Mittwoch, 2. April 2025

Stimmen im Kopf

Matthew Johnstone wollte bei diesem Buchprojekt anfangs nicht so recht mitmachen, da er sich bei seiner Arbeit gern auf das beschränkt, das er selber erlebt hat und daher gut kennt. "Doch wie es immer so ist: Nachdem ich meinen Widerstand überwunden und angefangen hatte, war ich begeistert bei der Sache ...". Man kann (und darf und soll) daraus lernen: Wer etwas ändern will, muss verstehen, dass es wesentlich darum geht, seinen Widerstand gegen Veränderung zu überwinden.

Lauren Kennedy West ist selbst von einer schizoaffektiven Störung betroffen und betreibt den YouTube-Kanal 'Living Well with Schizophrenia'. Sie will nicht nur aufklären, sondern auch Empathie ermöglichen.

Stimmen im Kopf ermöglicht tatsächlich Empathie, jedenfalls gehörte diese Empfindung zu den Auswirkungen, die dieses Buch auf mich hatte. Das liegt, so stelle ich mir vor (wissen kann man das nicht), an den ansprechenden Illustrationen, denn Gefühle werden bekanntlich mittels Bildern übertragen.

Dazu kommt, dass Stimmen im Kopf aufklärt. Etwa darüber, dass manche glauben, Menschen mit Schizophrenie seien gefährlich oder litten unter extremem Kontrollverlust. Ja, das kommt vor, doch sehr selten.

Schizophrene leben einen Grossteil der Zeit wie alle anderen auch, doch gibt es eben auch immer wieder Phasen, die von Fehleinschätzungen geprägt sind, und in denen ihnen selbst überschaubare Aufgaben zum Problem werden.

Woher die Schizophrenie kommt, weiss man nicht wirklich. Also rätselt man, woher es kommen könnte, dass man Stimmen hört und Dinge sieht, die gar nicht da sind.

Dieses höchst ansprechende Buch handelt davon, wie man mit besonderen Herausforderungen ganz gut leben kann. Dafür braucht es auch das Wohlwollen der anderen sowie die Unterstützung, die man in Selbsthilfegruppen finden kann.

Fazit: Sympathische Aufklärung, die hoffentlich viele erreichen wird.

Stimmen im Kopf
Wie ich lernte, meine Schizophrenie zu akzeptieren
zu verstehen und gut mit ihr zu leben
Kunstmann, München 2025

Sonntag, 30. März 2025

Welterklärungen

 Warum?, fragt das Kind. Und dann, weil ihm die Erklärung nicht genügt, gerade noch einmal: Warum? Warum? Warum?

Der Mensch braucht Erklärungen, will wissen, weshalb die Dinge sind, wie sie sind. Nur eben: Seine Erklärungen kümmern die Welt nicht, denn sie ist nun einmal wie sie ist, mit oder ohne unsere Erklärungen.

Santa Cruz do Sul, 16. Dezember 2023

Mit unseren Welterklärungen wird uns mehr genommen als gegeben. Sie erklären nichts, setzen nur an die Stelle eines Geheimnisses eine Gewohnheit zu denken, schrieb Hans Albrecht Moser in "Vineta".

Es ist dies einer der Sätze, die mich schon seit Langem begleiten und ich immer wieder neu erfahre. Auch wenn ich davon ausgehe, dass der innerste Kern meiner Persönlichkeit mein Leben lang unverändert geblieben ist, meine Welterklärungen in jungen Jahren haben sich grundlegend gewandelt. So begriff ich einst die Juristerei als Ringen um die Wahrheit, heute sehe ich darin nur noch ein Geschäftsmodell. Ebenso die Psychologie, die Geschichte, die Soziologie ...

 Auch wundere ich mich heutzutage zunehmend über den Schwachsinn, den wir verinnerlicht zu haben scheinen. So werden wir etwa ständig daran erinnert, dass jemand als unschuldig zu gelten habe, bevor er juristisch verurteilt worden sei, was zu Absurditäten führt wie "der mutmassliche Verdächtige". Zudem: Ein Täter, der bei der Tat gefilmt wurde, ist kein mutmasslicher Täter, sondern ein Täter. Es braucht keine Gerichte, um uns zu sagen, was wir alle selber sehen können. Sich von solcher Bevormundung zu verabschieden, täte uns allen gut.

Mittwoch, 26. März 2025

Vom Leben mit der Endlichkeit

Dass wir jederzeit sterben können, wissen wir. Eigenartigerweise berührt uns das nicht, und wenn, dann höchstens für Momente. Den meisten ist das recht so, sie wollen nicht an den bevorstehenden Tod erinnert werden.

Die Beschäftigung mit dem Tod wird gescheut, da können die Philosophen noch so überzeugend argumentieren, dass damit das Leben lebenswerter wird. Schon möglich, doch wir haben gerade Anderes zu tun, sagen wir dann.

Doch manchmal holt uns das Leben ein. Katja Lewina, 1984 in Moskau geboren, studierte Slawistik sowie Literatur- und Religionswissenschaften. Im Alter von sechsunddreissig erfährt sie, dass sie einen Gendefekt geerbt hat, der zu einem plötzlichen Herztod führen kann. Seither ist ihr ein Defibrillator implantiert worden, der dafür sorgt, dass die gefährlichen Herzrhythmusstörungen im Zaume gehalten werden.

"Wäre mein Leben ein Film, wäre das ein Moment der Epiphanie gewesen." Nur eben: Das Leben ist kein Film. Dazu kam: "Nur wenige Monate zuvor war Edgar, mein siebenjähriger Sohn, gestorben." Wie hält sie das bloss aus? Wie geht sie damit um? Sie erkennt: "Im Grunde sind wir, wer wir sind, und ändern uns, wenn überhaupt, erschreckend langsam. Und doch, Veränderung ist möglich, wenn wir ihr den Boden geben, den sie braucht." .

Sehr schön zeigt sie auf, wie unsere Vorstellungen vom Leben dem realen Leben im Weg stehen. Katja Lewina gibt so gut wie möglich Gegensteuer, was ihr auch immer wieder gelingt, und dann auch wieder  nicht. Dass sie diese wenig befriedigende Situation (das wirkliche Leben ist so!), die sie überzeugend schildert, zu rationalisieren versucht, finde ich zwar verständlich, doch kontraproduktiv, denn es ist unser Rationalisieren bzw. unsere gewohnte Art zu denken, die uns daran hindert, uns zu ändern.

Andererseits: Die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie nun mal sind, scheint uns Menschen nicht wirklich möglich. Wir brauchen Erklärungen. Und wir wollen Antworten. Und vor allem wollen wir uns nicht am Lebensende vorwerfen müssen, nicht gelebt zu haben. Katja Lewina ist zuversichtlich:" ... werde ich nicht eine dieser Sterbenden sein, die auf ihrem Totenbett alles Mögliche bedauern." Diese Sicherheit geht mir  ab. Auch natürlich, weil ich selber nicht wirklich weiss, was ein gelebtes Leben sein soll, da mir alles Vergangene wie ein flüchtiger Traum erscheint.

Katja Lewina schreibt gut, intelligent, leicht und locker. Ihre Einsichten sind einerseits gescheit und hilfreich ("... je mehr wir uns erlauben, wir selbst zu sein, desto leichter fällt es uns, anderen das Gleiche zuzugestehen:"), und andererseits (der Mensch, das soziale Wesen) ausgesprochen konventionell ("... unsere Beziehungen sind uns das Wichtigste auf der ganzen Welt."). Was mich selber angeht (und ich halte mich nicht für speziell oder gar für eine Ausnahme): Meine wichtigste Beziehung ist die zu mir selber; sie hängt nur unwesentlich (falls überhaupt) von anderen ab.

Was ist schon für immer ist ein sehr gelungener Mix aus hellsichtiges Erkenntnissen (von Seneca über Feuerbach zu Anastasie Umrik) und der Lebenswirklichkeit des Alltags (als Freiberuflerin mit Kindern, der manchmal die Energie auszugehen scheint, kann man sich nicht ausschliesslich an philosophischen Idealen ausrichten). Entgegen einer weit verbreiteten Vorstellung ändert man sein Leben wegen einer lebensbedrohenden Diagnose nicht von heute auf Morgen, denn einerseits ist da der Alltag, um den man sich kümmern muss, und andererseits die Patientenverfügung, die Vorsorgevollmacht und die Frage, welche Musik bei der Beerdigung gespielt werden soll.

