Mittwoch, 28. Mai 2025

In praise of not-thinking

How are you today?, the overweight German shouts at his tiny Thai wife, who is looking for shelter in the shade. Too much think, headache!, she responds.

As far as I'm concerned, I do love thinking, I can't get enough of it. For most of my life, I used to believe that thinking was useful. And, to some extent, it surely is. It however also causes problems that are a nuisance, happen to be totally unnecessary and are basically a distraction.

The best state of mind, this only recently started to dawn on me, is not-thinking

Santa Cruz do Sul, 22 December 2022

Sonntag, 25. Mai 2025

Das Geld & die Zahnbürste

Es ist selten, dass ich bereits nach den ersten Zeilen weiss, dass ich ein wesentliches Werk in Händen halte. Von der Würde des Menschen ist da die Rede, deren Inhalt "offen ist und offen bleiben muss und sich daher mit der genormten Sprache und dem nüchternen Denken von Juristen kaum vereinbaren lässt." Sonderbar (und dann wieder auch nicht), dass mich Denkerinnen, die nicht als Juristinnen ausgebildet wurden (hier: Herta Müller, zuvor: Petra Morsbach), mir, der ich einst Jura studiert (doch nie praktiziert) habe, Kennzeichnendes der juristischen Sprache deutlich machen.

Wie soll man leben?, sei die grosse Frage in der Diktatur gewesen. So recht eigentlich stellt sich diese Frage natürlich immer, doch wer sich dafür entscheidet, sich einer Diktatur zu verweigern, hat Folgen zu ertragen, die denen, die das nicht erfahren haben, kaum verständlich sind. Wie soll man leben?, bedeutet auch, sich zu fragen, wie man sein will. "Eigentlich wusste ich gar nicht, wie ich sein will, wer weiss das schon von sich. In einem gewissen Sinn wusste ich es dennoch, weil ich jeden Tag um mich herum sah, wie ich nicht sein will und auf keinen Fall werden darf."

"Freiheit und Würde sind immer konkret." Im Alltag zeigt es sich, was das heisst. Herta Müller weigert sich, Kollegen zu bespitzeln. "Ich hatte mir eine Freiheit erlaubt und dadurch eine Würde gerettet, die in diesem Land nicht vorgesehen war." In einer Diktatur sind die Konsequenzen gravierender als in einer sogenannten Demokratie (wo das Geld und nicht das Volk regiert), doch nicht mitzumachen bei dem, was ein System verlangt, wird immer sanktioniert.

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald versammelt Essays zu ganz unterschiedlichen Themen, der gemeinsame Nenner ist das genaue Beobachten und das eigenständige Reflektieren der Autorin. Unter dem Titel "Heimweh nach Zukunft" erfahre ich unter anderem von Menschen, die zur Zeit der rumänischen Diktatur, ihr Denken und Trachten auf Fluchtmöglichkeiten projiziert haben. So haben einige Orientalistik studiert, um vielleicht eine Dienstreise nach Japan zur Beantragung von Asyl benutzen zu können, andere wurde technische Zeichner, in der Hoffnung, bei der Geländevermessung nahe der Grenze eingesetzt zu werden. Not macht erfinderisch, heisst es bekanntlich. Herta Müller demonstriert dies an konkreten Beispielen.

"Wenn ich mit dem Zug von Temeswar nach Bukarest fuhr, liefen die Schienen eine Weile ganz nahe an der Donau entlang. Man sah hinüber nach Jugoslawien. Und wenn dieser wegabschnitt anfing, standen in jedem Abteil alle allmählich auf. Ohne Grund, ohne ein Wort standen alle, absolut alle auf, gingen auf den Gang und schauten über die Grenze hinüber nach Jugoslawien."

In der chinesischen Diktatur, zitiert sie Liao Yiwu. praktiziert der Staat seine "uralte Tradition, Verbrechen mit Verbrechen zu regieren." Auch ist die Zensur alltäglich, was sie an Boris Pasternak erinnert, dessen Publikation von "Doktor Schiwago" durch Feltrinelli die Sowjets zu verhindern trachteten. "Zu Pasternaks Zeiten brauchte man für die Verhinderungen Intrigen, Geheimdienste und Delegationen. Heute besorgen ehemalige Manager grosser deutscher Unternehmen diese Angelegenheiten." Und Schriftstellerinnen wie Juli Zeh, der man mit Schmeicheleien offenbar das Hirn ausschalten kann.

Herta Müller ist breit interessiert, macht sich Gedanken über Casablanca, "ein Film über die Flucht vor Hitler – aber Juden kommen darin nicht vor. Und auch in den Namen der grossen Hollywood-Studios kommen keine jüdischen Namen vor [...] weil die Produzenten des Films diese antisemitischen Vorurteile des Publikums kannten.", beleuchtet das Ausblenden des Exils in der deutschen Nachkriegszeit (so erschienen etwa Hermann Ullsteins Erinnerungen erst 70 Jahre nach ihrem Erscheinen in den USA!), und zeigt am Beispiel der Gruppe 47 eindrücklich auf, wie feige und opportunistisch einige ihrer Mitglieder (Günter Grass, Günter Eich, Alfred Andersch, Hans Werner Richter, Walter Jens) sich verhielten, so dass es wieder einmal in mir denkt: Wer sich öffentlich moralisch zeigt, ist es wohl eher nicht.

"Wer im Exil war, gilt in Deutschland bis heute nicht als Opfer." Wer diesen Satz auf sich wirken lässt, wird erkennen, dass die gleichgeschaltete Gesellschaft von damals und von heute, nicht einmal ansatzweise mit denen klarkommt, die sich nicht gleichschalten lassen. Und wer würde bei diesem Satz nicht auch an das heutige Russland denken? "Der Nationalsozialismus hatte neben der Vernichtung der europäischen Juden auch die Auslöschung der Moderne zum Ziel." 

Obwohl die hier vorliegenden Texte zumeist von Vergangenem handelt, ist vieles davon nicht nur aktuell, sondern gar nie vergangen oder immer noch da. "Für Carl Zuckmayer hatte in den 30-er Jahren 'die Unterwelt ihr Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheusslichste unreinsten Geister losgelassen' zum 'Begräbnis aller menschlichen Würde.'" Für nicht wenige beschreibt das genauso ihre heutige Realität.

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald ist reich an vielfältigsten Anregungen und so recht eigentlich ein Buch für Neugierige, die es schätzen, Entdeckungen machen und die gerne überrascht werden (klar doch, so sehe ich mich selber), denn Herta Müller erzählt derart viel höchst Aufschlussreiches, dass man nicht nur immer mal wieder ungläubig den Kopf schüttelt (etwa dass der der vor den Nazis geflohene Schauspieler Conrad Veidt in Hollywood regelmässig Nazis spielte) und sich Fragen stellt, die den meisten wohl gar nie in den Sinn kämen. "Kann man Humor lernen?" Ja, meint sie. Ich selber sehe das zwar anders, doch man lese ihre lohnenswerten Ausführungen.

Herta Müller
Eine Fliege kommt durch einen halben Wald
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2025

Mittwoch, 21. Mai 2025

My Next Breath

Von Jeremy Renners Unfall habe ich gehört, als Schauspieler ist er mir kein Begriff. Wie komme ich also dazu, dieses Buch zu lesen? Mich interessiert, wie Menschen mit Schicksalsschlägen umgehen. Der Untertitel heisst: Die Geschichte meines Überlebens.

Im Prolog beschreibt Jeremy sich als einen, für den wichtig ist, etwas zu tun. "Nicht nur an Sachen denken, nicht bloss Sachen fühlen – den ersten Schritt tun und dann den nächsten und dann den nächsten. Tu es!" Ein typischer Amerikaner also. Gut möglich, dass mir und anderen sein Imperativ ("Für mich war Handeln alles") auch gut tun könnte.

