemüht sich, zu ändern, was sie zu ändern vermag. Sie lernt ihre Energie auf ein neues Leben zu richten. So recht eigentlich hat sie ihrem ersten Leben ein zweites hinzugefügt; ein Leben, das sie erst zu entdecken begann, als sie bereit dazu war, ihr erstes hinter sich zu lassen.

Wieder werden ist weit mehr als die berührende Schicksalsgeschichte einer Kämpferin, es ist auch eine selbstkritische und sensible Meditation darüber, dass nichts im Leben selbstverständlich ist. Und nichts garantiert ist. Wer weiss schon, was noch alles kommen wird?

Magdalena Gössling
Wieder werden
Eine Geschichte über Verlust und Erneuerung
Rowohlt Polaris, Hamburg 2025

Mittwoch, 23. April 2025

On Freedom

 When a cow decides to stop nursing her calf, she isn't rejecting it. She knows it's time for the calf to be on its own. Although the calf might feel rejected and puzzled at first, it soon adapts to its new independence and freedom.

When we feel rejected, it's useful to remember that whatever has caused us to feel this way might have nothing to do with us. It might be a reflection of what's happening with someone else, or just the end of a natural stage in life, as with the calf.

When we understand that others' actions toward us come from their own feelings, and that we don't cause their feelings any more than they control ours, we can free ourselves from a little bit of fear and self-hate. We can see what seems to be rejection as an open door, with our freedom on the other side.

Sonntag, 20. April 2025

Keine Zeit verlieren

Die 2018 verstorbene Science-Fiction Autorin Ursula K. Le Guin (geboren 1929) erhielt für diese Essaysammlung posthum den PEN/Diamonstein-Spielvogel Award for the Art of the Essay. Der erste dieser Essays handelt von einem Fragebogen der Universität Harvard, in dem sie unter anderem gefragt wird, ob sie ihre geheimen Wünsche auslebe (sie hat keine), und womit sie ihre Freizeit verbringe (die Auflistung beginnt mit Golf). "Ich bin ein freier Mensch, aber freie Zeit habe ich nicht. Meine Zeit ist komplett aufgefüllt mit  ...", notiert die Achtzigjährige; ihre Tätigkeiten füllen eine halbe Buchseite.

Seit sie alt sei, halte sie nichts mehr von dem Sprichwort "Man ist so jung, wie man sich fühlt". Auch mit dem Spruch "Das Alter ist nichts für Weicheier" kann sie nichts anfangen; sie findet ihn fürchterlich. Sie hat nichts gegen Sprüche, doch sie zieht ihren eigenen vor. "Das Alter ist nichts für die Jungen."

Diese Essays sind ein Genuss. Und sie sind hilfreich. Was daran liegt, dass hier eine no-nonsense-Frau schreibt, die klar zu denken versteht. Voraussetzung dafür ist ein nüchterner Blick auf die Dinge, so wie sie sind. "Die Amerikaner glauben fest ans positive Denken. Positives Denken ist grossartig. Es funktioniert am besten, wenn es auf einer realistischen Einschätzung und auf der Akzeptanz der tatsächlichen Lage basiert. Positives Denken auf der Grundlage von Verleugnung ist wohl eher weniger grossartig."

Treffend und erfrischend auch Ursula K. Le Guins Ausführungen zur Kunst. "Kunst machen heisst nicht, sie zu erklären. Kunst ist, was ein Künstler schafft – nicht, was ein Künstler dazu erklärt." Kunsthistoriker, Kuratorinnen und alle anderen, die vom Erklären leben, werden das womöglich anders sehen, weshalb denn auch die Autorin lustvoll nachdoppelt. "Für mich ist die Aufgabe einer Töpferin, einen guten Topf herzustellen, nicht darüber Auskunft zu geben, wie und wo und warum sie ihn angefertigt hat und wofür er aus ihrer Sicht verwendet werden soll und welche anderen Töpfe ihn beeinflusst haben und was der Topf bedeutet und wie man den Topf erfahren soll." Herrlich!

Auch über die Vorstellung des Grossen Amerikanischen Romans lässt sie sich aus, und vermisst auf der gängigen Liste neben Onkel Toms Hütte auch Früchte des Zorns, von dessen Autor, John Steinbeck, ich gerade vor ein paar Wochen The Pearl gelesen und in bester Erinnerung habe. Schon eigenartig, wie Dinge zusammenzuhängen scheinen, war doch The Pearl mein erstes Steinbeck-Buch. Glaubte ich. Ein Blick ins Buchregal belehrte mich dann eines besseren, denn da standen zwei weitere Steinbeck-Bücher, eines ganz offensichtlich gelesen, das andere nicht. Keine Zeit verlieren bewirkt nun, dass ich mir die beiden, die ich überhaupt nicht auf dem Radar hatte, jetzt vornehme.

Bücher können auch zur Bewusstseinsbildung beitragen und Keine Zeit verlieren tut das ganz unbedingt. So macht mich Ursula K. Le Guin auch auf Homer aufmerksam. Ihre Version der Illias sowie der Odyssee sprechen mich weit mehr an als die Originale. Zustimmend zitiert sie den in London lebenden, pakistanischen Autor Moshin Hamid: "Wie seltsam wäre es, Homers Illias oder Rumis Masnavi als "die Grosse Dichtung aus dem östlichen Mittelmeerraum" zu bezeichnen. Soviel zum Grossen Amerikanischen Roman.

Höchst aufschlussreich auch ihre Ausführungen zu Fantasy, die nicht etwa sagt: Alles ist möglich, sondern: Es muss nicht so sein, wie es ist. Und das meint: Die Gesetze der Kausalität gelten auch in der Fantasy, sonst wäre der Leser oder Hörer der Geschichte orientierungslos. "Fantasy hat nichts an sich, vor dem man sich fürchten muss, es sei denn, man hat Angst vor der Freiheit, die in der Ungewissheit liegt." Man sollte diesen Satz nicht überlesen, man sollte bei ihm verweilen, und bedenken, was er alles impliziert, denn Freiheit und Ungewissheit gehören zusammen.

Ursula K. Le Guin zu lesen, ist überaus bereichernd, denn diese Frau ist nicht nur eine eigenständige, sondern auch eine originelle Denkerin mit einem überaus breiten Horizont, Vor allem regt sie an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Kants Aufforderung, man soll den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes bedienen, wird in diesem Buch auf eine Art und Weise praktiziert, dass es eine wahre Freude ist.

Keine Zeit verlieren ist weit mehr als ein Buch übers Alter, es ist eine gescheite und praktische Lebensanleitung einer hoch-reflektierten Frau mit viel common sense (der so recht eigentlich alles andere als common ist) und mit viel Humor.

Fazit: Erhellend, lustig, philosophisch und überaus nützlich!

Ursula K. Le Guin
Keine Zeit verlieren
Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen
Golkonda Verlag, München 2025

Mittwoch, 16. April 2025

Aufbruch

.Es sei gleich vorweggenommen: Aufbruch. Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt liest sich mit Genuss und Gewinn. Das liegt daran, dass der routinierte Sachbuchautor Stefan Klein viele aufschlussreiche Forschungsergebnisse zusammengetragen hat und diese anregend zu präsentieren weiss. Dabei entbehrt es nicht der Ironie, dass er sehr konventionell vorgeht, also an die Kraft des plausiblen Arguments glaubt. So verständlich dies auch ist: Es ist unser Festhalten am Gewohnten bzw. an unserer Art zu denken, was der Veränderung entgegensteht. Viele Veränderungen geschehen nämlich einfach so, manchmal auch gegen unseren Willen, und nicht wenige überraschen uns.