Katja Lewina geht all diese Fragen pragmatisch, mit gesundem Menschenverstand, und mit Humor an. Ich fühlte mich gelegentlich an Woody Allen erinnert, der einst sinngemäss meinte, er sei ständig zwischen zwei Fragen hin und her gerissen. Einerseits, ob Gott wohl existiere, und andererseits, ob er sich einen Big Mac reinziehen solle.

Können wir uns auf den Tod vorbereiten? Nein, können wir nicht, doch unser Leben können wir wacher und präsenter erleben, wenn wir den Tod nicht ständig verdrängen. Davon handelt dieses interessante und nützliche Buch, das sich nicht auf eine Frage fokussiert, sondern das vielschichtige Neben- und Miteinander von allem Möglichen (und letztlich Unfassbarem) schildert, und dabei immer mal wieder unterstreicht, dass das Leben, um erfahren zu werden, sinnlich wahrgenommen gehört. "Meine Oma war für mich ein Zuhause gewesen, eins, das nach Dill duftete und nach Hefegebäck."

Fazit: Differenziert, unterhaltsam, und anregend.

Katja Lewina
Was ist schon für immer
Vom Leben mit der Endlichkeit
DuMont Buchverlag, Köln 2024

Sonntag, 23. März 2025

Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade

Im Sommer 1998 bringt der amerikanische Schriftsteller Walter Kirn einen behinderten Jagdhund von Montana nach Manhattan – zu Clark Rockefeller, der den Hund via Internet adoptiert hat. So beginnt die fünfzehn Jahre währende Beziehung Kirns mit diesem reichen Sonderling, der sich dann jedoch als Serienbetrüger, Kidnapper und eiskalter Mörder entpuppt. Auch Walter Kirn selber wird als Opfer ausgelotet.

Bei dem vermeintlichen Clark Rockefeller handelt es sich in Wahrheit um Christian Gerhartsreiter, einen Psychopathen, den Kirn auf Anhieb nervig fand, „ein putziger kleiner Hobbit, der sich selber für so amüsant hielt, dass er etwas Wahnhaftes hatte.“ Er lässt sich von Rockefeller/Gerhartsreiter in Restaurants und Clubs ausführen, in seine Wohnung einladen („spartanisch und schmucklos ... die Kunst an den Wänden aber war kühn und gewaltig“) und ist von seinen Monologen hingerissen. Über Geld wird nicht gesprochen, auch dann nicht, als Kirn für seine Aufwendungen mit einem Check entschädigt wird, der nicht einmal die Hälfte seiner Ausgaben deckt.

Christian Gerhartsreiter, geboren 1961 im oberbayerischen Siegsdorf, geht mit ganz unterschiedlichen Identitäten („Alles war kopiert, angeeignet, nachgemacht ...“) durchs Leben. Als er durch Scheidung das Sorgerecht über seine Tochter verlor, kidnappte er diese, woraufhin er zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Während des Prozesses wurden verschiedene Aliase des falschen Rockefellers aufgedeckt. In der Folge wurde er angeklagt, 1985 John Sohus, den Adoptivsohn seiner damaligen Wohnungsvermieterin ermordet zu haben. Heute sitzt der zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe Verurteilte im Gefängnis von Los Angeles ein.

Walter Kirns Tatsachenbericht „Blut Will Reden“ beschreibt einerseits die Welt des Hochstaplers Gerhartsreiter und liefert damit ein eindrückliches Gesellschaftsporträt: „Im Showgeschäft, das die eigene Verlogenheit offen zur Schau stellt, hatte der aus Kalifornien Geflohene nicht landen können, aber an der Wall Street kam er gigantisch gut an.“

Andererseits versucht dieses Buch zu ergründen, wie der abstinente Alkoholiker Kirn auf diesen Psychopathen hereinfallen konnte. „Clark erkannte ein perfektes Opfer, wenn er eins vor sich sah ...“). Doch was war es, das Kirn zum Opfer machte? Hatte es damit zu tun, dass er Ritalin nahm? Diese Tabletten riefen nämlich „ eine Stimmung hervor, in der ich wahl- und unterschiedslos jederzeit zu allem bereit war.“ Oder hatte ihn womöglich sein Geltungsbedürfnis zur Zielscheibe gemacht?

Der Gründe sind wie immer viele. Auch des Hochstaplers Regiearbeit (und nicht etwa seine schauspielerischen Fähigkeiten): „... der Einsatz bestimmter Requisiten und die Art, wie er sich atmosphärische Schwingungen zunutze machte“ trug dazu bei, dass sich Kirn verführen liess. Wie auch die Tatsache, dass Clark literarisch hoch gebildet und ein begabter Causeur war. „Das Essen war nichts Besonderes, das Gespräch aber, als ich mich erst einmal darauf eingelassen hatte und Clark in Fahrt gekommen war, liess sich mit nichts vergleichen.“

Nicht unwesentlich dafür, dass Kirn auf Clark hereingefallen ist, ist natürlich auch, dass so ein Rockefeller-Zugang wunderbares Material für eine Geschichte, das Brot des Schriftstellers, liefert. Wie sehr man sich dafür verbiegen kann, beschreibt Walter Kirn einfühlsam, selbstkritisch und schonungslos: „Ich hatte mich ebenso sehr angestrengt, hinters Licht geführt zu werden, wie er daran gearbeitet hatte, mich hinters Licht zu führen. Ich war kein Opfer; ich war Mittäter.“

Walter Kirn
Blut Will Reden
Eine wahre Geschichte von Mord und Maskerade
C.H. Beck, München 2014

Mittwoch, 19. März 2025

Unselfish actions

The view from my hotel room in Porto Alegre

After some brief strolls through the centre of town, I decided to head back to "my" hotel that felt so completely out of time that I quickly forgot the big city vibes that basically radiate ambition, and enjoyed the quiet comfort of the hotel room.

After a while I turned on the computer, skimmed the headlines and, almost immediatley, turned it off again. I simply can't stand this display of vanity and selfimportance anymore. Moreover, the rationalisations of my younger years (cultured men are informed, to know what's going on helps to understand the world) I nowadays find preposterous for the media, by directing our attention, distract and cloud our brains. They tell us what they think we should concentrate on: American, Chinese and Russian politics, really?

Some weeks ago, a Brazilian friend told me she had been a few days with a distant relative suffering from dementia, who's husband had to be hospitalised. Her family berated her: This relative never wanted to have anything to do with us. How could you now take care of her?

I do not know, my friend said, I just did it. And, needless to say, I did of course understand the thinking of my family. All families think like that. Moreover, I also think like that. 

But nevertheless, you did it. And, I bet it wasn't easy, I said. It wasn't, she replied. To me, this means you changed your cause-and-effect thinking (everything has to have a cause) by putting into practise what your subconscious hinted at.

To calmly observe one's subconscious (not to be confused with gut feeling or instinct) leads to an awareness that puts aside the usual scapegoat blaming and can manifest itself in unselfish actions. We can act ourselves into new ways of thinking.

Sonntag, 16. März 2025

Meine liebsten Schopenhauer-Zitate

Daß uns der Anblick der Tiere so ergötzt, beruht hauptsächlich darauf, daß es uns freut, unser eigenes Wesen so vereinfacht vor uns zu sehn.

Die Wilden fressen einander – die Zahmen betrügen einander.

Wenn Erziehung und Ermahnung irgend etwas fruchteten, wie könnte dann Senecas Zögling ein Nero sein?

Ein guter Vorrat an Resignation ist überaus wichtig als Wegzehrung für die Lebensreise.

Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand.

Was das Herz nicht aufnimmt, lässt der Verstand nicht rein.

Wir sollten stets eingedenk sein, dass der heutige Tag nur einmal kommt und nimmer wieder.

Die Wichtigkeit der Gegenwart wird selten sofort erkannt, sondern erst viel später.

Der Morgen ist die Jugend des Tages. Alles ist heiter, frisch und leicht. Wir fühlen uns kräftig und haben alle unsere Fähigkeiten zu völliger Disposition. Man soll ihn nicht durch spätes Aufstehen verkürzen, noch auch an unwürdige Beschäftigungen oder Gespräche verschwenden, sondern ihn als die Quintessenz des Lebens betrachten und gewissermaßen heilig halten.

Ich fand eine Feldblume, bewunderte ihre Schönheit, ihre Vollendung in allen Teilen, und rief aus: „Aber alles dieses, in ihr und Tausenden ihresgleichen, prangt und verblüht, von niemandem betrachtet, ja oft von keinem Auge auch nur gesehn.“ Sie aber antwortete: „Du Tor! Meinst du, ich blühe, um gesehn zu werden?“

Ich weiß mir kein schöneres Gebet, als das, womit alt-indische Schauspiele schließen: „Mögen alle lebenden Wesen von Schmerzen frei bleiben“.