Am Neujahrstag 2023 gerät er unter eine sechs Tonnen schwere Pistenraupe. Er weiss nicht wirklich, was mit ihm geschehen ist. "Ich habe keine Informationen über den Zustand meiner Knochen, meines Körpers, nur dass ihm ein entsetzliches Unglück widerfahren ist." Er realisiert, dass er nicht atmen kann. Er versucht es trotzdem. Und weiss gleichzeitig, dass das ein Problem ist. "All das floss in diesen Augenblick ein."

Es ist überaus aufschlussreich und bewegend, ganz speziell in Anbetracht dessen, was gerade geschehen ist, was er über das Atmen schreibt, das für ihn immer eine besondere Wichtigkeit gehabt hat. Die Botschaft "Atmen nicht vergessen" erschien einst auf dem Startbildschirm seines Handy; das bewusste Atmen ersetzte Valium und Joint. "Es ist so viel besser, der eigenen Lunge zu vertrauen als eine Droge." Als es ihm schliesslich gelingt, einen Atemzug zu machen, ist er sich gewiss, dass er nicht sterben wird.

Das Ehepaar, vor dessen Haus er liegt, ruft die Rettung und kümmert sich um ihn. Die Dramatik dieser Situation wird so eindrücklich vermittelt, dass man glaubt, vor Ort mit dabei zu sein. Das Verblüffendste für mich ist: "Obwohl mein Körper völlig zerschmettert ist, mein Auge heraushängt, jeder Atemzug einem qualvollen Liegestütz aus den Tiefen des Ertrinkens gleichkommt (was auch immer das heissen mag!?), gelingt es meinem Verstand, sich in eine Art instinktives Problemlösen zu versenken." Wieder einmal denkt es so in mir: es ist der Lebenswille, der uns regiert.

Jeremys Tu-Etwas-Mentalität prägt auch seinen Umgang mit seinen Ängsten. "Hatte ich die Angst erst benannt, musste ich jeden Tag Schritte ergreifen, um sie zu bekämpfen." Er lernt, dass es ungeheurer Energie bedarf, um einer Angst zu begegnen. Und diese Energie setzt er zielgerichtet ein. Entscheidend scheint ihm, "das zu ermitteln, was man nicht tun will. Wichtiger als das, worin man gut ist."

Es spricht sehr für dieses Buch, dass es keine Nabelschau ist, sondern die von diesem schweren Unfall mannigfaltig Betroffenen mit einbezieht  Vom Ehepaar, das plötzlich einen Schwerverletzten vor ihrem Haus findet, bis zur Tochter, die sich an diesem Morgen fragt, wo bloss ihr Vater steckt, bis zu seiner Schwester, deren unmittelbare Gedanken nach der Nachricht vom Unfall, sie wohl selber nicht recht verstand. "Es ist kaum zu glauben, wie ein Verstand unter Trauma reagiert."

Jeremy Renner beschreibt sich selber als rechthaberisch. Er sei bekannt für seine Renner-Ansagen, die er ungefragt an Leute heranträgt. Dabei stösst er oft auf Widerstand. "Aber ich bleibe beharrlich, und sobald einer kapiert, hat sich das Ganze gelohnt." An Selbstbewusstsein fehlt es dem Mann wahrlich nicht, und dieses trug auch wesentlich zu seinem Überleben bei.

"Ich weiss, dass ich starb – vielmehr bin ich mir dessen sicher." Ausführlich erzählt er, was er dabei erlebt hat. Er macht die Erfahrung, dass man sich vor dem Tod nicht zu fürchten braucht. Schon immer hatte er gespürt, dass wir über unsere Galaxien hinausreichen. "Dieser Tod bestätigte es mir: Ich war nirgends, in einem nicht-linearen Energieland voller Schönheit und Wunder."

My next Breath ist nicht nur ein eindrückliches Dokument des Überlebenswillens, sondern ebenso der Macht des Schicksals. Vor allem jedoch zeugt es von der Erfahrung, "Teil von etwas zu sein, das viel grösser ist als ich."

Jeremy Renner
My Next Breath
Die Geschichte meines Überlebens
Penguin, München 2025§

Sonntag, 18. Mai 2025

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken ist nicht nur ein ganz wunderbarer Titel, sondern auch die kurze und prägnante Zusammenfassung dessen, was in diesem Buch ausgeführt wird. Es empfiehlt sich, immer mal wieder darauf zurückzukommen, und bei diesem Gedanken, der nichts anderes ist als ein Gedanke, zu verweilen. Am besten etwas länger als die halbe Minute, die für eine Fernsehmoderatorin offenbar genügt hat. Nun ja, die mediale Präsenz des Autors hat ihren Preis, was sich auch am Inhaltsverzeichnis ablesen lässt. Kapitelüberschriften wie "Geringes Selbstwertgefühl überwinden" oder "Schuld und Scham transformieren" erinnern fatal an Selbsthilfebücher, und obwohl auch in diesen immer ein Körnchen Wahrheit steckt, wie Autor Muho ausführt, ist Alles, was du denkst, sind nur Gedanken etwas ganz anderes: Eine Anleitung, sich mit dem Leben zu konfrontieren, wobei der Akzent auf dem Alltag liegt.

Im Vorwort erläutert Muho, der 1968 in Berlin geborene, frühere Abt von Antaiji, einem tief in den japanischen Bergen gelegenen Zenkloster, der heute u.a. auf Youtube aktiv ist, dass es darum gehe, die Gedanken zu beobachten. Zudem lädt er dazu ein, "die praktischen Übungen auszuprobieren und die Reise, auf die wir uns gemeinsam in diesem Buch begeben, als dein eigenes Abenteuer zu betrachten. Es gibt keine festen Antworten, keine fertigen Lösungen – nur die Möglichkeit, den nächsten Moment bewusster zu erleben."

Ich selber mache das schon seit längerem, beobachte oft nach dem Aufwachen die Gedanken und Gefühle (ich kann die beiden nicht unterscheiden), die mir durch den Kopf gehen. Wozu lese ich also dieses Buch? Weil ich nicht genug daran erinnert werden kann, dass einfach da zu sein und nichts zu tun, mich potentiell im Hier und Jetzt sein lässt. Potentiell? Ja, denn mein antizipatorisch angelegtes Hirn, will das nicht, rennt dauernd weg, in die Vergangenheit, in die Zukunft, nach hier und dort, doch immer weg aus dem Moment, der gerade ist

"Wie befreie ich mich vom Leiden?" ist ein Kapitel überschrieben, das, wie die anderen Kapitel auch, durch klare und einfache Worte von Kodo Sawaki eingeleitet wird, die deutlich machen, dass das Leben und unsere Vorstellung vom Leben zwei ganz verschiedene Dinge sind. "Wir sind so beschäftigt mit der Geschichte, die wir uns von unserem Leben erzählen, dass wir es oft versäumen, auch tatsächlich zu leben", schreibt Muho.

Wir alle halten uns für den Mittelpunkt der Welt. Diese dreht sich um uns, wir alle erleben uns als Hauptdarsteller in einem Film, obwohl wir für die anderen bestenfalls Nebendarsteller sind. Sich einmal vom Standpunkt des Mondes aus zu betrachten, ist definitiv nützlicher.

Die Antworten auf unsere Fragen finde man nicht in Büchern, so Muho. Warum schreibt er dann überhaupt ein Buch? "Um dir zu helfen, dich deinen eigenen Fragen zu stellen, ohne vorschnell nach Auswegen zu suchen." Dazu gibt er viele praktische Anleitungen, etwa: "Begib dich nicht in die Position dessen, der sich die Frage stellt, sondern sei ganz der, dem die Frage gestellt wird. Stelle dich deiner Frage."