Der Mensch will sich nicht ändern, ja mehr, er lebt in Illusionen. Das liegt an unserem Hirn. "Das Gehirn ist eine Illusionsmaschine, und die voraussagende Codierung ist die Mutter aller Illusionen." Mit anderen Worten: Unser Verstand geht nicht von Fakten, sondern von Prognosen aus. Es sind unsere Erwartungshaltungen, die unser Verhältnis zur Welt bestimmen. Und es ist unser Festhalten an dem, was wir kennen. Davon handelt der grösste (und sehr überzeugende) Teil dieses Buches, das unter anderem auch klar macht, dass wir bei weitem nicht so rational unterwegs sind, wie wir das gerne annehmen. Nun irrt der Mensch bekanntlich, solang er strebt, und ganz besonders in Sachen Willen und Einsichten. Letztere, sofern sie unser Herz nicht erreichen bzw. nicht ins Handeln überführt werden, bleiben so recht eigentlich toter Buchstabe.

Als einer, der selber destruktive Gewohnheiten bzw. Süchte zum Stillstand bringen konnte (seit 35 Jahren ohne Alkohol, seit knapp 29 Jahren ohne Nikotin) bin ich mit der Tatsache, dass sich der Mensch nicht ändern will, bestens vertraut (Wie geht das eigentlich, das Leben?). Und staune immer wieder, wie viele Menschen das überhaupt nicht so sehen. Nicht zuletzt deswegen finde ich das vorliegende Buch ausgesprochen hilfreich, denn es macht an ganz vielen Beispielen deutlich, dass unser grösstes Talent im Selbstbetrug besteht.

"Auch muss man bedenken, dass kein Vorhaben schwieriger in der Ausführung, unsicherer hinsichtlich seines Erfolges und gefährlicher bei seiner Verwirklichung ist, als eine neue Ordnung einzuführen; denn wer Neuerungen einführen will, hat alle zu Feinden, die aus der alten Ordnung Nutzen ziehen, und hat nur lasche Verteidiger an all denen, die von der neuen Ordnung Vorteile hätten", wird Machiavelli zitiert. Stefan Klein illustriert dies anhand der Coca-Cola-Company, die 1985 versuchte, das alte Coca-Cola durch ein neues, das bei Blindtests obenaus schwang, zu ersetzen – und spektakulär scheiterte.

Zu dem für mich Verblüffendsten gehören die Untersuchungen des Wirtschaftsnobelpreisträgers Richard Thaler, der seine Studierenden wählen liess, "ob sie für eine kleine Aufgabe lieber eine Stange Toblerone oder einen Kaffeebecher als Belohnung wollten. Danach erhielten die Teilnehmenden zufällig eines der beiden Objekte und die Möglichkeit, untereinander zu tauschen. Doch kaum jemand nutzte diese Option. Wer den Kaffeebecher hatte, behielt ihn, und wer Schokolade bekommen hatte, obwohl er den Becher gewählt hatte, behielt diese ebenfalls." Was lehrt uns das? Was man einmal hat, gibt man nicht so leicht wieder her. Das ist nicht nur bei Dingen so, das ist auch bei Meinungen so. 

Aufbruch. Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt macht einen auf ganz Unterschiedliches aufmerksam. So lerne ich etwa vom Physiker Max Planck: "Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben." Zu Recht folgert Stefan Klein, dass dieses Prinzip sich nicht allein auf die Wissenschaft bezieht. "Je jünger eine Person, umso eher passt sie sich neuen Tatsachen an."

Am Beispiel des Arztes Ignaz Semmelweis, der das Kindbettfieber zum Verschwinden brachte, indem er seine Ärzte anhielt, sich vor jeder Untersuchung die Hände mit Chlorlösung zu waschen, legt Stefan Klein eindrücklich dar, dass Wissen nicht notwendigerweise Macht bedeutet, denn Semmelweis wurde nicht gelobt, sondern angefeindet. Wie so recht eigentlich immer: Priorität hat die Stabilität des herrschenden Systems. So verständlich das ist (der Mensch ist verloren im Universum und braucht Halt), so lebensfeindlich wirkt es sich aus, denn die Unsicherheit gehört zum Leben, sie kann nicht ausgerottet werden. Wir versuchen es trotzdem ...

Doch Veränderungen, die gibt es. Ein Blick in die Geschichte genügt. Damit Veränderungen möglich werden, müssen wir Erfahrungen machen. Und dies ist in der heutigen Zeit kein geringes Problem, da wir  uns immer mehr digital informieren, doch die Medien uns keine Erfahrung vermitteln. 

Stefan Klein berichtet auch von Möglichkeiten, den Handykonsum mittels einer App, die den Start von WhatsApp und Co. verzögert, einzudämmen. Und von der Hoffnung und den Erfolgen der kleinen Schritte; zudem argumentiert er für eine Kultur der Veränderung, die auf Motivation und Information setzt. Den Analyse-Teil fand ich entschieden motivierender, doch dieses Zitat von Antoine de Saint-Exupéry, das dem letzten Kapitel vorangestellt ist, zeigt die Richtung sehr schön an. "Ein Schiff zu erschaffen heisst nicht, Leinen zu weben, Nägel zu schmieden oder die Sterne zu lesen, sondern den Menschen die Sehnsucht nach dem Meer vermitteln."

"Sein Leben zu ändern heisst daher, neue Gewohnheiten anzunehmen." Schon, denkt es dann so in uns, doch das ist schwierig. Ist es nicht, im Gegenteil, es ist einfach, man muss es nur tun, meint der Autor. Und genauso isses! Jedenfalls war es bei mir so. Weshalb, weiss ich nicht wirklich  (meine Rationalisierungen haben sich im Laufe der Jahre gewandelt). Heutzutage scheint mir, ich hatte schlicht genug, wehrte mich nicht mehr gegen die Veränderung, war bereit, das Alte zu lassen. Wie sagte doch Horatio in Hamlet: "The readiness is all."

Stefan Klein
Aufbruch
Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025

Sonntag, 13. April 2025

Zehn Tage Schweigen

Die Beziehung von Adam und Evelyn war einst besser, viel besser. Und das soll sie auch wieder werden. Evelyn wird aktiv und meldet Adam zu einem Vipassana-Retreat an, wo er zehn Tage lang meditieren soll. Er willigt ein, da er hofft, dass anschliessend ihre Beziehung wieder so sein wird, wie sie es eins gewesen ist.

Engländer sind bekannt für ihren oft ironischen Umgang mit Allem und Jedem, und Adam Fletcher trägt ganz besonders dick auf. Zu dick, für meinen Geschmack, und das ermüdet bei einem Buch von rund 250 Seiten. Andererseits ist ein Vipassana-Retreat mit Ironie anzugehen eine ungewöhnliche und durchaus  hilfreiche Idee, denn bekanntlich führt zu viel Ernsthaftigkeit in aller Regel zu Überheblichkeit. Und da diese leicht eintreten kann, wenn man sich auf die Suche nach der Erleuchtung begibt, wirkt Ironie auch als nützliches Korrektiv.

Bei der Meditation geht es darum, im Hier und Jetzt zu sein. Die Methode, die Adam anzuwenden hat, ist das Ein- und Ausatmen. Da unser Hirn davon nichts wissen will (es rennt dauernd davon, in die Vergangenheit, die Zukunft, nach links und rechts, von keiner Geografie begrenzt), mag das einfach klingen. "Was natürlich nicht dasselbe ist wie leicht."