Mittwoch, 12. März 2025

Was mir so durch den Kopf geht

 Auf der Avenue de la Gare in Annemasse geht mir unvermittelt Alain Delon durch den Kopf. Keine Ahnung weshalb, nach Gründen suche ich nicht; mir genügt, zu konstatieren, was geschieht. Zwei Tage später lese ich, er sei im Alter von 88 Jahren gestorben.

Mir ist Ähnliches auch schon passiert, doch Nein, ich habe kein spezielles Sensorium für bevorstehende Todesfälle, ganz im Gegenteil: So habe ich schon einigen Kotzbrocken den Tod gewünscht (und tue es immer mal wieder), ohne dass dieser dann auch eingetreten wäre.

Nichts empfinde ich als eigenartiger als was mir so durch den Kopf geht. Es ist selten, dass ich darauf achte; meistens merke ich nichts davon, obwohl mein Hirn ständig aktiv ist.

Nicht nur mein Hirn, auch mein Gedächtnis ist selbstständig unterwegs. Es tut, was es will. Was ich nicht vergessen möchte, vergesse ich zumeist; was mir hingegen vollkommen unwichtig scheint, geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Doch natürlich ist es komplizierter. Das sage ich immer, wenn es mir nicht wirklich erklärlich ist.

Ich lese gerade eine Cioran-Biografie, von der mir hauptsächlich bleibt, was die meisten wohl als Nebensächlichkeiten bezeichnen würden. Etwa, dass sein Alptraum eine Moschee in jedem Quartier gewesen sei. Oder, dass zu seinen Idolen Shakespeare, Bach, Beethoven, Dostoevskij und Nietzsche gehörten. Oder, dass er die Soziologie verachtete und auch von der Philosophie wenig hielt, da sie nichts anderes als Fragen stelle und ihre Antworten immer zweifelhaft seien.

Im Internet stosse ich auf eine 96Jährige, die unter anderem sagt, alles sei nichts als Sternenstaub, der Mensch genauso wie der Baum und der Komposthaufen. Nur die Form sei verschieden. Eine befreiende Einsicht.

Sich mit dem zu befassen, was einen die Schule, die Gesellschaft und die Massenmedien lehren, erfüllt mich zunehmend mit Verachtung und Abscheu. Sich mit dem zu befassen, was gerade ist (etwa dem Wunder, dass ich atmen, sehen und fühlen kann), erfüllt mich hingegen mit Staunen und Dankbarkeit.

Sonntag, 9. März 2025

Dieses Buch wird Ihr Leben retten

Dieses Buch wird Ihr Leben retten ist der Titel eines Romans von A.M. Homes, aus deren The Mistress’s Daughter mir dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf geht: „It’s easier to really look at someone in a photograph than in real life – no discomfort at meeting the other person’s eye, no fear of being caught staring.“ Und auch dieser ist mir geblieben: „There goes my ass.“ So kommentiert sie den Hintern und dann den Körperbau ihres Vaters: „He is an exact replica, the male version of me.“

Auch in Dieses Buch wird Ihr Leben retten, das in Los Angeles spielt, gibt es Sätze, die überaus treffend Wesentliches auf den Punkt bringen.

Wir sind Teile einer langen Kette bestehend aus vielen Vorfahren und führen nun weiter, was diese in uns angelegt haben.“

Indem er ihr sagt, was sie tun muss, sagte er sich selbst, was er tun muss.“

Er fasst nicht, dass er das gesagt hat – er klingt genau wie sein eigener Vater.“

Er wird neu beginnen. Jeden Tag wird er wieder neu beginnen.“

Die Menschen sollten besser hinsehen. Alle wollen sie Aufmerksamkeit, aber keiner will Aufmerksamkeit schenken.“

In Amerika ist jeder Jemand. Sie haben so viel und wollen alle noch mehr. In meinem Land sind wir alle Niemand; das ist einfacher. Hier versuchen alle immer, jemand anderes zu sein. Sie gehen zum Arzt und bekommen eine neue Nase, bekommen eine grössere Büste – warum sind sie nicht zufrieden, dass sie eine Nase haben, die funktioniert, und immer schönes Wetter?“

Wir sind alle gute Menschen, wenn wir wollen, sonst sind wir gottverdammte Tiere. In der Realität gibt es keinen VIP-Raum, und in dieser Stadt gibt es keine Realität. Man kann sich die Antworten nicht ergoogeln. Die Leute reden immer so was wie, ‚dann fängt das Leben richtig an‘ – dein Leben HAT längst angefangen.“

Am meisten staune ich wohl über meine Gedankengänge, wie etwas in einem Moment so wichtig sein kann, und dann, einen Augenblick später, erinnere ich mich nicht mehr, was das war, von dem ich sicher war, ich würde es nie vergessen.“

Mir gefällt die Vorstellung, dass die Natur zurückkommt und uns in den Arsch tritt.“

„ …und plötzlich ist er bei der Sache, er lenkt sich von seinem Abgelenktsein ab.“

Mittwoch, 5. März 2025

Eine unverhoffte Entdeckung

Im November 1998 las ich Nelson DeMilles In den Wäldern von Borodino, worüber die New York Times schrieb: "Kein Spionageroman ist jemals so tief in die russische Seele eingedrungen." Und die Washington Post behauptete: "Der beste Roman seit 'Gorki Park'". Im Sommer 2024 las ich diesen wirklich spannenden und erhellenden Roman von Neuem und stiess dabei auf der letzten Seite auf diese Passage: "... und du erklärst mir, warum die Leute so gerne Gogol lesen. Da lernt jeder von uns Dinge, die dem anderen am Herzen liegen."

Unverzüglich stellte ich mich vors Bücherregal, griff mir Gogols Die toten Seelen (eines der vielen Bücher, die bei mir rumstehen, damit sie später einmal, im Alter!, gelesen werden. Nun ja, alt genug bin ich mittlerweile) heraus, begann zu lesen – und war hingerissen, auch weil der Erzähler ständig erklärt, was und warum er etwas so und nicht anders schildert. "Aber der Verfasser hat es nun einmal gern, in allem und jedem möglichst genau und umständlich zu sein, und wünscht, ungeachtet dessen, dass er selber ein Russe ist, so peinlich und pedantisch wie ein Deutscher vorzugehen."

Von Büchern, die ich mir fürs Alter vorgenommen habe, erwarte ich eher belehrt als unterhalten zu werden. Warum das so ist, weiss ich nicht, jedenfalls verbinde ich mit Weltliteratur eher Pflicht als Freude. Und Lust eigentlich gar nicht. Obwohl ich einige Klassiker in allerbester Erinnerung habe, ganz besonders Dostojewskis Idiot, Henry David Thoreaus Walden und natürlich Melvilles Bartleby, der Schreiber.

Gogols Die toten Seelen machen mich ständig schmunzeln, was auch daran liegt, dass mir hier eine Sichtweise vermittelt wird, die mich die Dinge anders als gewohnt sehen lässt, die mich überrascht und mit Freude erfüllt. "Ihn interessierte nicht, was er las, sondern vielmehr das Lesen an sich, oder genauer, der Prozess des Lesens selbst, nämlich der Umstand, dass sich aus den einzelnen Buchstaben immer wieder irgendein Wort bildete, deren Bedeutung allerdings mitunter nur der Teufel begreifen konnte."

Es sind die Perspektivenwechsel, deren sich der Autor bedient, die mich so recht eigentlich alles neu sehen lässt. "Zum Herrenhaus, das völlig vereinsamt auf einer Anhöhe lag, hatten sämtliche Winde, denen es nur irgendwie einfallen mochte zu blasen, freien Eintritt."

Soweit meine Erfahrungen mit den ersten Seiten dieses Werks, die zur Folge haben, dass ich – jedenfalls in diesem Moment – das Dasein mit neuer Verwunderung wahrnehme und mit Zuneigung begreife.

Sonntag, 2. März 2025

Die Wurzeln des Glücks

Wie die Natur unsere Psyche schützt  lautet der Untertitel und ist auch der Grund, weswegen ich mich für dieses Buch interessiere. Ich habe schon viel über das Verhältnis Natur und Mensch gelesen und darunter viel Anregendes, doch der Begriff der „Naturdefizit-Störung“ von Richard Louv war für mich neu. „Er beschreibt den Preis, den der Mensch angesichts seiner mangelnden Verbindung zur Natur zahlt: eine Unterentwicklung der Sinne, Konzentrationsschwierigkeiten und die Zunahme von körperlichen und seelischen Krankheitsbildern.“ Diese Abspaltung, die auch in vielen anderen Bereichen charakteristisch für den modernen Menschen ist, scheint mir die Hauptkrankheit unserer Zeit.