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken vermittelt ganz viele wertvolle Einsichten  von Vorschlägen, wie man intelligent mit seiner Wut umgehen kann, zum Umgang mit seinen Ängsten. Entscheidend ist letztlich jedoch dies: "Solange du es nicht im Alltag praktizierst, wird dein Wissen keine Wirkung haben." Doch so hilfreich ich dieses Buch auch finde – es sei allen empfohlen, die sich ernsthaft mit sich selbst und dem Leben auseinandersetzen wollen – , es gibt auch Aspekte, die allzu vieles nicht erklären. So heisst es etwa: "Auch wenn die wenigsten von uns an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden, sollte man nicht vergessen, dass die meisten von uns narzisstische Züge tragen, die ihnen vielleicht gar nicht bewusst sind." Das ist zweifellos richtig, doch der Blick auf sich selber ist entschieden nicht angesagt, wenn viele der sogenannten politischen Führer oder Unternehmerinnen empathielose Egomanen sind, unter denen vor allem die sozial Schwachen zu leiden haben.

Ein anderes Beispiel: Meditation kann Therapie ergänzen; es kann allerdings vorkommen, dass sie Depressionen oder Panikattacken verschlimmert. "Wenn du dich in psychotherapeutischer Behandlung befindest, solltest du gegebenenfalls deinen Therapeuten fragen, ob Mediation für dich ratsam ist oder nicht. Keinesfalls solltest du glauben, dass eine Psychotherapie durch Meditation ersetzt werden kann. Das ist nicht der Fall!" Zugegeben, das klingt vernünftig. Ob allerdings die Psychotherapie Depressionen oder Panikattacken lindern kann, halte ich zumindest für fraglich. Meines Erachtens schafft die psychologische Herangehensweise die meisten Probleme erst, die sie vorgibt, zu "lösen".

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken überzeugt durch die Verbindung von Erläuterungen und praktischen Übungen sowie dadurch, dass alles, was Muho hier ausbreitet, einen persönlichen Bezug zu ihm und seinen Erfahrungen hat. Wobei: Eine Nabelschau ist das nicht, beileibe nicht, sondern das Bemühen, das Leben direkt und unverfälscht zu erfahren. Dabei steht uns vieles im Weg, insbesondere unsere Vorstellungen und Erwartungen.

"Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden", zitiert Muho auch den US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr. Meine eigene Erfahrung mit diesem Gelassenheitsgebet, hat sich in den 40 Jahren, die ich es kenne, einige Male gewandelt. Auch Muho erzählt von sich wandelnden Sichtweisen; er handelt dies an der bekannten buddhistischen Geschichte von der Mutter ab, die untröstlich über den Tod ihres kleinen Kindes ist. Es ist der Perspektivenwechsel, der uns immer wieder erlaubt, das Leben neu zu sehen.

Wenn, dann. Dieses Denken gehört zu den grössten Hindernissen, die unseren Lebensweg beschweren. Ich bin noch nicht soweit, ich brauche Zeit, das ist nicht der richtige Moment. Wir alle kennen das. Muho zitiert Benjamin Hoff, den Autor von The Tao of Pooh: "'Welchen Tag haben wir?', fragte die Eule. 'Heute', quiekte das Ferkel. "Mein Lieblingstag', sagte Pooh." Wunderbar! Besser geht es so recht eigentlich nicht.

Muho
Alles, was du denkst, sind nur Gedanken
Ballast loswerden und im Jetzt ankommen
O.W. Barth, München 2025

Mittwoch, 14. Mai 2025

Not-God

 . . . the fundamental and first message of Alcoholics Anonymous to its members is that they are not infinite, not absolute, not God. Every  alcoholic’s problem had first been, according to this insight, claiming God-like powers especially that of control. But the alcoholic, at least, the message insists, is not in control, even of himself; and the first of recovery towards recovery from alcoholism must be admission and acceptance of this fact that is so blatantly obvious to others but so tenaciously denied by the obsessive-compulsive drinker.

Ernest Kurtz

Sonntag, 11. Mai 2025

Sucht und Spiritualität

"Ich erwarte nicht, dass alle, die das Buch in die Hände bekommen, sämtliche Inhalte auf Anhieb teilen mögen. Dafür ist die Vorstellung von den Elementalen zu unvertraut. Lassen Sie aber die daraus hergeleiteten imaginalen Methoden zu sich sprechen, werden Sie nicht unberührt bleiben", so der Autor, der über 30 Jahre Erfahrung in der Drogen- und Suchtarbeit verfügt, in seinem Vorwort.

Der Begriff Elemental geht auf Paracelsus zurück, der den vier klassischen Elementen Wasser, Luft, Erde und Feuer, eine bestimmte Gruppe von Geistern zugeordnet hat. "Manche Geister bezeichnet er im Gefüge seiner Systematik als Elementale. In erster Linie sieht er in den Elementargeistern positive, gute und hilfreiche Elementale am Werk, die als von Gott geschaffene Wesen dem Leben förderlich und dienlich sind."

Mir sind solche Vorstellungen fremd, obwohl ich es plausibel finde, dass es böse, unreine und dämonische Kräfte wie auch dienstbare Geister im Universum gibt. Helmut Kuntz führt aus: Auch Jesus Christus standen dienstbare Geister zur Verfügung, zudem verfügte er über heilsame Kräfte, die mit dem Verstand nicht erklärt werden können. Nur eben: Jesus Christus ist für mich keine historische Figur; er repräsentiert die Weltanschauung, mit der ich aufgewachsen bin.

"Wenn Sie als Leser gerade Vorbehalte gegen die bildhaften Beschreibungen mancher Elementale als Schlangen oder andere Tiere verspüren sollten, dann springen Sie doch kurz voraus (...) Es wird Ihnen dann wie Schuppen von den Augen fallen, wenn Sie erfahren, in welchen Gestalten süchtig abhängige Menschen ihre erzeugten Elementale sehen." Bei mir ist das vom Autor Prophezeite zwar nicht eingetreten, doch dass ich selber keinen Zugang zu diesen Gestalt-Visualisierungen habe, bedeutet natürlich nicht, dass sie für andere nicht funktionieren können. 

Engel und Schutzengel sind heute vermutlich den meisten Menschen fremd. Ersetzen wir diese Begriffe jedoch durch "gute Energie" oder "positive Kräfte", haben wiederum viele damit überhaupt keine Mühe. "Viele meiner weiblichen wie männlichen suchtgefährdeten Patienten haben nicht die geringste Scheu, mir von der Hilfe ihrer Engel in ihren schlimmsten Momenten zu berichten, sobald sie spüren, dass ich offen dafür bin und ihre Berichte mit andächtigem Ernst verfolge", schreibt Helmut Kuntz. Allerdings glaube ich nicht, dass es daran liegt, dass der Therapeut/Berater offen dafür ist oder über andächtigen Ernst verfügen muss, denn wenn Leute reden wollen, reden sie. Worüber auch immer. Der Zuhörer ist meist nicht besonders relevant.

Wichtig für das Gelingen eines (möglichst) suchtfreien Lebens, scheint mir weniger der Therapeut oder die Therapeutin oder eine bestimmte Methode, als die Grundhaltung des oder der Süchtigen. Als ich mich nach sechs Jahren alkoholfreiem Leben in Hazelden, Minnesota, über die Ausbildung zum addiction counselor kundig machte, fragte mich der Cheftherapeut auch nach meiner Motivation. Ich sei immer an existenziellen Fragen interessiert gewesen, sagte ich, worauf er meinte, dann sei ich bei ihnen an der falschen Adresse, da es in Hazelden darauf ankäme, die Patienten wieder zurück in den Job und zur Familie zu bringen. Ich verzichtete, ihn darauf hinzuweisen, dass möglicherweise der Job und die Familie die Sucht ausgelöst oder dazu beigetragen haben. Dass wir in süchtigen Zeiten leben, zeigt sich auch in "unserem" Wirtschaftssystem, das bekanntlich auf Mehr-Mehr-Mehr basiert.