So recht eigentlich möchte Adam nicht in diesem Retreat sein, "in dieser moralisch selbstgerechten Umgebung." Er beschreibt nicht nur, wohin seine Gedanken wandern, sondern räumtt auch dem, was er mag, und was er nicht mag, viel Platz ein. "Es muss jetzt eine Stunde sein, oder? War das der Gong? War nicht der Gong. Komisch, dauert schon so lange. Ja, es wird definitiv Zeit ...". Keine Frage, man kann es ihm nachfühlen, doch andererseits ist es aber eben auch so, dass das Aufschreiben/Festhalten der Gedanken, das genaue Gegenteil dessen ist, worauf es bei der Meditation ankommt.

Das Problem sei sein unruhiger Geist, lernt er, obwohl er das ganz anders sieht und befindet: "Der menschliche Geist ist eine sinnstiftende Maschine." Kein Wunder, will er davon nicht lassen. "Wenn du zwölf Stunden am Tag bloss sitzt und dich auf den Atem konzentrierst, hat dieses Sinnstiftungsmaschine nichts zu tun." Mit anderen Worten: Die vertraute Welt gerät aus den Fugen, das will man nicht und so wehrt man sich.

Parallel zu seinen Meditationsanstrengungen berichtet Adam von Evelyns Bemühungen, schwanger zu werden, die auch nach einem Jahr zu keinem positiven Resultat geführt haben, trotz der Anstrengungen der beiden. Am Vormittag des vierten Meditationstages kann er dann nur noch an Sex denken.

So sehr er auch mit dem Meditieren hadert (einmal versucht er sogar, aus dem Retreat abzuhauen), er schafft die zehn Tage ("eine echte mentale Prüfung"), und ist zu Recht "wahnsinnig stolz" auf sich. "Es war ein Fehler von Evelyn gewesen, mich hierherzuschicken, auch wenn sie die richtigen Gründe dafür gehabt hatte. Aber man kann auch durch falsche Entscheidungen zu den richtigen Antworten gelangen." Es sind solch wahre Sätze, die mich Bücher lesen lassen.

Adam Fletcher ist ein begabter Geschichtenerzähler mit einem Hang zum Originellen, bei dem allerdings das Anregende und Lehrreiche, Sensible und Gescheite manchmal Gefahr läuft unterzugehen. Zum Glück geschieht das dann doch nicht.

Adam Fletcher
In der Ruhe liegt der Wahnsinn
Wie ich in einem 10-tägigen Schweige-Retreat meinen Verstand verlor, aber mein Glück und alles andere fand.
C.H. Beck, München 2025

Mittwoch, 9. April 2025

Eine Frau, die trinkt

Das Thema dieses Romans sei "ein bis heute existierendes Tabu: der weibliche Alkoholismus", so der Verlag, der damit wohl den Verkauf anzukurbeln hofft, denn bekanntlich lesen vor allem Frauen. Nur eben: den weiblichen Alkoholismus gibt es nicht, es gibt nur Alkoholismus. Und dieser wird nicht tabuisiert, sondern filmisch und literarisch problematisiert, der vorliegende Text ist fast hundert Jahre alt. Seine Verfasserin starb im Alter von 35 Jahren an Tuberkulose.

Eine Frau, die trinkt will "keinen Charakter freilegen, wo nie einer war, keine Zusammenhänge herstellen, wo nichts zusammenhängt. Es wird lediglich versucht, diese alkoholischen Episoden als aussergewöhnliche Gefühlszustände, eingebettet in ein  Leben", das Leben von Guita, darzustellen.

Guita ist acht und will ein Schmetterlingsnetz. Da ihr Vater auf ihr drängendes Begehren nicht eingeht, steigt sie in den Keller hinab und betrinkt sich mit Rotwein. Mit sechzehn wird sie betrunken von Jacques entjungfert, heiratet ihn, obwohl sie ihn nicht liebt, doch da er sie liebt, ist schliesslich immerhin einer der beiden zufrieden. Und sie, sie fühlt sich frei

Sie betrügt ihn, wird selber betrogen. Sie liebt den Rausch, gibt sich ihm hin. Sie nimmt das Leben spielerisch, vertieft nichts, geht über alles hinweg, ist leichtsinnig und versteht dies zu geniessen. Einerseits. Doch da ist auch die andere Seite, Alkoholabhängigen bestens bekannt als Mister Hyde, dem Pendant zu Doktor Jekyll. Sie versteckt die leeren Flaschen, will sich ihrem
 Mann offenbaren, es bleibt beim Vorsatz und dem heimlichen Entsorgen der Flaschen

Colette Andris (Pseudonym von Pauline Toutey) war 28 als dieser Roman, ihr erster, erschien, der sich vor allem durch die Sprache, den Ton auszeichnet. Als luftig, leicht und unbeschwert, wunderbar lebensfähig wird Guita geschildert. Von heiterer Neugierde angetrieben, sich dem Alkohol ausliefernd, dabei eine sensible Denkerin. "Es ist aussichtslos, dieses Laster (nennen wir die Dinge beim Namen) bekämpfen zu wollen. Besiegt wäre es erst, wenn man die Welt in einen Ort der Freude verwandeln würde."

Doch Guita ist nicht einfach dem Alkohol, sie ist dem Rausch verfallen, und dieser kann sich in vielem zeigen. Im Sex, im Trinken, im Betrügen, im Sammeln von Liebhabern, in der Sehnsucht nach dem Leben ... you name it.

Im Wachzustand nimmt sich der Mensch meist als bewusst handelnder Akteur wahr, im Schlaf hingegen regieren ihn Kräfte, auf die er keinen Einfluss hat. "Sie wird von Bildern bedrängt (aus welchen Untiefen, welchem Nichts mögen sie kommen?), und aus dem Dunkel treten böse, undurchdringliche, gequälte Fratzen hervor. Jene, die sie festhalten will, lösen sich auf und verschwinden; jene aber, die sie ängstigen oder abstossen, setzen sich fest und drängen sich auf, sobald Guita die Augen schliesst – eine teuflische Parade."

Zu den Dingen, die sie ängstigen, gehört der Tod. "Was gäbe sie dafür, an die Unsterblichkeit zu glauben!" Die Nacht bedeutet ihr Grauen, sie fürchtet um ihren Verstand. Als der Morgen endlich kommt, fühlt sie sich erlöst. "Ein neuer Tag ist angebrochen, rein und unverbraucht, und mit ihm die Freude am täglichen Kampf, am Leben, die Freude an allen Dingen."

"Und auch wenn er ins Verderben führt, wird der Alkohol nicht nur verdammt. Er ist hier Weltflucht und Zerstreuung, Sucht und Sinn", schreibt Jan Rhein im Nachwort. Worin der Unterschied von Weltflucht und Zerstreuung liegen könnte, ist mir schleierhaft, da sie doch recht eigentlich (jedenfalls in meinem Verständnis) gleichbedeutend sind. Auch dass der Alkohol in diesem Buch "Sucht und Sinn" sei, kann nur jemand behaupten, der keine Erfahrung mit (und keine Ahnung von) Sucht hat.

Wie Alkohol stimuliert und beflügelt, führt Colette Andris gekonnt und mit leichter Feder vor. Gleichzeitig, und darin liegt die Stärke dieses Buches, macht sie deutlich, dass Guita erst ohne einen Tropfen Alkohol klar sieht. "... keine verzweifelten Tränen, keine oberflächliche Trauer, wie sie die Trunkenheit allzu oft hervorruft. Vielmehr eine heilige, reine Verzückung."

Colette Andris
Eine Frau, die trinkt
Roman
Wagenbach, Berlin 2025

Sonntag, 6. April 2025

Leben & Sterben

Der Einstieg ist ganz wunderbar – die Begeisterung der Medizinethikerin Alena Buyx für ihre Arbeit ist gleichsam mit Händen zu greifen. Man wünschte sich mehr solcher Menschen; mir selber sind aus meiner Studienzeit in der Schweiz, Wales, Australien und Schottland nur gerade zwei Dozenten in Erinnerung, deren Begeisterung ich als ansteckend empfunden habe.