„Doch trotz unserer Entfremdung beziehen wir uns noch immer auf die Natur. Sogar im Internet: ‚Web‘ (‚Netz‘), ‚Stream‘ (‚Strom/Fluss‘), ‚Bug‘ (Käfer‘). Linguistisch und mental sind wir stark mit der Natur verwoben …“. Dies auch praktisch zu erfahren, ist natürlich noch einmal etwas anderes. „Kein Arzt hatte mir ‚Natur‘ verschrieben oder mir angeraten, Zeit im Freien zu verbringen. Ich war mehr oder weniger darüber gestolpert. Doch ich stellte zusehends fest, dass ich die Natur brauchte und ähnlich von ihr Gebrauch machte wie vom Alkohol, der mich früher benebelt hatte. Grosses Plus: Von der Natur bekommt man keinen Kater.“

Bereits in den 1760ern habe man geglaubt, dass die Erde sich positiv auf psychisch Kranke auswirken würde. Dass Erde in der Tat wohltuend ist, wissen auch Kinder. „Alle Babys, die man sich selbst überlässt, essen Erde“, so Graham Rook, emeritierter Professor und medizinischer Molekularbiologe vom University College London. Auch Erwachsene schätzen den erdigen Geruch nach einem Regenschauer, wenn die Pflanzen bestimmte Öle in die Luft abgeben. Geosmin heisst die organische Verbindung, die für den metallischen Geruch der Erde verantwortlich ist.

Dass sich die Natur positiv auf unser Wohlbefinden auswirkt, lässt sich übrigens messen. Roger Ulrich, Architekturprofessor des schwedischen Center for Healthcare Architecture Research der Chalmers University of Technology, hat herausgefunden, dass bei Patienten, die nach der OP auf Bäume blicken konnten, kürzere Krankenhausaufenthalte, weniger negative Vermerke der Pfleger sowie geringere Schmerzmitteldosen die Folge waren.

Schon einmal von E.O. Wilson gehört? Mir war er bislang als Sozialbiologe bekannt, der sich vor allem mit Insekten befasst hat. Jetzt lerne ich (und das ist höchst spannend erzählt), dass er als junger Teenager ein Auge verlor, so dass ihm nur noch ein kurzsichtiges Auge blieb und er deswegen seine Vogel-, Frösche- und Bären-Beobachtungen aufgeben und sich Wesen zuwenden musste, die sich aus der Nähe betrachten liessen. Und so begann seine Erforschung der Ameisen, die ihn weltberühmt machen sollte.

In seinem 1984 erschienen „Biophilia“ befasste er sich mit der Frage, ob die Menschheit mit der Ausbeutung der Natur ihre geistige Gesundheit verliert. „Wenn eine unserer Hauptaufgaben darin bestand, so Wilson, geeigneten Lebenstraum zu finden, ist es sehr wahrscheinlich, dass unsere Gehirne und Sinne dafür hilfreiche Charakteristika herausgebildet haben. Der moderne Mensch – Sie, ich, wir alle – kommt nicht auf die Erde, als stiege er aus einem Zug. Unser Fleisch und Blut und unsere DNA und Gedanken und Vorlieben werden von der Vergangenheit geprägt.“ Sich auf diese Einsicht wirklich einzulassen, bedeutet, das Leben zu verstehen: Unsere Existenz ist eingebettet in ein grösseres Ganzes.

Es gibt ja heute kaum mehr ein Phänomen, zu dem nicht geforscht wird. Lucy F. Jones erwähnt auch den Psychologen Dacher Keltner von der University of California in Berkeley, der die Emotion des Staunens untersucht hat. „Wenig überraschend stellte Keltner fest, dass Staunen zu gesteigertem Glücksempfinden führt und Stress reduziert.“ Staunen, es versteht sich, kann man über das, was man wahrnimmt bzw. wahrnehmen kann. Schwinden die Lebensräume, schwinden auch die Möglichkeiten des Staunens und der Welterfahrung. Staunen hat auch das Potential, unser Interesse von uns selbst weg, zu anderen hin zu führen. Und ist damit ein Gegenmittel gegen den grassierenden Narzissmus, der sich auch oft in Süchten entlädt, bei denen das Kreisen ums eigene Ego zentral ist. 

Die Forschung zeige, so Lucy F. Jones, dass wir alle zum Erhalt unserer geistigen Gesundheit in irgendeiner Form auf die Natur angewiesen sind. „Ohne Zugang zu naturbelassenen Landschaften und der gesamten Bandbreite an Biodiversität, zu Blumen, Pflanzen, Tieren und Bäumen, können wir uns sehr viel weniger effektiv erholen, Ruhe und psychische Nahrung finden.“ Es gilt einzuhalten und dies zu bedenken. Jetzt, denn uns rennt die Zeit davon, wie Klimaforscher und Wissenschaftler uns schon lange predigen.

Die Wurzeln des Glücks  ist eine faszinierende, informative und überaus anregende Lektüre.

Lucy F. Jones
Die Wurzeln des Glücks
Wie die Natur unsere Psyche schützt
Blessing, München 2021

Mittwoch, 26. Februar 2025

Kindness Award

The majority of us lead quiet, unheralded lives as we pass through this world. There will most likely be no ticker tape parades for us, no monuments created in our honor. But that does not lessen our possible impact, for there are scores of people waiting for someone just like us to come along; people who will appreciate our compassion, our encouragement, who will need our unique talents. Someone who will live a happier life merely because we took the time to share what we had to give. Too often we underestimate the power of a touch, a smile, a kind word, a listening ear, an honest compliment, or the smallest act of caring, all of which have the potential to turn a life around. It's overwhelming to consider the continuous opportunities there are to make our love felt.

Leo Buscaglia

Sonntag, 23. Februar 2025

Von der Gegenwart

Im einen Moment bin ich in Grabs, bei einem Fotos des Hauses, in dem ich geboren wurde. Dann in San Francisco – zu Fuss auf den Strassen unterwegs, in Second Hand Buchläden, beim Burritos Essen, am Meer – , dann wiederum plötzlich in Porto Alegre, im Ibis Hotel beim Busbahnhof, in einem Buchladen in der Fussgängerzone, im Ibis Hotel am Flughafen. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was diese Bilder in meinem Kopf ausgelöst haben könnten, ja, so recht eigentlich weiss ich gar nicht, ob es dafür einen Auslöser gebraucht hat. Das einzige, was ich mit einiger Bestimmtheit sagen kann: Sie sind da und sofort wieder weg.

Niemand vermag zu sagen, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war. Mit unserer Art zu denken ist die Frage nicht zu beantworten. Wir lassen trotzdem nicht ab von unserer Art zu denken, schliesslich haben wir ihr einiges zu verdanken. Vor allem Orientierung – und ohne die können wir nicht sein.

In Santa Cruz do Sul: Beim Notieren einer Übersetzung eines portugiesischen Satzes ins Deutsche tauchen plötzlich Bilder aus der Innenstadt von Feldkirch in meinem Kopf auf. Der Gedanke streift mich: Wie kann das sein? Gefolgt vom Gedanken: Nein, das will ich nicht versuchen rauszufinden, ich weiss, das übersteigt meinen Horizont.

Verwirrend ist, dass ich nur die Gegenwart erfahren kann. Ich tue das ständig, wir alle tun das ständig. Nur eben: Es kommt uns nicht so vor, wir haben das Gefühl, sie renne uns davon. Unsere Gefühle und Gedanken, so erlebe ich es jetzt im Alter, führen uns oft in die Irre, da wir nach Sinn verlangen, einem Sinn, den wir verstehen.


***

Wenn wir aufwachen, beginnt die Welt, habe ich letzthin bei Vincent Deary gelesen. Jeden Tag, ohne nachzudenken oder bewusste Anstrengung, erschaffen wir die Welt, in der wir leben. Genauer: Etwas in uns erschafft sie. Bei jedem Aufwachen wacht diese deine Welt mit dir auf. Ein tägliches Wunder.

Die erste unmittelbare Erfahrung, die wir von uns selbst machen, ist die eines Mediums, in dem eine Welt sich manifestiert, in der wir das Zentrum sind. Es ist eine sehr eigene Welt, die hier jeden Tag entsteht, ohne mein Zutun. Wenn ich mich dieser Einsicht öffne, verschwindet mein Ego, bin ich in der Gegenwart.