Wir wissen nicht, was eine Sucht auslöst oder was sie zum Stoppen bringt. In meiner Vorstellung war nicht ich es, der mit dem Saufen aufgehört hat, vielmehr ist mir eine Gnade widerfahren. Helmut Kuntz zitiert eine Kollegin, der viel mit Kindern und deren Eltern arbeitet. "Die Therapien mit ihnen, das, was wirkt und heilt, hat für mich einen spürbaren spirituellen Ursprung. Da sind immer die Gewissheit und Freude in mir, dass ich mich in meiner alltäglichen Arbeit davon getragen und gestützt fühle." Für mich handelt es sich dabei um eine Art "Chemie", um "etwas in der Luft". Ich stelle mir vor, es ist immer da, ob ich oder der/die andere oder beide zusammen es spüren oder nicht. "The readiness is all", sagt Horatio in Hamlet.

 Helmut Kuntz trifft mit seiner Einschätzung, dass Sucht mehr ist als Medizin, ins Schwarze. Meine eigene Erfahrung (seit über 35 Jahren trockener Alkoholiker) und meine intensive Beschäftigung mit Sucht und Verhaltensänderungen, hat mir die Wahrheit von Shakespeares "Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt." immer wieder von Neuem bewusst gemacht. So war seit meinem 14ten Lebensjahr meine fixe Idee, nur an einem Montag könnte ich mein Leben ändern. Dazu kam im Laufe der Jahre, dass ein solcher Montag ein bedeutsamer Tag sein müsse, ein 1. Januar oder Weihnachten oder mein Geburtstag. Im Kopf wusste ich, dass das absurd war. Nur eben: In Tat und Wahrheit war Montag, der 1. Januar 1990, mein erster alkoholfreier Tag. Mit der gängigen Logik ist, jedenfalls gemäss meiner Erfahrung, der Sucht nicht beizukommen.

Helmut Kuntz gehört erfreulicherweise nicht zu denen, die glauben, das Rad neu erfinden zu müssen.  Dass er dabei auf das Heilen setzt, das eine lange Tradition hat, ist zwar nicht mein Ding (ich bin skeptisch gegenüber "besonderen Menschen" wie Heilern), doch in diesem Buch findet sich derart viel Reflektiertes und Hilfreiches zur Sucht, dass die Auseinandersetzung definitiv lohnt, und speziell das Kapitel Dharma oder das Eingebundensein in ein Drittes als Weg zum Ausstieg aus der süchtigen Abhängigkeit.

Sucht und Spiritualität plädiert übrigens nicht nur dafür, "uns wieder verstärkt anzubinden an ein höheres Wissen und die Qualität dienstbarer Geister", Helmut Kuntz singt auch das Lob des bestehenden Suchthilfesystems, das zu seinem Bedauern "leider viel zu selten angemessene Würdigung" erfährt. Ich kann das nicht beurteilen, mir selber ist es nie in den Sinn gekommen, das bestehende Suchthilfesystem in Anspruch zu nehmen. Doch da ich ein Anhänger der "Whatever works"-Herangehensweise bin und dieses Buch mich auf Aspekte aufmerksam macht, die ich so nicht auf dem Radar hatte, will ich Sucht und Spiritualität ganz unbedingt empfehlen

Helmut Kuntz
Sucht und Spiritualität
Abhängigkeit weiter denken,
neu verstehen, verbundener handeln
Schattauer, Stuttgart 2025

Mittwoch, 7. Mai 2025

Seelenpfade

"Seelenpfade, das sind Wege, auf denen wir gehen und uns dabei ganz im Einklang mit uns selbst fühlen, auf denen Körper und Geist zu einem harmonischen Rhythmus finden, der uns vorwärts trägt." Zugegeben, ich lese diesen Satz mit gemischten Gefühlen, glaube nicht, dass mich im Einklang mit mir selber fühlen von einem bestimmten Weg oder Pfad abhängt, doch ebenso gilt: Es gibt eindeutig Gegenden, die meiner Seele zuträglicher sind als andere. Der Untertitel "Warum ich durch Deutschland wandere, um zu mir selbst zu finden" ist jedoch gar nichts für mich – ich habe mich nie verloren, habe nur ganz verschiedene Variationen meines Ichs erlebt.

Die befürchtete Esoterik bleibt dann Gott sei Dank aus. Bereits auf den ersten Seiten stosse ich auf so schöne Formulierungen wie "Ruhe in der Bewegung" und so erhellende Sätze wie "Das befreit uns von einer der schlimmsten Geisseln unserer Epoche: dem dauernden Sich-entscheiden-Müssen." Und: "Wandern schafft Zufälle. Wir begegnen am Weg, wem wir eben begegnen. Was wir daraus machen, bleibt uns überlassen."

Sebastian Schoepp war lange Jahre bei der Süddeutschen als aussenpolitischer Redakteur für Spanien und Lateinamerika zuständig. Sein damaliger Alltag war die gängige Massenexistenz, von der erstaunlich viele glauben, sie sei persönlich und individuell. Als erdrückende Hierarchien, Arbeitsstress und gehetzte Daueraufgeregtheit charakterisiert er sie. Als er sich zusammen mit einem Freund zu Fuss von Darmstadt nach Heidelberg aufmacht, "fühle ich eine vergessene Entdeckerfreude in mir erwachen, ein ganz ähnliches Gefühl wie damals, als ich das erste Mal nach Buenos Aires flog und der schachbrettartige Grundriss der Stadt unter mir auftauchte wie eine Verheissung. Nun eben Frankfurt. Na und?"

Ich kann mich bestens identifizieren mit diesen Gefühlen, denn ich habe selber auch viel Zeit fern meines Schweizer Herkunftslands verbracht, und erst im Alter entdeckt, was stets vor meiner Nase lag. Vielleicht ist dieses Nicht-Sehen-Können dessen, was nahe liegt, ja auch eine Frage des Alters. Allerdings im Verbund mit der Neugier, die ich für ein Charaktermerkmal halte.

Seelenpfade erzählt von Sebastian Schoepps Umgang mit dem Leben. Der Wettbewerbsgedanke, dem sich die Mehrheit völlig hirnlos verschrieben hat, nervt ihn nicht nur, er will davon weg, denn sich ihm zu unterwerfen, macht ihn krank. So recht eigentlich macht der Wettbewerb (bei dem es ums Gewinnen und nicht etwa ums Mitmachen geht, wie uns die Schule belügt) sehr viele krank – dass wir in einer rundum kranken Welt leben, ist genauso offensichtlich, wie dass die meisten davon nichts wissen wollen.

Er sucht einen Gegenpol zum Leistungscredo der Arbeitswelt, macht diverse Abstecher. "Ich kannte Santa Cruz de la Sierra, Querétaro, Puerto Madryn, Cartagena de Indias, Valparaíso. Aber Tuttlingen? Bingen? Weinheim? Gütersloh? Miltenberg? Zittau? Detmold? Bad Bergzabern? Keine Ahnung. Inzwischen bin ich dort überall gewesen, und zwar zu Fuss."

Mittlerweile kommt ihm Deutschland wie "ein einziger grosser Geheimtipp" vor, beim Wandern erlebt er ein Gefühl von Freiheit und erfährt Welten, die sich nicht nur in verschiedenen Landschaften und lokalen Besonderheiten, sondern auch in den verschiedenen Dialekten ausdrücken. "In meiner Jugend stand 'Heimat' für Enge und Spiessigkeit, heute ist allenthalben eine Sehnsucht nach ihr zu entdecken, eine mögliche Folge des modernen Zwangs zur Mobilität." Auch wenn mir die Sehnsucht zur Heimat (ich weiss bis heute nicht recht, was Heimat eigentlich ist) abgeht, das Gefühl von Enge und Spiessigkeit in der Jugend kenne ich auch. Zudem scheint mir der Zwang zur Mobilität Hand in Hand zu gehen mit der Globalisierung, die zu einer einschläfernden Gleichförmigkeit geführt hat.