"Die Medizinethik beschäftigt sich mit dem guten und richtigen Handeln in der Medizin. Das kann sowohl die Entwicklung neuer Technologien betreffen als auch die konkrete Versorgung am Krankenbett." Alles klar, denkt es so in mir, doch kurz darauf stocke ich dann bei diesem Satz: "Es geht um Argumente und es geht um Gründe und Begründungen." In der Jurisprudenz ist das auch so, ja, so recht eigentlich ist das in allen akademischen Disziplinen so. Weshalb habe ich also gestockt? Weil ich es jetzt im Alter eigenartig finde, dass das moralisch Gesollte, Erlaubte und Zulässige von Argumenten und Begründungen abhängen soll. Ich weiss, ich weiss, so funktionieren wir nun einmal, sonderbar finde ich gleichwohl, dass "das Richtige" von einem guten oder besseren Argument entschieden wird. Doch zugegeben, das wäre eine andere Geschichte ...

Die leitenden medizinethischen Prinzipien sind: Das Prinzip des Respekts vor Selbstbestimmung von Patienten, das Prinzip des Nichtschadens, das Prinzip der Fürsorge/des Wohltuns, das Prinzip der Gerechtigkeit. Natürlich kommen da auch die Juristen ins Spiel ... und das ist ein Problem (das in diesem Buch allerdings nicht zur Sprache kommt), denn die Juristerei ist hauptsächlich ein Geschäftsmodell, weshalb sie denn auch ein Interesse daran hat, die Dinge zu verkomplizieren, sonst könnte schliesslich jeder und jede mitreden – und aus wär's mit dem Geschäft. Alena Buyx hingegen bezieht die Leser und Leserinnen mit ein, fordert sie auf, sich eigene Gedanken zu machen.

Leben & Sterben ist ein gutes und anregendes Buch. Ich will das an drei Beispielen erläutern bzw. ausführen, was diese bei mir ausgelöst haben.

Beispiel 1: Zwei frühgeborene Zwillinge, Tim und Mark. Mark entwickelt sich gut, Tim hingegen musste bereits dreimal reanimiert werden und erlitt zwei Gehirnblutungen. Die Eltern, beides Ärzte, wollen, dass die lebenserhaltende Behandlung bei Tim eingestellt wird. Tims Vater: "Was sie hier noch mit ihm machen, ist doch Quälerei, das bringt doch nichts! Und was er dann vor sich hat, das ist doch kein Leben. Ausserdem entscheiden immer noch wir, die Eltern, was sie mit unserem Kind machen dürfen und was nicht."

Meine gleichsam automatische Reaktion darauf: Der Mann hat Recht. Und fast gleichzeitig denkt es in mir: Eltern, die ihre Kinder als ihnen gehörig, also als Besitz bzw. Eigentum betrachten, sind nicht richtig bei Trost. Dazu kommt: Wer sich von angstgeplagten Vorstellungen leiten lässt, unterschätzt die Resilienz des Menschen, dessen Biologie ihm zu leben vorgibt.

Das medizinische Team sieht die Lage anders als die Eltern, auch natürlich, weil es emotional distanziert bzw. nicht so nahe dran ist. Für das Team hat Tims Wohlergehen Priorität, müssen die Rechte der Eltern  hintanstehen. Aus diesem Grundsatzentscheid ergibt sich alles Weitere. Es folgen viele Gespräche mit den Eltern, die schliesslich einwilligen, Tim leben zu lassen.

Und so ist die Lage heute. "Tim hat einen schweren Sehfehler und trägt, seit er zwei Jahre alt ist, eine dicke Brille. Er ist sehr klein und zart gewachsen und wird wohl immer deutlich kleiner sein als Gleichaltrige und auch als Erwachsener vermutlich die 1.60 nicht erreichen. Abgesehen davon ist Tim gesund und munter, geht in die dritte Klasse der Grundschule, ist klug und witzig und ein beliebtes sonniges Kind. Ein gutes Leben." Soweit Alena Buyx, die sehr wohl weiss, dass es auch ganz anders hätte ausgehen können. 

Gefragt habe ich mich, wie Tim und seine Eltern das heute sehen? Denn die Frage ist ja nach wie vor: Was ist eigentlich, ein lebenswertes Leben? Als ich einmal einem brasilianischen Neurochirurgen sagte, ein Leben im Rollstuhl hielte ich für mich nicht für lebenswert, erzählte er mir von einem Patienten, der genau dasselbe gesagt habe, dann im Rollstuhl gelandet sei – und sein Leben wider Erwarten lebenswert gefunden habe.

Beispiel 2: Zu Beginn ihrer Hauptvorlesung fragt Alena Buyx ihre Studenten jeweils, wie sie sich ihren eigenen Tod vorstellten. Die Antworten gehen von im eigenen Bett einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen bis zu umringt von seinen Liebsten friedlich einzuschlafen. Sterben auf der Intensivstation oder im Altenpflegeheim, wo 70 Prozent sterben, schwebt so recht eigentlich niemandem vor. Nichts könnte deutlicher zeigen, in was für Illusionen wir Menschen unser Leben verbringen. Leben & Sterben bietet Gegensteuer.

Beispiel 3: Aktive Sterbehilfe ist in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg seit einigen Jahren nicht mit Strafe bedroht, in Deutschland schon. Die Argumente für und wider sind differenziert und intelligent; den Ausschlag gibt das eigene Menschenbild. Wer davon ausgeht, dass der Mensch weiss, was er tut, wird wohl für Selbstbestimmung plädieren (offenbar gehen auch die Gerichte zunehmend in diese Richtung, was natürlich mit dem juristischen Menschenbild zu tun hat, gemäss dem der Mensch einen freien Willen haben muss). Wer hingegen das Leben als Schicksal begreift (also nicht davon ausgeht, dass er oder sie Kontrolle über das Leben hat), sieht das naturgemäss anders. Wer versteht, dass Entweder/Oder die Realität nicht abbilden kann, kommt möglicherweise zu Alena Buyxs schöner und lebensgerechter Schlussfolgerung: "Ich würde also zusammenfassend, die prinzipielle ethische Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe bejahen, aber ich plädiere nicht dafür, sie einzuführen."

Leben & Sterben ist ein vielfältig überzeugendes und höchst anregendes Buch, das die Auseinandersetzung lohnt. Einerseits, weil die Autorin nicht mit ihrer Meinung zurückhält, aber eben auch darlegt, wie sie dazu gekommen ist. Andererseits, weil das kein theoretisches (und damit unverbindliches) Werk ist, sondern Lebensfragen (anhand konkreter Fallbeispiele) auf ihre ethische  Tauglichkeit (die Würde des Menschen ist unantastbar) prüft.

Alena Buyx
Leben & Sterben
Die grossen Fragen ethisch entscheiden
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025

Mittwoch, 2. April 2025

Stimmen im Kopf

Matthew Johnstone wollte bei diesem Buchprojekt anfangs nicht so recht mitmachen, da er sich bei seiner Arbeit gern auf das beschränkt, das er selber erlebt hat und daher gut kennt. "Doch wie es immer so ist: Nachdem ich meinen Widerstand überwunden und angefangen hatte, war ich begeistert bei der Sache ...". Man kann (und darf und soll) daraus lernen: Wer etwas ändern will, muss verstehen, dass es wesentlich darum geht, seinen Widerstand gegen Veränderung zu überwinden.

Lauren Kennedy West ist selbst von einer schizoaffektiven Störung betroffen und betreibt den YouTube-Kanal 'Living Well with Schizophrenia'. Sie will nicht nur aufklären, sondern auch Empathie ermöglichen.