Mittwoch, 19. Februar 2025

Das wiedergefundene Licht

Dass dies ein aussergewöhnliches Buch ist, war mir bereits auf den ersten Seiten klar. Des Tons, aber auch der Sprache und der Einsichten wegen. Doch vor allem war da eine Lebensbejahung, die mich begeisterte. Er habe eine glückliche Jugend gehabt und nie einen metaphysischen Zweifel gekannt, notiert der Autor. „Gewiss hatte ich – wie alle Kinder – meine Nöte und Kümmernisse. Doch ich muss gestehen: An sie erinnere ich mich nicht mehr.“ Wunderbar! Auch natürlich, weil ich diese Erfahrung teile.

Ich kann mich nicht erinnern, je eine Kindheitserinnerung gelesen zu haben, die ich als derart lebensvertrauend empfunden habe. Er fühlte sich getragen, seine Eltern liebten ihn. Kinder wissen das, weil sie „alles mit ihrem ganzen Sein begreifen, wir (Erwachsenen) dagegen nur mit unserem Kopf.“

Das Licht war für den kleinen Jacques schon früh bedeutsam. „Das Licht übte auf mich einen faszinierenden Zauber aus. Ich sah es überall, und ich betrachtete es stundenlang.“ Dann, durch einen Unfall, wird er blind. „Jeden Tag danke ich dem Himmel dafür, dass er mich schon als Kind von noch nicht ganz acht Jahren blind werden liess.“ Natürlich bedarf das einer Erklärung. Und die liefert der Autor dann auch. Lesen Sie selbst, es lohnt ...

Er hadert nicht, erlebt alles neu, und vor allem, dass alles ständig im Fluss, die Vorstellung von Anfang und Ende falsch ist. Er erfährt eine ganz wundervolle Lebensenergie, die allerdings zu versiegen droht, wenn sich Angst, Zorn, Ungeduld und Bösartigkeit einstellen. Oder wenn er beim Spiel unbedingt gewinnen will. Für Jacques Lusseyran ist alles belebt, er fühlt dies, er spürt es, er erlebt es.

Die Blindheit, notiert er, erweitert „die inneren Erfahrungen auf Kosten der äusseren bis ins Masslose.“ Auf dem Land tut er sich leichter mit ihr als in Paris, wo die Strasse ein Labyrinth von Geräuschen ist. Doch generell gilt: „Die Blindheit ist in der Welt der Sehenden nicht sehr willkommen. Sie ist so wenig bekannt und, so kann man fast sagen, so gefürchtet!“ Dadurch birgt sie die Gefahr der Isolation. Auch sind Blinde immer abhängig von anderen, was Jacques Lusseyran allerdings nicht als Unglück, sondern einfach als Tatsache sieht, mit der umzugehen ist. Schliesslich sind auch Sehende mannigfaltig abhängig.

Das wiedergefundene Licht ist das Werk eines höchst eigenständigen Denkers ( Jacques Lusseyran lehrte nach dem Krieg als Philosophieprofessor in Frankreich und den USA), der das Leben als Geschenk begreift. Was er über die Erfahrungen von Kindern schreibt, sollte Erwachsenen eine Lehre sein. „Für einen Achtjährigen 'ist' was ist, und es ist immer das Beste. Er kennt keine Bitterkeit und keinen Groll. Er kann zwar das Gefühl haben, ungerecht behandelt worden zu sein, doch er hat es nur dann, wenn ihm die Ungerechtigkeit durch Menschen zuteil wird. Die Ereignisse sind für ihn Zeichen Gottes.“

Immer mal wieder unterbreche ich meine Lektüre, halte inne, denn was dieses Buch in Fülle vermittelt, sind ganz verschiedenartige und überaus erhellende Einsichten, bei denen sich zu verweilen lohnt. „Paris war wie alle Städte eine Schule des Egoismus.“ Oder: „Wie könnte man hoffen, dass eine Schule, ein Ausschuss oder gar eine Verwaltungsbehörde, dass Ämter, die nur kraft ihrer Gewohnheiten – das heisst ihres Durchschnitts – überleben, mit Wohlwollen auf Ausnahmen blicken?"

Das wiedergefundene Licht trägt auf vielfältigste Art und Weise zur Bewusstseinsbildung bei. So etwa, wenn der Autor darauf hinweist, dass es nichts auf der Welt gibt, was nicht durch ein anderes ersetzt werden könnte. Oder wenn er über die einschläfernde Macht der Gewohnheit festhält. „Der Knabe tut alles aufmerksam, der Mann tut alles nur noch gewohnheitsmässig.“ Oder wenn er über seine Entdeckung von Shakespeare berichtet, dessen Geist er also ebenso komplex bezeichnet wie das Leben.

Auch vom Krieg ist die Rede, wenn auch anders als gemeinhin üblich. Plötzlich waren die Leute weniger mürrisch, konstatiert er, was auch daran lag, dass die Gewohnheiten nicht mehr das Leben bestimmten, man sich lebendiger fühlte. „Überall wehte ein freiheitlicher Wind.“

Als die Deutschen Frankreich besetzen, gründet und engagiert er sich in einer Widerstandsbewegung von Jugendlichen, den „Volontaires de la Liberté“. Diese tut sich mit einer anderen Gruppe zusammen, der „Défense de la France“. Zusammen bringen sie eine Untergrundzeitung heraus. Er wird verraten, kommt nach Buchenwald.

Eine ausserordentlich berührende und wunderbar ansteckende Liebeserklärung ans Leben. Grossartig! Ein echter Glücksfall.

Jacques Lusseyran
Das wiedergefundene Licht
Klett-Cotta, Stuttgart 2024

Sonntag, 16. Februar 2025

Attention Junkies

More-More-More is the basis of a modern life well-lived, as the ideologues and propagandists of consumerism do not tire to tell us. Not in these words, of course, instead they show us pictures that represent our longings. Pictures transport feelings, and feelings are an easy target because they are extremely difficult to control.

While the idea that nothing is ever enough is the motor of economic growth, it is also the mother of addiction.

Since addiction however is widely understood to be related to chemical substances, it is routinely overlooked that it is essentially an attitude that spells more-more-more.

It doesn't cease to baffle me that the attention that the media around the world give to the present American president is not seen as what it is: Pushers who deliver the daily attention doses this man cannot live without. They themselves also are addicted to attention; their business model makes them attention junkies.

As far as I'm concerned, I prefer to direct my attention to the wonders of nature.

Santa Cruz do Sul, Brazil, 3 February 2025

Mittwoch, 12. Februar 2025

On Rationalisations

13 April 2024, near Ziegelbrücke, Switzerland

Santo Cruz do Sul, Brazil. Recently, during discussions on Brazilian and world politics that were characterised by sympathy or antipathy for this or that so-called leader (who, needless to say, is not leading at all but being led by the wishes, demands and the applause of the ones who voted for them), it all of a sudden and with a so far unknown clarity, hit me that what we were saying were nothing but rationalisations of deeply held beliefs.

Our arguments were based on the informations we preferred. None of us at the table was in the least interested in changing their world view but to change the world view of the others. All of us expressed our emotions dressed up as the result of rational thinking. The differing information provided was seldom really considered but almost automatically dismissed. Yes, but ... we all do that. Sure,  the "I never thought of that" does also occur yet it rarely leads to an attitude change. Differently put: our discussions essentially fill the void, they also entertain and occasionally inspire but above all they rationalise and try to make sense respectively of what we feel. And that, sadly, is not often comforting.

Whether one likes the US or Brazil has little or nothing to do with politics, it's to do with basic feelings that we rarely control. We mostly do not know where they come from. "My" US and "my" Brazil have to do with landscapes, music, people I like, and vibes. Also, in case of the US, with the sixties. It goes without saying there are also things I do not like, the habit of both countries to rarely come up with a decent political figure, for instance, yet that has not prevented me of feeling well there.

The other day, when I argued that Russians were particularly cruel (concentration camps in Siberia as well as their habit of invading and occupying other countries), a woman at the table opined that people were the same all over the world. Needless to say, I do not disagree. Moreover, examples are easily found in case you want to prove that no country and no people are shining proof of civility.

But are we really all the same? If so, it clearly wouldn't matter with whom or where we live. Well, to me it does, and it is not only because of the climate. And, quite obviously, to others this matters too. It might also be noted that migrants usually do not stand in line in order to get into countries like Russia, China or Saudi Arabia.