Seelenpfade ist informativ und kurzweilig (so erfährt man unter anderem, dass Breschnew, dem man einen Mercedes als Gastgeschenk{!}überlassen hatte, diesen in einer Kurve in den Graben fuhr), gemahnt gelegentlich auch eine aufschlussreiche Geschichtsstunde über die jüngere Vergangenheit, doch in der Hauptsache ist es eine reflektierte, praktisch-pragmatische und wunderbar anregende Auseinandersetzung mit der Frage, wie man leben soll.

Als einer, der viel seiner Lebenszeit ausserhalb von Deutschland verbracht hat, ist er sich bewusst, dass Aufenthalte in fernen Ländern ja oft auch der Versuch sind, ein anderer zu werden. Es ist ihm nicht gelungen, im Kern ist er der geblieben, der er immer gewesen ist. Ich teile diese Erfahrung, habe in meinen Jahren fern der Schweiz vor allem herausgefunden, wie schweizerisch ich bin. Und doch hat sich etwas geändert, schliesslich ist man anders in und auf der Welt, wenn sich der eigene Horizont erweitert hat, wozu auch Kopfreisen beitragen, so man sie denn wahrnimmt.

Es gibt Sätze in diesem Buch, die haben mich richtiggehend erwischt. Zu diesen gehört: "Stimmiges aber scheint uns innerlich zu verstören." Zu lernen, dass Kinder, so Bruce Chatwin, nicht still liegen können und herumgetragen werden wollen, und dass moderne Nomaden, von den Roma bis zu den Beduinen, verfolgt werden, weil sie die stabile Ordnung bedrohen, waren echte Augenöffner. "Der trotzige Rat der unruhigen Olga Tokarczuk: 'Beweg dich, beweg dich. Gesegnet sei, wer geht.'"

Es versteht sich: Es gibt ganz unterschiedliche Arten des Gehens. Da sind zum Beispiel die, die das Gehen als Leistungssport betreiben, wie die junge Mexikanerin neben mir auf dem Flug von Bogota nach La Paz, die strahlt, als ich ihr sage, für mich sehe das nach Tanzen aus. Mir selber steht die langsame Gangart näher, die Sebastian Schoepp als das "toskanische Einen-Schritt-vor-den-anderen-Setzen" bezeichnet. Eine bessere Lebensphilosophie kenne ich nicht.

Neben dem Autor kommen auch ganz viele andere Wanderer zu Wort, berühmte und weniger berühmte. Besonders angesprochent haben mich die Gedanken von Sabrina Radeck, mit denen ich mich bestens identifizieren kann. Sie beginnen so: "Ich mache mich merkwürdigerweise nie auf den Weg, um die Natur zu geniessen. Ich mache mich eher auf den Weg, um mich in der Natur oder auf dem Weg selbst zu erfahren ...".

.Seelenpfade schildert höchst anschaulich eine Entdeckungsreise in ein Deutschland, das einem gelegentlich vorkommt wie aus längst vergangener Zeit, was natürlich auch damit zu tun hat, dass die meisten die Welt nur noch aus den Medien kennen. Dabei erfährt Sebastian Schoepp auch sich selber anders bzw. neu, entdeckt an sich Seiten, gegen die sich sein Über-Ich zwar nach wie vor wehrt, die ihm aber eben auch die Möglichkeit eröffnen, ziemlich gelassen sich selber zu sein.

Fazit: Lehrreich, inspirierend, hilfreich – und oft zum Schmunzeln einladend.

Sebastian Schoepp
Seelenpfade
Warum ich durch Deutschland wandere, um zu mir selbst zu finden
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2025

Sonntag, 4. Mai 2025

Emotionen & Kohlensäure

 "Wenn Jungs schon in der Grundschule gesagt wird", so die Spiegel-Autorin Tara-Louise Wittwer, "dass sie nicht weinen dürfen, weil starke Jungs eben nicht weinen, stauen sich die Emotionen oft jahrzehntelang an und explodieren dann. Ein bisschen so, wie bei einer Flasche Mineralwasser, extra spritzig, mit besonders viel Kohlensäure. Wenn man die ganz stark schüttelt und öffnet, weiss wirklich jeder was passiert." 

Und jetzt weiss auch wirklich jeder, dass Frau Wittwer nicht den leisesten Schimmer von Emotionen hat (Emotionen, die sich jahrzehntelang stauen? Wo genau? Gibt es da eine spezielle Ecke im Unbewussten?), sich jedoch mit Kohlensäure auskennt.

Mittwoch, 30. April 2025

On Gratitude

 "To be grateful for the good things that happen in our lives is easy, but to be grateful for all of our lives - the good as well as the bad, the moments of joy as well as the moments of sorrow, the successes as well as the failures, the rewards as well as the rejections - that requires hard spiritual work. Still we are only truly grateful people when we say thank you to all that has brought us to the present moment. As long as we keep dividing our lives between events and people we would like to remember and those we would rather forget, we cannot claim the fullness of our beings as a gift of God to be grateful for. Let us not be afraid to look at everything that has brought us to where we are now and trust that we will soon see in it the guiding hand of a loving God."

Henri Nouwen

Sonntag, 27. April 2025

Wieder werden

Wir rennen durchs Leben, unser antizipatorisch angelegtes Hirn treibt uns voran. Entschleunigen ist uns fremd, es sei denn, wir werden dazu gezwungen. Die Ärztin Magdalena Gössling wurde dazu gezwungen, durch einen Schlaganfall im Alter von 32, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Sie muss sich (neben vielem anderen) auch daran gewöhnen, sehr langsam zu schreiben, was zur Folge hat: "Ich lerne, genauer hinzuschauen."

Detailliert beschreibt sie, wie sie ihren Schlaganfall erlebt, ohne anfänglich zu begreifen, dass es einer ist. "Mein Gehirn war längst ein anderes, es hatte mich verändert, und nichts war mehr wie gewohnt." Sie ist nicht mehr Ärztin, sondern Patientin; ihr Körper gehorcht ihren Gedanken nicht mehr.

Sie wird auf die Charité verlegt, kriegt Besuch von ihrem Partner, einem Neurologen, der Mutter (Krankenpflegerin von Beruf), mit der sie sich auch über die logopädische und ergotherapeutische Behandlung austauschen kann. Selber Patientin sein, lässt sie auch über ihr eigenes Verhalten als Ärztin reflektieren. Sensibel registriert sie, wie wichtig ihr echte menschliche Anteilnahme ist. Und auch ihre Wertvorstellungen erfahren eine Neuausrichtung. "Den Selbstwert nicht an Schnelligkeit und Leistung zu binden, ist für mich immer noch ein Lernprozess. Was es bedeutet, in einer auf Leistung, Umsatz und Wachstum getrimmten Welt schwer zu erkranken, das konnte ich vor meinem Schlaganfall nicht ermessen."

Sie kriegt alles mit, ist geistig da, doch sprechen kann sie nicht, sich mit Worten zu verständigen geht nicht. Eine Freundin besucht sie, der Bruder, die Schwester kommen vorbei, der Vater liest ihr vor. Selber lesen ermüdet sie und so schaut sie fern, bleibt bei Germany's Top Model hängen. "Es ist mir peinlich, dass ich solche Shows gucke. Ich weiss, dass sie hirnlos sind. Und ich will unbedingt zeigen, dass ich Hirn habe." Ihren Humor hat sie nicht verloren! Er zeigt sich auch in der Schilderung der grossen Visite nach der gelungenen Operation, bei der die Ärzte vor allem sich selber beglückwünschen.