Stimmen im Kopf ermöglicht tatsächlich Empathie, jedenfalls gehörte diese Empfindung zu den Auswirkungen, die dieses Buch auf mich hatte. Das liegt, so stelle ich mir vor (wissen kann man das nicht), an den ansprechenden Illustrationen, denn Gefühle werden bekanntlich mittels Bildern übertragen.

Dazu kommt, dass Stimmen im Kopf aufklärt. Etwa darüber, dass manche glauben, Menschen mit Schizophrenie seien gefährlich oder litten unter extremem Kontrollverlust. Ja, das kommt vor, doch sehr selten.

Schizophrene leben einen Grossteil der Zeit wie alle anderen auch, doch gibt es eben auch immer wieder Phasen, die von Fehleinschätzungen geprägt sind, und in denen ihnen selbst überschaubare Aufgaben zum Problem werden.

Woher die Schizophrenie kommt, weiss man nicht wirklich. Also rätselt man, woher es kommen könnte, dass man Stimmen hört und Dinge sieht, die gar nicht da sind.

Dieses höchst ansprechende Buch handelt davon, wie man mit besonderen Herausforderungen ganz gut leben kann. Dafür braucht es auch das Wohlwollen der anderen sowie die Unterstützung, die man in Selbsthilfegruppen finden kann.

Fazit: Sympathische Aufklärung, die hoffentlich viele erreichen wird.

Stimmen im Kopf
Wie ich lernte, meine Schizophrenie zu akzeptieren
zu verstehen und gut mit ihr zu leben
Kunstmann, München 2025

Sonntag, 30. März 2025

Welterklärungen

 Warum?, fragt das Kind. Und dann, weil ihm die Erklärung nicht genügt, gerade noch einmal: Warum? Warum? Warum?

Der Mensch braucht Erklärungen, will wissen, weshalb die Dinge sind, wie sie sind. Nur eben: Seine Erklärungen kümmern die Welt nicht, denn sie ist nun einmal wie sie ist, mit oder ohne unsere Erklärungen.

Santa Cruz do Sul, 16. Dezember 2023

Mit unseren Welterklärungen wird uns mehr genommen als gegeben. Sie erklären nichts, setzen nur an die Stelle eines Geheimnisses eine Gewohnheit zu denken, schrieb Hans Albrecht Moser in "Vineta".

Es ist dies einer der Sätze, die mich schon seit Langem begleiten und ich immer wieder neu erfahre. Auch wenn ich davon ausgehe, dass der innerste Kern meiner Persönlichkeit mein Leben lang unverändert geblieben ist, meine Welterklärungen in jungen Jahren haben sich grundlegend gewandelt. So begriff ich einst die Juristerei als Ringen um die Wahrheit, heute sehe ich darin nur noch ein Geschäftsmodell. Ebenso die Psychologie, die Geschichte, die Soziologie ...

 Auch wundere ich mich heutzutage zunehmend über den Schwachsinn, den wir verinnerlicht zu haben scheinen. So werden wir etwa ständig daran erinnert, dass jemand als unschuldig zu gelten habe, bevor er juristisch verurteilt worden sei, was zu Absurditäten führt wie "der mutmassliche Verdächtige". Zudem: Ein Täter, der bei der Tat gefilmt wurde, ist kein mutmasslicher Täter, sondern ein Täter. Es braucht keine Gerichte, um uns zu sagen, was wir alle selber sehen können. Sich von solcher Bevormundung zu verabschieden, täte uns allen gut.

Mittwoch, 26. März 2025

Vom Leben mit der Endlichkeit

Dass wir jederzeit sterben können, wissen wir. Eigenartigerweise berührt uns das nicht, und wenn, dann höchstens für Momente. Den meisten ist das recht so, sie wollen nicht an den bevorstehenden Tod erinnert werden.

Die Beschäftigung mit dem Tod wird gescheut, da können die Philosophen noch so überzeugend argumentieren, dass damit das Leben lebenswerter wird. Schon möglich, doch wir haben gerade Anderes zu tun, sagen wir dann.

Doch manchmal holt uns das Leben ein. Katja Lewina, 1984 in Moskau geboren, studierte Slawistik sowie Literatur- und Religionswissenschaften. Im Alter von sechsunddreissig erfährt sie, dass sie einen Gendefekt geerbt hat, der zu einem plötzlichen Herztod führen kann. Seither ist ihr ein Defibrillator implantiert worden, der dafür sorgt, dass die gefährlichen Herzrhythmusstörungen im Zaume gehalten werden.

"Wäre mein Leben ein Film, wäre das ein Moment der Epiphanie gewesen." Nur eben: Das Leben ist kein Film. Dazu kam: "Nur wenige Monate zuvor war Edgar, mein siebenjähriger Sohn, gestorben." Wie hält sie das bloss aus? Wie geht sie damit um? Sie erkennt: "Im Grunde sind wir, wer wir sind, und ändern uns, wenn überhaupt, erschreckend langsam. Und doch, Veränderung ist möglich, wenn wir ihr den Boden geben, den sie braucht." .

Sehr schön zeigt sie auf, wie unsere Vorstellungen vom Leben dem realen Leben im Weg stehen. Katja Lewina gibt so gut wie möglich Gegensteuer, was ihr auch immer wieder gelingt, und dann auch wieder  nicht. Dass sie diese wenig befriedigende Situation (das wirkliche Leben ist so!), die sie überzeugend schildert, zu rationalisieren versucht, finde ich zwar verständlich, doch kontraproduktiv, denn es ist unser Rationalisieren bzw. unsere gewohnte Art zu denken, die uns daran hindert, uns zu ändern.

Andererseits: Die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie nun mal sind, scheint uns Menschen nicht wirklich möglich. Wir brauchen Erklärungen. Und wir wollen Antworten. Und vor allem wollen wir uns nicht am Lebensende vorwerfen müssen, nicht gelebt zu haben. Katja Lewina ist zuversichtlich:" ... werde ich nicht eine dieser Sterbenden sein, die auf ihrem Totenbett alles Mögliche bedauern." Diese Sicherheit geht mir  ab. Auch natürlich, weil ich selber nicht wirklich weiss, was ein gelebtes Leben sein soll, da mir alles Vergangene wie ein flüchtiger Traum erscheint.

Katja Lewina schreibt gut, intelligent, leicht und locker. Ihre Einsichten sind einerseits gescheit und hilfreich ("... je mehr wir uns erlauben, wir selbst zu sein, desto leichter fällt es uns, anderen das Gleiche zuzugestehen:"), und andererseits (der Mensch, das soziale Wesen) ausgesprochen konventionell ("... unsere Beziehungen sind uns das Wichtigste auf der ganzen Welt."). Was mich selber angeht (und ich halte mich nicht für speziell oder gar für eine Ausnahme): Meine wichtigste Beziehung ist die zu mir selber; sie hängt nur unwesentlich (falls überhaupt) von anderen ab.

Was ist schon für immer ist ein sehr gelungener Mix aus hellsichtiges Erkenntnissen (von Seneca über Feuerbach zu Anastasie Umrik) und der Lebenswirklichkeit des Alltags (als Freiberuflerin mit Kindern, der manchmal die Energie auszugehen scheint, kann man sich nicht ausschliesslich an philosophischen Idealen ausrichten). Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung ändert man sein Leben wegen einer lebensbedrohenden Diagnose nicht von heute auf Morgen, denn einerseits ist da der Alltag, um den man sich kümmern muss, und andererseits die Patientenverfügung, die Vorsorgevollmacht und die Frage, welche Musik bei der Beerdigung gespielt werden soll.