Sonntag, 9. Februar 2025

Beherrsche deine Emotionen

 "Domine suas emoções, domine 2025" (Beherrsche deine Emotionen, beherrsche 2025) war der Beitrag in der Gazeta do Sul überschrieben. Solche Artikel lese ich normalerweise nicht. Die Vorstellung, Gefühle beherrschen zu können, halte ich für absurd. Siehe auch hier.

Was mich bewogen hat, diesen Beitrag trotz meiner Voreingenommenheiten zu lesen, weiss ich nicht wirklich (mitgespielt hat vermutlich, dass ich mit Lesen mein Portugiesisch verbessern kann), doch was ich las, gefiel mir nicht nur, ich fand es hilfreich. Besonders ein Aspekt hat es mir angetan.

Üblicherweise, führte der Autor aus, konzentrieren wir uns auf einen einzigen Gefühlszustand wie etwa Wut oder Traurigkeit. Dabei ignorieren wir andere Gefühlszustände, die ebenso relevant sind. Wenn wir nun versuchen, uns gleichzeitig mindestens drei unterschiedliche Gefühlszustände zu vergegenwärtigen, erweitert sich unsere Wahrnehmung zu einer wesentlich realistischeren Variante unserer aktuellen Gefühlssituation.

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Wir werden ja zurzeit täglich zugemüllt mit Informationen über den durchgeknallten Rentner im Weissen Haus, was seine Anhänger vermutlich begeistert, alle anderen hingegen entschieden weniger. Diesem Medienbombardement kann man sich nur schwer entziehen, doch wer bei geistiger Gesundheit bleiben will, sollte dies tun. 

Mir gelingt dies am ehesten, wenn ich bewusst innehalte, meine Gefühle wahrnehme, benenne, was ich empfinde (Abscheu, Angespanntheit, Wut, Rastlosigkeit etc.), und mich dann frage (falls mir dieses Gefühl unangenehm ist), was ich konkret tun kann. Allein die Frage bewirkt, dass die Intensität der Empfindung leicht nachlässt. Wenn ich nun, wie der erwähnte Artikel anregt, mich darauf konzentriere, weitere Gefühle zuzulassen, ist der Impulsdruck noch weniger stark. Und vor allem: Mir wird bewusst, dass ich ihm nicht nachgeben muss.

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Nichts, das meine Seele mehr erfreut als die Schönheit.

Santa Cruz do Sul, 5 Februar 2025

Mittwoch, 5. Februar 2025

The Secret

Once during a regular question and answer session with his students,
spiritual teacher J. Krishnamurti paused and leaned forward and 
asked the audience, “Do you want to know what my secret is?”.

Everyone sat up and became immensely alert because here was one
of the great spiritual teachers of the 20th century and he was about
to tell them his secret. Krishnamurti in a soft spoken voice said
“You see, I don’t mind what happens”.

“When you live with this awareness, this sensitivity, life has an
astonishing way of taking care of you. Then there is no problem of
security, of what people say or do not say, and that is the beauty of life.’

J. Krishnamurti

Mittwoch, 29. Januar 2025

Herzschlag

Heiner Wilmer, geboren 1961, promovierter Theologe, seit 2018 Bischof von Hildesheim, hatte vorgehabt, acht Tage bei den Trappisten in Orval, im südlichen Belgien, zu verbringen, doch Corona kam dazwischen und verhinderte das. Und so hat er bei sich zuhause einen kleinen Raum eingerichtet, für eine innere Einkehr. Er möchte sich mit dem Tagebuch von Etty Hillesum beschäftigen. "Möchte lesen, wie du in dich 'hineinhorchst', und dabei auch in mich selbst 'hineinhorchen'."

Etty Hillesum wird m Alter von 29 Jahren in Auschwitz ermordet. Ihr Tagebuch gilt als spiritueller Klassiker. In Herzschlag tritt Heiner Wilmer in einen fiktiven Dialog mit Etty. Dabei erzählt er auch ihr Leben, voller Sympathie und Zuneigung; er ist weder Problematisierer noch Erklärer, er beschäftigt sich mit spirituellen Fragen und versteht sich als Lernender.

Heiner Hilmers Auseinandersetzung mit Etty ist in erster Linie eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Treffend sagt der Talmud: Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind. Doch Herzschlag ist keine Nabelschau, sondern wesentlich eine Frage bzw. ganz viele Fragen, die sich mit dem beschäftigen, was Etty Hillesum so alles umgetrieben hat. Und auch Heiner Wilmer umtreiben. Der Hass etwa, zu dessen Destruktivität er sich differenziert auslässt. "Die Überwindung von Hass ist eine Frage der Seelenhygiene."

Ettys Therapeut und Liebhaber, 35 Jahre älter als sie (er ist 54, sie 27), ist Jungianer. "Was hat dich so lange an Jung fasziniert? War es, dass Jung in den dunklen Momenten des Lebens nicht nur eine Kraft sieht, die uns eventuell zerstört, sondern auch einen Keim für Transformation und Wachstum? War es, dass Jung uns dazu anhält, unsere inneren Konflikte zu erkennen und zu integrieren, dass wir unseren eigenen Schatten, die dunkle Seite unserer Psyche, erkennen und annehmen müssen und nur so das Potential finden, um zu reifen und uns zu erneuern, auch angesichts von Krankheiten und grossem Leid?"

Disziplin und Ordnung sind Etty wichtig. "Solange deine innere Disziplin nicht in Ordnung ist, brauchst du die äussere Disziplin, schreibst du. Wenn du morgens eine Stunde länger schläfst, bedeutet es für dich nicht, ausgeschlafen zu sein, sondern mit dem Leben nicht zurechtzukommen und zu versagen. Auch das sagst du." Auch Heiner Wilmer sind Riten, Rituale und Rhythmen wichtig, die er am ehesten beim Rückzug in eine Abtei findet.

"Das Lesen in deinem Tagebuch wirft mich auf mich zurück." Als er davon spricht, was ihm alles Angst macht, berührt das ungemein. Das wirkt auf mich wie eine Beichte, und eine solche befreit bekanntlich. Die Lebensfreude, die er bei Etty wahrnimmt, entdeckt er auch bei sich. Immer wieder greift sie zu Rilke, der beiden Zugang zum Grossen und Schönen eröffnet.

Herzschlag ist ein Buch voller vielfältiger Lebensauseinandersetzungen. Die Würde, die sich Etty nicht nehmen lässt. Dostojewski macht sie vertraut mit dem Unaussprechlichen, dem, was unser Verstand nicht zu erfassen vermag. Das Bedürfnis zu schreiben, das Heiner Wilmer versteht als das Bemühen, alles zu behalten, "wie in einem grossen Speicher", um den späteren Generationen erzählen zu können, wie alles einst gewesen ist.

Wie gross und schön das Leben doch ist, schreibt Etty immer wieder. "Kann es sein, dass das, was in dir das Allertiefste ist, das du der Einfachheit halber als Gott bezeichnest, dass dieser Gott Schönheit pur ist, Herrlichkeit?" Heiner Wilmer stellt sich vor, dass das Schöne das Potential hat, uns zu verwandeln. "Kann es sein, dass Dostojewski recht hat, wenn er in seinem Roman 'Die Brüder Karamasow' sagt, dass am Ende die Schönheit die Welt retten wird?"

Heiner Wilmer
Herzschlag
Etty Hillesum – Eine Begegnung
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2024

Sonntag, 26. Januar 2025

On Clinging

Santa Cruz do Sul, 15 January 2025

One of the things I'm clinging to is the belief that one can only change one's life on a special day. Needless to say, I regard this belief to be utterly stupid and so you can easily imagine my surprise tnat I got sober on  Monday, 1 January 1990, and quit smoking on 9/9/1999 – yes, the 9 has always been special to me, I was born in September.

What I consider plausible, logical and making sense is a manifestation of my thinking, it has often little to do with how the world operates. Yet since I'm conditioned to my way of thinking, I haven't the foggiest idea of how to let go of it. I still believe that the next important change in my life needs to happen on a special day such as Easter, Christmas or my birthday.

I know that every day is a special day yet I do not understand it for understanding is a feeling. How can I transform my knoweldge into a feeling, I wonder. By taking action, of course, by doing what I know needs to be done. So how come I do not do it? Because I do not want to change.
.
Well, sometimes I do because not letting go is too painful. And, an insight like this helps: "Life got sweeter when I realized the magic behind childhood wasn't because I was a child, it was because I was present." To be present is the only thing I need to learn. And, I'm willing.