"Ich habe überlebt. Jetzt kommt die Fleissarbeit. Ich muss Fuss fassen, weiter kämpfen", notiert sie. Bewegungs- und Sprachübungen, es ist anstrengend. Als sie das Schreiben übt, bemerkt sie, dass schon ein einzelner Buchstabe den Sinn verschiebt. "Ich schreibe Freude statt Freunde, Schmerz statt Scherz, Wut statt Mut." Was auch immer der Grund dafür sein mag (wenn es denn überhaupt einen Grund dafür gibt), dass Buchstaben Gefühle ausdrücken können, ist ein Wunder, das sich auch darin zeigt, dass unsere Erklärungen dafür recht dürftig wirken.

Dann kommt die Reha, Grad der Behinderung: fünfzig. Die Tage sind durchgetaktet; sie ist ehrgeizig, macht Fortschritte, und verzweifelt dennoch fast, denn sie vergleicht sich mit dem Vorher und dem Jetzt, doch der Schlaganfall hat sie im Kern erschüttert. "Motorisches Geschick, Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität – alles ist vernichtend getroffen." Hält man sich die Schwierigkeiten vor Augen, welches das  Lesen auf ein mühsames Entziffern von Wörtern reduziert, lässt einen mehr als nur staunen, dass sie dieses Buch schreiben konnte.

Ihre Tochter kommt zur Welt, kurze Zeit später erleidet sie selber einen epileptischen Anfall. Magdalena Gössling bleibt wirklich nichts erspart, denkt es so in mir. Gleichzeitig beeindruckt mich ihr Lebenswille, ihre Kämpfernatur, ihre pragmatische Art mit dem, was ihr zustösst, umzugehen. Sie will wieder in ihren Beruf, die Handchirurgie, zurück – ermutigt wird sie nicht. Nur schon das hätte wohl viele in die Verzweiflung getrieben.

"Suche nach einem neuen Ich" ist ein Kapitel überschrieben. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Doch sie weiss auch, dass sie loslassen muss. Dieses Wissen hilft nicht, es steht ihr im Weg. Ihre Widerstände sind mannigfaltig, ihre Aufrichtigkeit eindrücklich. Auch als sie dauerhafte Berufsunfähigkeit attestiert bekommt, gibt sie nicht auf. "Ich habe Launen, Gefühlsausbrüche, vor denen ich mich ekle und die mich beschämen." Als sie sich nach Monaten bewusst anderen Dingen zuwendet, beginnt sie, ihr Leben neu zu gestalten. Es ist ihre Auseinandersetzung mit Sprache, die ihr allmählich die Welt des Schreibens eröffnet. Aus der Handchirurgin wird eine Autorin.

"Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick." Dieses Zitat von Joan Didion, das treffender kaum illustrieren könnte, was wohl die Wenigsten auf dem Radar haben, hat Magdalena Gössling ihrem Erlebnisbericht vorangestellt, der dokumentiert, dass und wie wir unserem Schicksal ausgeliefert sind. Sie lernt zu akzeptieren, was sie nicht ändern kann, und bemüht sich, zu ändern, was sie zu ändern vermag. Sie lernt ihre Energie auf ein neues Leben zu richten. So recht eigentlich hat sie ihrem ersten Leben ein zweites hinzugefügt; ein Leben, das sie erst zu entdecken begann, als sie bereit dazu war, ihr erstes hinter sich zu lassen.

Wieder werden ist weit mehr als die berührende Schicksalsgeschichte einer Kämpferin, es ist auch eine selbstkritische und sensible Meditation darüber, dass nichts im Leben selbstverständlich ist. Und nichts garantiert ist. Wer weiss schon, was noch alles kommen wird?

Magdalena Gössling
Wieder werden
Eine Geschichte über Verlust und Erneuerung
Rowohlt Polaris, Hamburg 2025

Mittwoch, 23. April 2025

On Freedom

 When a cow decides to stop nursing her calf, she isn't rejecting it. She knows it's time for the calf to be on its own. Although the calf might feel rejected and puzzled at first, it soon adapts to its new independence and freedom.

When we feel rejected, it's useful to remember that whatever has caused us to feel this way might have nothing to do with us. It might be a reflection of what's happening with someone else, or just the end of a natural stage in life, as with the calf.

When we understand that others' actions toward us come from their own feelings, and that we don't cause their feelings any more than they control ours, we can free ourselves from a little bit of fear and self-hate. We can see what seems to be rejection as an open door, with our freedom on the other side.

Sonntag, 20. April 2025

Keine Zeit verlieren

Die 2018 verstorbene Science-Fiction Autorin Ursula K. Le Guin (geboren 1929) erhielt für diese Essaysammlung posthum den PEN/Diamonstein-Spielvogel Award for the Art of the Essay. Der erste dieser Essays handelt von einem Fragebogen der Universität Harvard, in dem sie unter anderem gefragt wird, ob sie ihre geheimen Wünsche auslebe (sie hat keine), und womit sie ihre Freizeit verbringe (die Auflistung beginnt mit Golf). "Ich bin ein freier Mensch, aber freie Zeit habe ich nicht. Meine Zeit ist komplett aufgefüllt mit  ...", notiert die Achtzigjährige; ihre Tätigkeiten füllen eine halbe Buchseite.

Seit sie alt sei, halte sie nichts mehr von dem Sprichwort "Man ist so jung, wie man sich fühlt". Auch mit dem Spruch "Das Alter ist nichts für Weicheier" kann sie nichts anfangen; sie findet ihn fürchterlich. Sie hat nichts gegen Sprüche, doch sie zieht ihren eigenen vor. "Das Alter ist nichts für die Jungen."

Diese Essays sind ein Genuss. Und sie sind hilfreich. Was daran liegt, dass hier eine no-nonsense-Frau schreibt, die klar zu denken versteht. Voraussetzung dafür ist ein nüchterner Blick auf die Dinge, so wie sie sind. "Die Amerikaner glauben fest ans positive Denken. Positives Denken ist grossartig. Es funktioniert am besten, wenn es auf einer realistischen Einschätzung und auf der Akzeptanz der tatsächlichen Lage basiert. Positives Denken auf der Grundlage von Verleugnung ist wohl eher weniger grossartig."

Treffend und erfrischend auch Ursula K. Le Guins Ausführungen zur Kunst. "Kunst machen heisst nicht, sie zu erklären. Kunst ist, was ein Künstler schafft – nicht, was ein Künstler dazu erklärt." Kunsthistoriker, Kuratorinnen und alle anderen, die vom Erklären leben, werden das womöglich anders sehen, weshalb denn auch die Autorin lustvoll nachdoppelt. "Für mich ist die Aufgabe einer Töpferin, einen guten Topf herzustellen, nicht darüber Auskunft zu geben, wie und wo und warum sie ihn angefertigt hat und wofür er aus ihrer Sicht verwendet werden soll und welche anderen Töpfe ihn beeinflusst haben und was der Topf bedeutet und wie man den Topf erfahren soll." Herrlich!

Auch über die Vorstellung des Grossen Amerikanischen Romans lässt sie sich aus, und vermisst auf der gängigen Liste neben Onkel Toms Hütte auch Früchte des Zorns, von dessen Autor, John Steinbeck, ich gerade vor ein paar Wochen The Pearl gelesen und in bester Erinnerung habe. Schon eigenartig, wie Dinge zusammenzuhängen scheinen, war doch The Pearl mein erstes Steinbeck-Buch. Glaubte ich. Ein Blick ins Buchregal belehrte mich dann eines besseren, denn da standen zwei weitere Steinbeck-Bücher, eines ganz offensichtlich gelesen, das andere nicht. Keine Zeit verlieren bewirkt nun, dass ich mir die beiden, die ich überhaupt nicht auf dem Radar hatte, jetzt vornehme.

Bücher können auch zur Bewusstseinsbildung beitragen und Keine Zeit verlieren tut das ganz unbedingt. So macht mich Ursula K. Le Guin auch auf Homer aufmerksam. Ihre Version der Illias sowie der Odyssee sprechen mich weit mehr an als die Originale. Zustimmend zitiert sie den in London lebenden, pakistanischen Autor Moshin Hamid: "Wie seltsam wäre es, Homers Illias oder Rumis Masnavi als "die Grosse Dichtung aus dem östlichen Mittelmeerraum" zu bezeichnen. Soviel zum Grossen Amerikanischen Roman.