Katja Lewina geht all diese Fragen pragmatisch, mit gesundem Menschenverstand, und mit Humor an. Ich fühlte mich gelegentlich an Woody Allen erinnert, der einst sinngemäss meinte, er sei ständig zwischen zwei Fragen hin und her gerissen. Einerseits, ob Gott wohl existiere, und andererseits, ob er sich einen Big Mac reinziehen solle.

Können wir uns auf den Tod vorbereiten? Nein, können wir nicht, doch unser Leben können wir wacher und präsenter erleben, wenn wir den Tod nicht ständig verdrängen. Davon handelt dieses interessante und nützliche Buch, das sich nicht auf eine Frage fokussiert, sondern das vielschichtige Neben- und Miteinander von allem Möglichen (und letztlich Unfassbarem) schildert, und dabei immer mal wieder unterstreicht, dass das Leben, um erfahren zu werden, sinnlich wahrgenommen gehört. "Meine Oma war für mich ein Zuhause gewesen, eins, das nach Dill duftete und nach Hefegebäck."

Fazit: Differenziert, unterhaltsam, und anregend.

Katja Lewina
Was ist schon für immer
Vom Leben mit der Endlichkeit
DuMont Buchverlag, Köln 2024

Sonntag, 23. März 2025

Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade

Im Sommer 1998 bringt der amerikanische Schriftsteller Walter Kirn einen behinderten Jagdhund von Montana nach Manhattan – zu Clark Rockefeller, der den Hund via Internet adoptiert hat. So beginnt die fünfzehn Jahre währende Beziehung Kirns mit diesem reichen Sonderling, der sich dann jedoch als Serienbetrüger, Kidnapper und eiskalter Mörder entpuppt. Auch Walter Kirn selber wird als Opfer ausgelotet.

Bei dem vermeintlichen Clark Rockefeller handelt es sich in Wahrheit um Christian Gerhartsreiter, einen Psychopathen, den Kirn auf Anhieb nervig fand, „ein putziger kleiner Hobbit, der sich selber für so amüsant hielt, dass er etwas Wahnhaftes hatte.“ Er lässt sich von Rockefeller/Gerhartsreiter in Restaurants und Clubs ausführen, in seine Wohnung einladen („spartanisch und schmucklos ... die Kunst an den Wänden aber war kühn und gewaltig“) und ist von seinen Monologen hingerissen. Über Geld wird nicht gesprochen, auch dann nicht, als Kirn für seine Aufwendungen mit einem Check entschädigt wird, der nicht einmal die Hälfte seiner Ausgaben deckt.

Christian Gerhartsreiter, geboren 1961 im oberbayerischen Siegsdorf, geht mit ganz unterschiedlichen Identitäten („Alles war kopiert, angeeignet, nachgemacht ...“) durchs Leben. Als er durch Scheidung das Sorgerecht über seine Tochter verlor, kidnappte er diese, woraufhin er zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Während des Prozesses wurden verschiedene Aliase des falschen Rockefellers aufgedeckt. In der Folge wurde er angeklagt, 1985 John Sohus, den Adoptivsohn seiner damaligen Wohnungsvermieterin ermordet zu haben. Heute sitzt der zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe Verurteilte im Gefängnis von Los Angeles ein.

Walter Kirns Tatsachenbericht „Blut Will Reden“ beschreibt einerseits die Welt des Hochstaplers Gerhartsreiter und liefert damit ein eindrückliches Gesellschaftsporträt: „Im Showgeschäft, das die eigene Verlogenheit offen zur Schau stellt, hatte der aus Kalifornien Geflohene nicht landen können, aber an der Wall Street kam er gigantisch gut an.“

Andererseits versucht dieses Buch zu ergründen, wie der abstinente Alkoholiker Kirn auf diesen Psychopathen hereinfallen konnte. „Clark erkannte ein perfektes Opfer, wenn er eins vor sich sah ...“). Doch was war es, das Kirn zum Opfer machte? Hatte es damit zu tun, dass er Ritalin nahm? Diese Tabletten riefen nämlich „ eine Stimmung hervor, in der ich wahl- und unterschiedslos jederzeit zu allem bereit war.“ Oder hatte ihn womöglich sein Geltungsbedürfnis zur Zielscheibe gemacht?

Der Gründe sind wie immer viele. Auch des Hochstaplers Regiearbeit (und nicht etwa seine schauspielerischen Fähigkeiten): „... der Einsatz bestimmter Requisiten und die Art, wie er sich atmosphärische Schwingungen zunutze machte“ trug dazu bei, dass sich Kirn verführen liess. Wie auch die Tatsache, dass Clark literarisch hoch gebildet und ein begabter Causeur war. „Das Essen war nichts Besonderes, das Gespräch aber, als ich mich erst einmal darauf eingelassen hatte und Clark in Fahrt gekommen war, liess sich mit nichts vergleichen.“

Nicht unwesentlich dafür, dass Kirn auf Clark hereingefallen ist, ist natürlich auch, dass so ein Rockefeller-Zugang wunderbares Material für eine Geschichte, das Brot des Schriftstellers, liefert. Wie sehr man sich dafür verbiegen kann, beschreibt Walter Kirn einfühlsam, selbstkritisch und schonungslos: „Ich hatte mich ebenso sehr angestrengt, hinters Licht geführt zu werden, wie er daran gearbeitet hatte, mich hinters Licht zu führen. Ich war kein Opfer; ich war Mittäter.“

Walter Kirn
Blut Will Reden
Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade
C.H. Beck, München 2014

Mittwoch, 19. März 2025

Unselfish actions

The view from my hotel room in Porto Alegre

After some brief strolls through the centre of town, I decided to head back to "my" hotel that felt so completely out of time that I quickly forgot the big city vibes that basically radiate ambition, and enjoyed the quiet comfort of the hotel room.

After a while I turned on the computer, skimmed the headlines and, almost immediatley, turned it off again. I simply can't stand this display of vanity and selfimportance anymore. Moreover, the rationalisations of my younger years (cultured men are informed, to know what's going on helps to understand the world) I nowadays find preposterous for the media, by directing our attention, distract and cloud our brains. They tell us what they think we should concentrate on: American, Chinese and Russian politics, really?

Some weeks ago, a Brazilian friend told me she had been a few days with a distant relative suffering from dementia, who's husband had to be hospitalised. Her family berated her: This relative never wanted to have anything to do with us. How could you now take care of her?

I do not know, my friend said, I just did it. And, needless to say, I did of course understand the thinking of my family. All families think like that. Moreover, I also think like that. 

But nevertheless, you did it. And, I bet it wasn't easy, I said. It wasn't, she replied. To me, this means you changed your cause-and-effect thinking (everything has to have a cause) by putting into practise what your subconscious hinted at.

To calmly observe one's subconscious (not to be confused with gut feeling or instinct) leads to an awareness that puts aside the usual scapegoat blaming and can manifest itself in unselfish actions. We can act ourselves into new ways of thinking.

Sonntag, 16. März 2025

Meine liebsten Schopenhauer-Zitate

Daß uns der Anblick der Tiere so ergötzt, beruht hauptsächlich darauf, daß es uns freut, unser eigenes Wesen so vereinfacht vor uns zu sehn.

Die Wilden fressen einander – die Zahmen betrügen einander.

Wenn Erziehung und Ermahnung irgend etwas fruchteten, wie könnte dann Senecas Zögling ein Nero sein?

Ein guter Vorrat an Resignation ist überaus wichtig als Wegzehrung für die Lebensreise.

Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand.

Was das Herz nicht aufnimmt, lässt der Verstand nicht rein.

Wir sollten stets eingedenk sein, dass der heutige Tag nur einmal kommt und nimmer wieder.

Die Wichtigkeit der Gegenwart wird selten sofort erkannt, sondern erst viel später.