Mittwoch, 22. Januar 2025

Vom Alter

Santa Cruz do Sul, 8. Januar 2025

Vor dem Supermarkt, in dem ich in Santa Cruz do Sul meine Einkäufe mache, befindet sich ein Blumenbeet, bei dem ich stehengeblieben bin, um Fotos zu machen, als mir ein Mann, der vor seiner offenen Autotür steht, auf English zuruft; Wir kennen uns doch! Es wird sich wohl um einen ehemaligen Schüler handeln, denkt es so in mir. Und so war es denn auch. Da ich ihn selber nicht erkannt hätte (er ist jetzt 42, verheiratet, vier Kinder), bin ich einigermassen verblüfft, dass er mich erkannt hat. Offensichtlich habe ich mich in den letzten 18 Jahren äusserlich nicht entscheidend verändert.

Doch eine Veränderung hat stattgefunden, innerlich, und zwar eine massive. Jedenfalls kommt es mir so vor. Fast alles, woran ich einst geglaubt habe, hat sich in Luft aufgelöst. So war ich in jüngeren Jahren Rockmusikern und Schriftstellern zugetan (damals war mir überhaupt nicht klar, dass sie alle Beifallssüchtige waren), heute finde ich viele von ihnen eitle Langweiler und Besserwisser, die ein Bild von sich selber haben, das nur Menschen eignet, die von Selbsttäuschung keine Ahnung haben.

Zugegeben, Musik von damals (und einiges von heute) finde ich immer noch toll. Das gilt auch für Bücher. Nur weiss ich heute mit Bestimmtheit, dass ich weder Musiker noch Autoren kennenlernen möchte, schliesslich habe ich keine Lust, mir ihre Werke vergällen zu lassen.

Und dann die Politik. Am Deutlichsten zeigt sich in Amerika, dass wir von Leuten regiert werden, die nicht alle Tassen im Schrank haben. Doch so recht eigentlich ist das überall auf der Welt so (und war wohl schon immer so), doch noch nie war es so offensichtlich. Jedenfalls für mich. Ignoranz, Chaos, Spektakel, Selbstinszenierungen. Der Mensch ein zivilisiertes Wesen? Die Mehrheit der Wähler jedenfalls nicht ...

"Wie können wir im Einklang mit unseren Werten leben, wenn die Gesellschaft sie nicht teilt"?, fragt Titiou Lecoq in Balzac und Ich. Indem man sich dieser Gesellschaft verweigert und seinen eigenen Weg geht. Diejenigen, die das tun, kommen in den Medien (und damit im öffentlichen Bewusstsein) nicht vor. 

Sinn sei keine Lebensweisheit oder Glücksformel, lese ich in Ich möchte lieber nichts von John von Düffel, sondern eine Richtung. Der Schauspieler Bill Murray meinte in einem Interview (ich zitiere aus dem Gedächtnis), er würde gerne öfter auch geistig da sein, wo er bereits physisch sei. Dies ist die Richtung, die mir vorschwebt. Sie lässt sich üben.

Sonntag, 19. Januar 2025

Changes

 As a youngster, I felt in need of role models. And, while they quite often disappointed me, the longing for identification was quite persistent.

Since I've reached old age, the glorification of individuals gets on my nerves Other illusions are also gone, among them the notion that successful people are smart. How poor in spirit must you be in order to be interested in success which in most cases means material success.

What this or that musician thinks, what this or that politician said, what this or that writer believes – I couldn't care less. Nowadays I despise attention seekers, I think them weak characters.

 A man who does not practise what he preaches has not understood what he preaches. In younger years such men and women made me angry, nowadays I focus on their wise words.The person who allegedly said wise words is totally irrelevant, what counts (if at all) are the words

The picture below I took on the morning of 2 January 2025. When later in the day I've decided to take another picture of this flower, it did not exist anymore. We all are like this flower: One moment we are here, the next we are gone.

By the way: The next morning the flower was back again, at the same spot. Whether it was the same flower, I do not know.

Santa Cruz do Sul, 15 January 2025

Mittwoch, 15. Januar 2025

On reality

 What we call reality is very probably the biggest delusion there is.

The call to get real means to accept the folly that we've created. Consider this: Given that we are totally lost in the universe (we do not know where we come from, have no idea what to do here, are at a complete loss as to what awaits us once we'll perish), what we are craving most is something to hold on to –  certainty, stability and order,  that is. 

The mass media now tell us that the whole world is looking forward to January 20, when the new American president, the ultimate embodiment of chaos and confusion, will be sworn in. Well, I do not. Also, I do consider all who wonder what this moron is coming up with irrational at best. That it is presented to the world as rational, is bonkers. Fact ist: What is real is not decided by any majority.

Sadly, the majority-version is the kind of reality we are living in; it is a reality that man has created. Nothing could be further from how things really are – for the universe couldn't care less what we think of it. Also, it does not depend on us, we depend on the universe.

"Our human resources, as marshalled by the will, were not sufficient, they failed utterly." (Alcoholics Anonymous). To rely on our thinking is foolish for it can trick us into believing pretty much anything – from not wanting to shake a woman's hand to voting corrupt and highly incompetent men and women into office. We would be well advised to keep in mind Philip K. Dick's insight: "Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away."

Santa Cruz do Sul, 3 January 2025

Sonntag, 12. Januar 2025

Ich möchte lieber nichts

John von Düffel, 1966 in Göttingen geboren, macht sich auf nach Edinburgh, wo er Fiona treffen will, mit der er vor fünfunddreissig Jahren zusammen studiert hat. Philosophie, in Stirling. Sie waren damals kein Paar gewesen, doch er hat in all diesen Jahren oft an sie gedacht. Noch an fast jeden Satz von ihr erinnert er sich, und vor allem an ihre Stimme.

"I want to sit on a stone and think", hatte Fiona damals gesagt. Ob sie das gemacht habe?, will John wissen, worauf sie schroff antwortet: "Glaub ja nicht, dass ich dir mein Leben erzähle." Doch genau das tut sie in der Folge, nicht am Stück, und nicht im Sinn eines stimmigen Narrativs, sondern bruchstückhaft. Es ist eine Lebensauseinandersetzung, ein Prozess, nie abgeschlossen, jedenfalls für Menschen mit Fionas Naturell. 

Während des Studiums waren sie Aussenseiter, beide auf ihre jeweils eigene Art. John schloss sein Studium ab, Fiona brach es ab, da sie sich um ihren gelähmten Vater kümmern musste; auch vom Temperament her sind die beiden sehr verschieden. Das klassische Narrativ würde John vermutlich als arriviert und Fiona als gescheitert bezeichnen, doch das trifft es nicht einmal ansatzweise. Unsere  Erklärungen sind selten etwas anderes als Manifestationen unseres gewohnten Denken und dieses kommt dem, was uns antreibt, nur selten nahe. Ich möchte lieber nichts bricht dieses gewohnheitsmässige Denken (reflektiert, differenziert und folgenlos) teilweise auf; das liegt wesentlich an der Radikalität von Fiona, deren Lebensumstände ihr Denken formen.

À propos Narrativ: "Jedes Narrativ ist manipulativ", erläutert John. "Es dreht und wendet die Details, damit am Ende herauskommt, was am Ende herauskommen soll. (...) Ich traue weder den Geschichten noch dem reinen Gedanken, weder der Narration noch der Abstraktion. Insofern kehre ich nach unserem Philosophiestudium und einem langen Umweg über das Erzählen zu unseren Anfängen zurück: zu den Fragen, von denen wir damals ausgegangen sind." Eine logische und sehr konventionelle Überlegung, der jedoch entgeht, worauf Fiona aufmerksam macht: "Rückkehr zu den Anfängen ist ein klassisches Narrativ." Und: "Die Wahrheit ist, du kehrst nicht zurück, und du wirst auch nicht bleiben."

Es ist ein dichter Text, fragend, suchend, explorierend, und wieder fragend. Im Zentrum ihrer Gespräche steht die Frage: "Wie lebe ich richtig?" Keine Frage, die mich mehr umtreibt, auch heute noch, mit 71. Aber eben auch eine Frage, die man nur mit wenigen Menschen angehen kann. John von Düffel kann es mit Fiona, die bereits während des Studiums immer zuerst überlegte, bevor sie eine Antwort gab (bei den meisten erfolgen Antworten automatisch, ohne nachzudenken) und die sehr direkt mit ihm umgeht.

Sie habe gelernt, ohne Antworten zu leben, sagt Fiona. "Und wie lernt man das?", will John wissen. "Fiona wirft den Kopf zurück, ohne zu lachen. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass es auch darauf keine Antwort gibt." Wunderbar!