Höchst aufschlussreich auch ihre Ausführungen zu Fantasy, die nicht etwa sagt: Alles ist möglich, sondern: Es muss nicht so sein, wie es ist. Und das meint: Die Gesetze der Kausalität gelten auch in der Fantasy, sonst wäre der Leser oder Hörer der Geschichte orientierungslos. "Fantasy hat nichts an sich, vor dem man sich fürchten muss, es sei denn, man hat Angst vor der Freiheit, die in der Ungewissheit liegt." Man sollte diesen Satz nicht überlesen, man sollte bei ihm verweilen, und bedenken, was er alles impliziert, denn Freiheit und Ungewissheit gehören zusammen.

Ursula K. Le Guin zu lesen, ist überaus bereichernd, denn diese Frau ist nicht nur eine eigenständige, sondern auch eine originelle Denkerin mit einem überaus breiten Horizont, Vor allem regt sie an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Kants Aufforderung, man soll den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes bedienen, wird in diesem Buch auf eine Art und Weise praktiziert, dass es eine wahre Freude ist.

Keine Zeit verlieren ist weit mehr als ein Buch übers Alter, es ist eine gescheite und praktische Lebensanleitung einer hoch-reflektierten Frau mit viel common sense (der so recht eigentlich alles andere als common ist) und mit viel Humor.

Fazit: Erhellend, lustig, philosophisch und überaus nützlich!

Ursula K. Le Guin
Keine Zeit verlieren
Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen
Golkonda Verlag, München 2025

Mittwoch, 16. April 2025

Aufbruch

.Es sei gleich vorweggenommen: Aufbruch. Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt liest sich mit Genuss und Gewinn. Das liegt daran, dass der routinierte Sachbuchautor Stefan Klein viele aufschlussreiche Forschungsergebnisse zusammengetragen hat und diese anregend zu präsentieren weiss. Dabei entbehrt es nicht der Ironie, dass er sehr konventionell vorgeht, also an die Kraft des plausiblen Arguments glaubt. So verständlich dies auch ist: Es ist unser Festhalten am Gewohnten bzw. an unserer Art zu denken, was der Veränderung entgegensteht. Viele Veränderungen geschehen nämlich einfach so, manchmal auch gegen unseren Willen, und nicht wenige überraschen uns.

Der Mensch will sich nicht ändern, ja mehr, er lebt in Illusionen. Das liegt an unserem Hirn. "Das Gehirn ist eine Illusionsmaschine, und die voraussagende Codierung ist die Mutter aller Illusionen." Mit anderen Worten: Unser Verstand geht nicht von Fakten, sondern von Prognosen aus. Es sind unsere Erwartungshaltungen, die unser Verhältnis zur Welt bestimmen. Und es ist unser Festhalten an dem, was wir kennen. Davon handelt der grösste (und sehr überzeugende) Teil dieses Buches, das unter anderem auch klar macht, dass wir bei weitem nicht so rational unterwegs sind, wie wir das gerne annehmen. Nun irrt der Mensch bekanntlich, solang er strebt, und ganz besonders in Sachen Willen und Einsichten. Letztere, sofern sie unser Herz nicht erreichen bzw. nicht ins Handeln überführt werden, bleiben so recht eigentlich toter Buchstabe.

Als einer, der selber destruktive Gewohnheiten bzw. Süchte zum Stillstand bringen konnte (seit 35 Jahren ohne Alkohol, seit knapp 29 Jahren ohne Nikotin) bin ich mit der Tatsache, dass sich der Mensch nicht ändern will, bestens vertraut (Wie geht das eigentlich, das Leben?). Und staune immer wieder, wie viele Menschen das überhaupt nicht so sehen. Nicht zuletzt deswegen finde ich das vorliegende Buch ausgesprochen hilfreich, denn es macht an ganz vielen Beispielen deutlich, dass unser grösstes Talent im Selbstbetrug besteht.

"Auch muss man bedenken, dass kein Vorhaben schwieriger in der Ausführung, unsicherer hinsichtlich seines Erfolges und gefährlicher bei seiner Verwirklichung ist, als eine neue Ordnung einzuführen; denn wer Neuerungen einführen will, hat alle zu Feinden, die aus der alten Ordnung Nutzen ziehen, und hat nur lasche Verteidiger an all denen, die von der neuen Ordnung Vorteile hätten", wird Machiavelli zitiert. Stefan Klein illustriert dies anhand der Coca-Cola-Company, die 1985 versuchte, das alte Coca-Cola durch ein neues, das bei Blindtests obenaus schwang, zu ersetzen – und spektakulär scheiterte.

Zu dem für mich Verblüffendsten gehören die Untersuchungen des Wirtschaftsnobelpreisträgers Richard Thaler, der seine Studierenden wählen liess, "ob sie für eine kleine Aufgabe lieber eine Stange Toblerone oder einen Kaffeebecher als Belohnung wollten. Danach erhielten die Teilnehmenden zufällig eines der beiden Objekte und die Möglichkeit, untereinander zu tauschen. Doch kaum jemand nutzte diese Option. Wer den Kaffeebecher hatte, behielt ihn, und wer Schokolade bekommen hatte, obwohl er den Becher gewählt hatte, behielt diese ebenfalls." Was lehrt uns das? Was man einmal hat, gibt man nicht so leicht wieder her. Das ist nicht nur bei Dingen so, das ist auch bei Meinungen so. 

Aufbruch. Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt macht einen auf ganz Unterschiedliches aufmerksam. So lerne ich etwa vom Physiker Max Planck: "Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben." Zu Recht folgert Stefan Klein, dass dieses Prinzip sich nicht allein auf die Wissenschaft bezieht. "Je jünger eine Person, umso eher passt sie sich neuen Tatsachen an."

Am Beispiel des Arztes Ignaz Semmelweis, der das Kindbettfieber zum Verschwinden brachte, indem er seine Ärzte anhielt, sich vor jeder Untersuchung die Hände mit Chlorlösung zu waschen, legt Stefan Klein eindrücklich dar, dass Wissen nicht notwendigerweise Macht bedeutet, denn Semmelweis wurde nicht gelobt, sondern angefeindet. Wie so recht eigentlich immer: Priorität hat die Stabilität des herrschenden Systems. So verständlich das ist (der Mensch ist verloren im Universum und braucht Halt), so lebensfeindlich wirkt es sich aus, denn die Unsicherheit gehört zum Leben, sie kann nicht ausgerottet werden. Wir versuchen es trotzdem ...

Doch Veränderungen, die gibt es. Ein Blick in die Geschichte genügt. Damit Veränderungen möglich werden, müssen wir Erfahrungen machen. Und dies ist in der heutigen Zeit kein geringes Problem, da wir  uns immer mehr digital informieren, doch die Medien uns keine Erfahrung vermitteln. 

Stefan Klein berichtet auch von Möglichkeiten, den Handykonsum mittels einer App, die den Start von WhatsApp und Co. verzögert, einzudämmen. Und von der Hoffnung und den Erfolgen der kleinen Schritte; zudem argumentiert er für eine Kultur der Veränderung, die auf Motivation und Information setzt. Den Analyse-Teil fand ich entschieden motivierender, doch dieses Zitat von Antoine de Saint-Exupéry, das dem letzten Kapitel vorangestellt ist, zeigt die Richtung sehr schön an. "Ein Schiff zu erschaffen heisst nicht, Leinen zu weben, Nägel zu schmieden oder die Sterne zu lesen, sondern den Menschen die Sehnsucht nach dem Meer vermitteln."