Der Morgen ist die Jugend des Tages. Alles ist heiter, frisch und leicht. Wir fühlen uns kräftig und haben alle unsere Fähigkeiten zu völliger Disposition. Man soll ihn nicht durch spätes Aufstehen verkürzen, noch auch an unwürdige Beschäftigungen oder Gespräche verschwenden, sondern ihn als die Quintessenz des Lebens betrachten und gewissermaßen heilig halten.

Ich fand eine Feldblume, bewunderte ihre Schönheit, ihre Vollendung in allen Teilen, und rief aus: „Aber alles dieses, in ihr und Tausenden ihresgleichen, prangt und verblüht, von niemandem betrachtet, ja oft von keinem Auge auch nur gesehn.“ Sie aber antwortete: „Du Tor! Meinst du, ich blühe, um gesehn zu werden?“

Ich weiß mir kein schöneres Gebet, als das, womit alt-indische Schauspiele schließen: „Mögen alle lebenden Wesen von Schmerzen frei bleiben“.

Mittwoch, 12. März 2025

Was mir so durch den Kopf geht

 Auf der Avenue de la Gare in Annemasse geht mir unvermittelt Alain Delon durch den Kopf. Keine Ahnung weshalb, nach Gründen suche ich nicht; mir genügt, zu konstatieren, was geschieht. Zwei Tage später lese ich, er sei im Alter von 88 Jahren gestorben.

Mir ist Ähnliches auch schon passiert, doch Nein, ich habe kein spezielles Sensorium für bevorstehende Todesfälle, ganz im Gegenteil: So habe ich schon einigen Kotzbrocken den Tod gewünscht (und tue es immer mal wieder), ohne dass dieser dann auch eingetreten wäre.

Nichts empfinde ich als eigenartiger als was mir so durch den Kopf geht. Es ist selten, dass ich darauf achte; meistens merke ich nichts davon, obwohl mein Hirn ständig aktiv ist.

Nicht nur mein Hirn, auch mein Gedächtnis ist selbstständig unterwegs. Es tut, was es will. Was ich nicht vergessen möchte, vergesse ich zumeist; was mir hingegen vollkommen unwichtig scheint, geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Doch natürlich ist es komplizierter. Das sage ich immer, wenn es mir nicht wirklich erklärlich ist.

Ich lese gerade eine Cioran-Biografie, von der mir hauptsächlich bleibt, was die meisten wohl als Nebensächlichkeiten bezeichnen würden. Etwa, dass sein Alptraum eine Moschee in jedem Quartier gewesen sei. Oder, dass zu seinen Idolen Shakespeare, Bach, Beethoven, Dostoevskij und Nietzsche gehörten. Oder, dass er die Soziologie verachtete und auch von der Philosophie wenig hielt, da sie nichts anderes als Fragen stelle und ihre Antworten immer zweifelhaft seien.

Im Internet stosse ich auf eine 96Jährige, die unter anderem sagt, alles sei nichts als Sternenstaub, der Mensch genauso wie der Baum und der Komposthaufen. Nur die Form sei verschieden. Eine befreiende Einsicht.

Sich mit dem zu befassen, was einen die Schule, die Gesellschaft und die Massenmedien lehren, erfüllt mich zunehmend mit Verachtung und Abscheu. Sich mit dem zu befassen, was gerade ist (etwa dem Wunder, dass ich atmen, sehen und fühlen kann), erfüllt mich hingegen mit Staunen und Dankbarkeit.

Sonntag, 9. März 2025

Dieses Buch wird Ihr Leben retten

Dieses Buch wird Ihr Leben retten ist der Titel eines Romans von A.M. Homes, aus deren The Mistress’s Daughter mir dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf geht: „It’s easier to really look at someone in a photograph than in real life – no discomfort at meeting the other person’s eye, no fear of being caught staring.“ Und auch dieser ist mir geblieben: „There goes my ass.“ So kommentiert sie den Hintern und dann den Körperbau ihres Vaters: „He is an exact replica, the male version of me.“

Auch in Dieses Buch wird Ihr Leben retten, das in Los Angeles spielt, gibt es Sätze, die überaus treffend Wesentliches auf den Punkt bringen.

Wir sind Teile einer langen Kette bestehend aus vielen Vorfahren und führen nun weiter, was diese in uns angelegt haben.“

Indem er ihr sagt, was sie tun muss, sagte er sich selbst, was er tun muss.“

Er fasst nicht, dass er das gesagt hat – er klingt genau wie sein eigener Vater.“

Er wird neu beginnen. Jeden Tag wird er wieder neu beginnen.“

Die Menschen sollten besser hinsehen. Alle wollen sie Aufmerksamkeit, aber keiner will Aufmerksamkeit schenken.“

In Amerika ist jeder Jemand. Sie haben so viel und wollen alle noch mehr. In meinem Land sind wir alle Niemand; das ist einfacher. Hier versuchen alle immer, jemand anderes zu sein. Sie gehen zum Arzt und bekommen eine neue Nase, bekommen eine grössere Büste – warum sind sie nicht zufrieden, dass sie eine Nase haben, die funktioniert, und immer schönes Wetter?“

Wir sind alle gute Menschen, wenn wir wollen, sonst sind wir gottverdammte Tiere. In der Realität gibt es keinen VIP-Raum, und in dieser Stadt gibt es keine Realität. Man kann sich die Antworten nicht ergoogeln. Die Leute reden immer so was wie, ‚dann fängt das Leben richtig an‘ – dein Leben HAT längst angefangen.“

Am meisten staune ich wohl über meine Gedankengänge, wie etwas in einem Moment so wichtig sein kann, und dann, einen Augenblick später, erinnere ich mich nicht mehr, was das war, von dem ich sicher war, ich würde es nie vergessen.“

Mir gefällt die Vorstellung, dass die Natur zurückkommt und uns in den Arsch tritt.“

„ …und plötzlich ist er bei der Sache, er lenkt sich von seinem Abgelenktsein ab.“

Mittwoch, 5. März 2025

Eine unverhoffte Entdeckung

Im November 1998 las ich Nelson DeMilles In den Wäldern von Borodino, worüber die New York Times schrieb: "Kein Spionageroman ist jemals so tief in die russische Seele eingedrungen." Und die Washington Post behauptete: "Der beste Roman seit 'Gorki Park'". Im Sommer 2024 las ich diesen wirklich spannenden und erhellenden Roman von Neuem und stiess dabei auf der letzten Seite auf diese Passage: "... und du erklärst mir, warum die Leute so gerne Gogol lesen. Da lernt jeder von uns Dinge, die dem anderen am Herzen liegen."

Unverzüglich stellte ich mich vors Bücherregal, griff mir Gogols Die toten Seelen (eines der vielen Bücher, die bei mir rumstehen, damit sie später einmal, im Alter!, gelesen werden. Nun ja, alt genug bin ich mittlerweile) heraus, begann zu lesen – und war hingerissen, auch weil der Erzähler ständig erklärt, was und warum er etwas so und nicht anders schildert. "Aber der Verfasser hat es nun einmal gern, in allem und jedem möglichst genau und umständlich zu sein, und wünscht, ungeachtet dessen, dass er selber ein Russe ist, so peinlich und pedantisch wie ein Deutscher vorzugehen."

Von Büchern, die ich mir fürs Alter vorgenommen habe, erwarte ich eher belehrt als unterhalten zu werden. Warum das so ist, weiss ich nicht, jedenfalls verbinde ich mit Weltliteratur eher Pflicht als Freude. Und Lust eigentlich gar nicht. Obwohl ich einige Klassiker in allerbester Erinnerung habe, ganz besonders Dostojewskis Idiot, Henry David Thoreaus Walden und natürlich Melvilles Bartleby, der Schreiber.