Fiona kommt aus der Unterschicht, studieren kann sie wegen eines Stipendiums. Wie sie die bürgerliche Erziehung wahrnimmt, ist für jemandem wie mich, der wie John von Düffel dem Bürgertum entstammt, ein Augenöffner. "Bürgerliche Erziehung, wie ich heute weiss, ist die Übertragung der Erwartung der Eltern auf ihre Kinder. Und sie hat Erfolg, wenn die Kinder anfangen, von sich zu erwarten, was ihre Eltern von ihnen erwarten." Mit der Zeit werden diese Erwartungen derart verinnerlicht, dass die Kinder sie für ihre eigenen halten. Bei mir war es allerdings nicht so, doch das ist eine andere Geschichte ...

"Eine Geschichte vom Konsumverzicht" lautet der Untertitel. Klar, alles in unserer Konsumgesellschaft ist aufs Haben, aufs Immer-Mehr, aufs Den-Hals-Nicht-Vollkriegen ausgerichtet, doch was Fiona zum Konsum ("Konsum ist Diskriminierung") sagt, ist für mich neu. "Sich von anderen zu unterscheiden ist die Idee von Konsum. Dabei geht es nur vordergründig um Genuss, es geht um Gesehenwerden beim Geniessen und um die geheimen Codes, die deinen Rang definieren ...". Andererseits: Konsum ist auch Ablenkung. Und häufig ist Konsum Sucht. Fiona begreift ihn in erster Linie als Abhängigkeit.

Abhängig sind wir von Vielerlei. Und zuallererst vom Geld, dem Einzigen, woran wir alle glauben. "Die meisten Abhängigkeiten, in denen wir stecken, sind Beziehungen (...) Wer in einer Konsumgesellschaft lebt, aber nicht konsumiert, ist nicht Teil der Gesellschaft." Dazu kommt, dass der Konsum den Status bestimmt. Übrigens. Der Kapitalismus ist nicht dazu da, seine Glücksversprechen einzulösen, sondern mit der "Produktion von Mangel und Bedürfnissen" beschäftigt. Dafür braucht es Konsumenten, weshalb uns denn auch ständig eingeredet wird, wir seien alle Individualisten, für die vor allem charakteristisch ist, dass sie das wollen, was alle anderen auch wollen. "Ich will das haben, heisst, ich will die Person sein, die das hat."

"Du hast Angst vor der Veränderung, ich habe Angst vor der Nichtveränderung", schreibt Fiona nach Berlin. Der Unterschied der beiden liegt in ihrer Persönlichkeit und diese zeigt sich in der Art und Weise wie man lebt. Das Mass, so Fiona, das sei sie selber. Im Falle von John von Düffel ist das vermutlich komplizierter.

Das Buch endet mit einem Besuch von Mariann, Fionas Tochter, bei John in Berlin. Es ist ein ganz wunderbares, sowohl leichtes wie auch trauriges Kapitel, denn Mariann ist nicht nur eine Art jüngere Ausgabe von Fiona, sondern erzählt auch einiges von ihr, das John bislang gar nicht auf dem Radar gehabt hatte. Ob die Wahlmöglichkeiten, die wir zu haben glauben, auch wirklich welche sind?

Ich möchte lieber nichts ist ein aussergewöhnliches, ein wesentliches, mir sehr sympathisches Buch. Gut geschrieben, der Aufrichtigkeit verpflichtet, berührend, erhellend und hilfreich.

John von Düffel
Ich möchte lieber nichts
Eine Geschichte vom Konsumverzicht
DuMont Buchverlag, Köln 2024

Mittwoch, 8. Januar 2025

Wie man sein Leben meistert, indem man grandios scheitert

Man merkt es bereits auf den ersten Seiten, dass dies ein wirklich tolles Buch ist: Es ist der frische Ton, das eigenständige Denken, der Witz, die dazu beitragen, dass die Lektüre eine wahre Freude ist. Die Autorin Titiou Lecoq, geboren 1980, referiert nicht einfach, was sogenannte Grössen über Balzac geäussert haben, sie setzt sich damit auseinander. Auch ist Balzac selber für sie nicht die letzte Autorität in eigener Sache. So zeigt sie etwa, dass seine Schilderung seiner eigenen Mutter kaum ein realistisches Porträt gewesen sein kann

Realistisch ist hingegen (jedenfalls für meine Vorstellungswelt) wie Titiou Lecoq Balzac charakterisiert: "Er wollte bekannt, geliebt und reich werden." Und: "Balzac war ein Genie und ein sympathischer Loser, von dem wir lernen können, unser Leben selbstbestimmt zu führen. Und für eine erfolgsverliebte Gesellschaft wie die unsere ist er ein strahlendes Gegenbeispiel."

Gestaunt habe ich, dass Balzac, dessen Eltern ihn als künftigen Notar sahen, ihn bereitwillig unterstützen, als er beschloss, Schriftsteller zu werden. Und noch mehr gestaunt habe ich, dass er mit Anfang zwanzig eine Tragödie über Cromwell verfasste. Woher sein einschlägiges Wissen stammte, erfährt man leider nicht.

Dafür erfährt man einiges über das damalige Paris, wo Sein und Schrein identisch waren (und immer noch sind), was dem wenig attraktiven Balzac gar nicht entsprach. "Den Kriterien seiner Zeitgenossen zufolge glich Honoré eher einem Wurstverkäufer auf einem Markt in Tarn als jemandem, der den existenziellen Schmerz einer Epoche verkörpern musste." Zudem war er ruhmsüchtig, wollte zu den Adeligen gehören, doch die sogenannt besseren Kreise betrachteten ihn keineswegs als einen der ihren.

Balzac und Ich bietet überzeugende und überaus hilfreiche Aufklärung. So thematisierte Balzac die Wichtigkeit des Geldes, was revolutionär war, dominierte doch die Auffassung (die sich bis heute in weiten Kreisen gehalten hat), die schöngeistige Literatur solle nicht mit Profanem verunreinigt werden. Die Ironie dabei: Er selber konnte mit Geld überhaupt nicht umgehen. Er gab Geld aus, das er hatte, und auch Geld, das er nicht hatte. Die Schulden türmten sich, Mässigung kannte er nicht.

Wie jedes biografische Werk, so vermittelt auch Balzac und Ich viel Aufschlussreiches über die damalige Zeit, in der es üblich war, dass vermögende Eltern ihre Kinder in die Obhut einer Amme gaben. Und man lernt: Für den Code Civil, der 1804 erlassen wurde, war es das Eigentum, das die Familie begründete. "Es regelte daher die finanziellen Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern."

Ausgiebig widmet sich Titiou Lecoq der Situation der Frau, die damals weitestgehend ohne Rechte war.  "Balzac beschrieb die Frauen so, wie sie sind, und nicht so, wie sie sein sollten, er stellte sie in den Vordergrund seiner Handlungen und schilderte sogar ihre Verschiedenheit. Ein unerträgliches Verbrechen für viele Kritiker seiner Zeit."

Balzac und Ich gehört zu den Büchern, die mich oft lachen machten. Weniger über Balzac, dessen Naturell mir ein Rätsel ist (so handelte er etwa komplizierte Verträge aus, an die er sich jedoch nicht gebunden fühlte), als über den Scharfsinn von Titiou Lecoq, die weit mehr als eine Biografie geschrieben hat, nämlich eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen. Zu diesen gehört auch, wie es bloss möglich ist, dass die Mehrheit sich ausbeuten lässt. Und: "Wie können wir im Einklang mit unseren Werten leben, wenn die Gesellschaft sie nicht teilt?"

Man mag es als Tragik begreifen, dass Balzac just in dem Moment starb, als er das Glück, nach dem er sich sehnte, zu fassen bekam. Man kann es aber auch ganz anders sehen: Er starb, als er zu kämpfen aufhörte. Welche Version man bevorzugt, ist eine Frage des eigenen Naturells.

Er habe zwar etliche Schwächen gehabt, sei aber im Grunde ein feiner Kerl gewesen, so Titiou Lecoq, die höchst wohlwollend mit Balzac umgeht, der ein Leben lang von Obsessionen getrieben war, die er nicht einmal ansatzweise konfrontiert, jedoch wortreich rationalisiert hat. So entstand grosse Literatur, die auch heute noch aktuell ist, wie Titiou Lecoq sehr schön am Beispiel Emmanuel Macrons darlegt.

Titiou Lecoq
Balzac und Ich
Wie man sein Leben meistert, indem man grandios scheitert.
Friedenauer Presse, Berlin 2025