Gogols Die toten Seelen machen mich ständig schmunzeln, was auch daran liegt, dass mir hier eine Sichtweise vermittelt wird, die mich die Dinge anders als gewohnt sehen lässt, die mich überrascht und mit Freude erfüllt. "Ihn interessierte nicht, was er las, sondern vielmehr das Lesen an sich, oder genauer, der Prozess des Lesens selbst, nämlich der Umstand, dass sich aus den einzelnen Buchstaben immer wieder irgendein Wort bildete, deren Bedeutung allerdings mitunter nur der Teufel begreifen konnte."

Es sind die Perspektivenwechsel, deren sich der Autor bedient, die mich so recht eigentlich alles neu sehen lässt. "Zum Herrenhaus, das völlig vereinsamt auf einer Anhöhe lag, hatten sämtliche Winde, denen es nur irgendwie einfallen mochte zu blasen, freien Eintritt."

Soweit meine Erfahrungen mit den ersten Seiten dieses Werks, die zur Folge haben, dass ich – jedenfalls in diesem Moment – das Dasein mit neuer Verwunderung wahrnehme und mit Zuneigung begreife.

Sonntag, 2. März 2025

Die Wurzeln des Glücks

Wie die Natur unsere Psyche schützt  lautet der Untertitel und ist auch der Grund, weswegen ich mich für dieses Buch interessiere. Ich habe schon viel über das Verhältnis Natur und Mensch gelesen und darunter viel Anregendes, doch der Begriff der „Naturdefizit-Störung“ von Richard Louv war für mich neu. „Er beschreibt den Preis, den der Mensch angesichts seiner mangelnden Verbindung zur Natur zahlt: eine Unterentwicklung der Sinne, Konzentrationsschwierigkeiten und die Zunahme von körperlichen und seelischen Krankheitsbildern.“ Diese Abspaltung, die auch in vielen anderen Bereichen charakteristisch für den modernen Menschen ist, scheint mir die Hauptkrankheit unserer Zeit.

„Doch trotz unserer Entfremdung beziehen wir uns noch immer auf die Natur. Sogar im Internet: ‚Web‘ (‚Netz‘), ‚Stream‘ (‚Strom/Fluss‘), ‚Bug‘ (Käfer‘). Linguistisch und mental sind wir stark mit der Natur verwoben …“. Dies auch praktisch zu erfahren, ist natürlich noch einmal etwas anderes. „Kein Arzt hatte mir ‚Natur‘ verschrieben oder mir angeraten, Zeit im Freien zu verbringen. Ich war mehr oder weniger darüber gestolpert. Doch ich stellte zusehends fest, dass ich die Natur brauchte und ähnlich von ihr Gebrauch machte wie vom Alkohol, der mich früher benebelt hatte. Grosses Plus: Von der Natur bekommt man keinen Kater.“

Bereits in den 1760ern habe man geglaubt, dass die Erde sich positiv auf psychisch Kranke auswirken würde. Dass Erde in der Tat wohltuend ist, wissen auch Kinder. „Alle Babys, die man sich selbst überlässt, essen Erde“, so Graham Rook, emeritierter Professor und medizinischer Molekularbiologe vom University College London. Auch Erwachsene schätzen den erdigen Geruch nach einem Regenschauer, wenn die Pflanzen bestimmte Öle in die Luft abgeben. Geosmin heisst die organische Verbindung, die für den metallischen Geruch der Erde verantwortlich ist.

Dass sich die Natur positiv auf unser Wohlbefinden auswirkt, lässt sich übrigens messen. Roger Ulrich, Architekturprofessor des schwedischen Center for Healthcare Architecture Research der Chalmers University of Technology, hat herausgefunden, dass bei Patienten, die nach der OP auf Bäume blicken konnten, kürzere Krankenhausaufenthalte, weniger negative Vermerke der Pfleger sowie geringere Schmerzmitteldosen die Folge waren.

Schon einmal von E.O. Wilson gehört? Mir war er bislang als Sozialbiologe bekannt, der sich vor allem mit Insekten befasst hat. Jetzt lerne ich (und das ist höchst spannend erzählt), dass er als junger Teenager ein Auge verlor, so dass ihm nur noch ein kurzsichtiges Auge blieb und er deswegen seine Vogel-, Frösche- und Bären-Beobachtungen aufgeben und sich Wesen zuwenden musste, die sich aus der Nähe betrachten liessen. Und so begann seine Erforschung der Ameisen, die ihn weltberühmt machen sollte.

In seinem 1984 erschienen „Biophilia“ befasste er sich mit der Frage, ob die Menschheit mit der Ausbeutung der Natur ihre geistige Gesundheit verliert. „Wenn eine unserer Hauptaufgaben darin bestand, so Wilson, geeigneten Lebenstraum zu finden, ist es sehr wahrscheinlich, dass unsere Gehirne und Sinne dafür hilfreiche Charakteristika herausgebildet haben. Der moderne Mensch – Sie, ich, wir alle – kommt nicht auf die Erde, als stiege er aus einem Zug. Unser Fleisch und Blut und unsere DNA und Gedanken und Vorlieben werden von der Vergangenheit geprägt.“ Sich auf diese Einsicht wirklich einzulassen, bedeutet, das Leben zu verstehen: Unsere Existenz ist eingebettet in ein grösseres Ganzes.

Es gibt ja heute kaum mehr ein Phänomen, zu dem nicht geforscht wird. Lucy F. Jones erwähnt auch den Psychologen Dacher Keltner von der University of California in Berkeley, der die Emotion des Staunens untersucht hat. „Wenig überraschend stellte Keltner fest, dass Staunen zu gesteigertem Glücksempfinden führt und Stress reduziert.“ Staunen, es versteht sich, kann man über das, was man wahrnimmt bzw. wahrnehmen kann. Schwinden die Lebensräume, schwinden auch die Möglichkeiten des Staunens und der Welterfahrung. Staunen hat auch das Potential, unser Interesse von uns selbst weg, zu anderen hin zu führen. Und ist damit ein Gegenmittel gegen den grassierenden Narzissmus, der sich auch oft in Süchten entlädt, bei denen das Kreisen ums eigene Ego zentral ist. 

Die Forschung zeige, so Lucy F. Jones, dass wir alle zum Erhalt unserer geistigen Gesundheit in irgendeiner Form auf die Natur angewiesen sind. „Ohne Zugang zu naturbelassenen Landschaften und der gesamten Bandbreite an Biodiversität, zu Blumen, Pflanzen, Tieren und Bäumen, können wir uns sehr viel weniger effektiv erholen, Ruhe und psychische Nahrung finden.“ Es gilt einzuhalten und dies zu bedenken. Jetzt, denn uns rennt die Zeit davon, wie Klimaforscher und Wissenschaftler uns schon lange predigen.

Die Wurzeln des Glücks  ist eine faszinierende, informative und überaus anregende Lektüre.

Lucy F. Jones
Die Wurzeln des Glücks
Wie die Natur unsere Psyche schützt
Blessing, München 2021

Mittwoch, 26. Februar 2025

Kindness Award

The majority of us lead quiet, unheralded lives as we pass through this world. There will most likely be no ticker tape parades for us, no monuments created in our honor. But that does not lessen our possible impact, for there are scores of people waiting for someone just like us to come along; people who will appreciate our compassion, our encouragement, who will need our unique talents. Someone who will live a happier life merely because we took the time to share what we had to give. Too often we underestimate the power of a touch, a smile, a kind word, a listening ear, an honest compliment, or the smallest act of caring, all of which have the potential to turn a life around. It's overwhelming to consider the continuous opportunities there are to make our love felt.

Leo Buscaglia