"Sein Leben zu ändern heisst daher, neue Gewohnheiten anzunehmen." Schon, denkt es dann so in uns, doch das ist schwierig. Ist es nicht, im Gegenteil, es ist einfach, man muss es nur tun, meint der Autor. Und genauso isses! Jedenfalls war es bei mir so. Weshalb, weiss ich nicht wirklich  (meine Rationalisierungen haben sich im Laufe der Jahre gewandelt). Heutzutage scheint mir, ich hatte schlicht genug, wehrte mich nicht mehr gegen die Veränderung, war bereit, das Alte zu lassen. Wie sagte doch Horatio in Hamlet: "The readiness is all."

Stefan Klein
Aufbruch
Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025

Sonntag, 13. April 2025

Zehn Tage Schweigen

Die Beziehung von Adam und Evelyn war einst besser, viel besser. Und das soll sie auch wieder werden. Evelyn wird aktiv und meldet Adam zu einem Vipassana-Retreat an, wo er zehn Tage lang meditieren soll. Er willigt ein, da er hofft, dass anschliessend ihre Beziehung wieder so sein wird, wie sie es eins gewesen ist.

Engländer sind bekannt für ihren oft ironischen Umgang mit Allem und Jedem, und Adam Fletcher trägt ganz besonders dick auf. Zu dick, für meinen Geschmack, und das ermüdet bei einem Buch von rund 250 Seiten. Andererseits ist ein Vipassana-Retreat mit Ironie anzugehen eine ungewöhnliche und durchaus  hilfreiche Idee, denn bekanntlich führt zu viel Ernsthaftigkeit in aller Regel zu Überheblichkeit. Und da diese leicht eintreten kann, wenn man sich auf die Suche nach der Erleuchtung begibt, wirkt Ironie auch als nützliches Korrektiv.

Bei der Meditation geht es darum, im Hier und Jetzt zu sein. Die Methode, die Adam anzuwenden hat, ist das Ein- und Ausatmen. Da unser Hirn davon nichts wissen will (es rennt dauernd davon, in die Vergangenheit, die Zukunft, nach links und rechts, von keiner Geografie begrenzt), mag das einfach klingen. "Was natürlich nicht dasselbe ist wie leicht."

So recht eigentlich möchte Adam nicht in diesem Retreat sein, "in dieser moralisch selbstgerechten Umgebung." Er beschreibt nicht nur, wohin seine Gedanken wandern, sondern räumtt auch dem, was er mag, und was er nicht mag, viel Platz ein. "Es muss jetzt eine Stunde sein, oder? War das der Gong? War nicht der Gong. Komisch, dauert schon so lange. Ja, es wird definitiv Zeit ...". Keine Frage, man kann es ihm nachfühlen, doch andererseits ist es aber eben auch so, dass das Aufschreiben/Festhalten der Gedanken, das genaue Gegenteil dessen ist, worauf es bei der Meditation ankommt.

Das Problem sei sein unruhiger Geist, lernt er, obwohl er das ganz anders sieht und befindet: "Der menschliche Geist ist eine sinnstiftende Maschine." Kein Wunder, will er davon nicht lassen. "Wenn du zwölf Stunden am Tag bloss sitzt und dich auf den Atem konzentrierst, hat dieses Sinnstiftungsmaschine nichts zu tun." Mit anderen Worten: Die vertraute Welt gerät aus den Fugen, das will man nicht und so wehrt man sich.

Parallel zu seinen Meditationsanstrengungen berichtet Adam von Evelyns Bemühungen, schwanger zu werden, die auch nach einem Jahr zu keinem positiven Resultat geführt haben, trotz der Anstrengungen der beiden. Am Vormittag des vierten Meditationstages kann er dann nur noch an Sex denken.

So sehr er auch mit dem Meditieren hadert (einmal versucht er sogar, aus dem Retreat abzuhauen), er schafft die zehn Tage ("eine echte mentale Prüfung"), und ist zu Recht "wahnsinnig stolz" auf sich. "Es war ein Fehler von Evelyn gewesen, mich hierherzuschicken, auch wenn sie die richtigen Gründe dafür gehabt hatte. Aber man kann auch durch falsche Entscheidungen zu den richtigen Antworten gelangen." Es sind solch wahre Sätze, die mich Bücher lesen lassen.

Adam Fletcher ist ein begabter Geschichtenerzähler mit einem Hang zum Originellen, bei dem allerdings das Anregende und Lehrreiche, Sensible und Gescheite manchmal Gefahr läuft unterzugehen. Zum Glück geschieht das dann doch nicht.

Adam Fletcher
In der Ruhe liegt der Wahnsinn
Wie ich in einem 10-tägigen Schweige-Retreat meinen Verstand verlor, aber mein Glück und alles andere fand.
C.H. Beck, München 2025

Mittwoch, 9. April 2025

Eine Frau, die trinkt

Das Thema dieses Romans sei "ein bis heute existierendes Tabu: der weibliche Alkoholismus", so der Verlag, der damit wohl den Verkauf anzukurbeln hofft, denn bekanntlich lesen vor allem Frauen. Nur eben: den weiblichen Alkoholismus gibt es nicht, es gibt nur Alkoholismus. Und dieser wird nicht tabuisiert, sondern filmisch und literarisch problematisiert, der vorliegende Text ist fast hundert Jahre alt. Seine Verfasserin starb im Alter von 35 Jahren an Tuberkulose.

Eine Frau, die trinkt will "keinen Charakter freilegen, wo nie einer war, keine Zusammenhänge herstellen, wo nichts zusammenhängt. Es wird lediglich versucht, diese alkoholischen Episoden als aussergewöhnliche Gefühlszustände, eingebettet in ein  Leben", das Leben von Guita, darzustellen.

Guita ist acht und will ein Schmetterlingsnetz. Da ihr Vater auf ihr drängendes Begehren nicht eingeht, steigt sie in den Keller hinab und betrinkt sich mit Rotwein. Mit sechzehn wird sie betrunken von Jacques entjungfert, heiratet ihn, obwohl sie ihn nicht liebt, doch da er sie liebt, ist schliesslich immerhin einer der beiden zufrieden. Und sie, sie fühlt sich frei

Sie betrügt ihn, wird selber betrogen. Sie liebt den Rausch, gibt sich ihm hin. Sie nimmt das Leben spielerisch, vertieft nichts, geht über alles hinweg, ist leichtsinnig und versteht dies zu geniessen. Einerseits. Doch da ist auch die andere Seite, Alkoholabhängigen bestens bekannt als Mister Hyde, dem Pendant zu Doktor Jekyll. Sie versteckt die leeren Flaschen, will sich ihrem
 Mann offenbaren, es bleibt beim Vorsatz und dem heimlichen Entsorgen der Flaschen

Colette Andris (Pseudonym von Pauline Toutey) war 28 als dieser Roman, ihr erster, erschien, der sich vor allem durch die Sprache, den Ton auszeichnet. Als luftig, leicht und unbeschwert, wunderbar lebensfähig wird Guita geschildert. Von heiterer Neugierde angetrieben, sich dem Alkohol ausliefernd, dabei eine sensible Denkerin. "Es ist aussichtslos, dieses Laster (nennen wir die Dinge beim Namen) bekämpfen zu wollen. Besiegt wäre es erst, wenn man die Welt in einen Ort der Freude verwandeln würde."

Doch Guita ist nicht einfach dem Alkohol, sie ist dem Rausch verfallen, und dieser kann sich in vielem zeigen. Im Sex, im Trinken, im Betrügen, im Sammeln von Liebhabern, in der Sehnsucht nach dem Leben ... you name it.

Im Wachzustand nimmt sich der Mensch meist als bewusst handelnder Akteur wahr, im Schlaf hingegen regieren ihn Kräfte, auf die er keinen Einfluss hat. "Sie wird von Bildern bedrängt (aus welchen Untiefen, welchem Nichts mögen sie kommen?), und aus dem Dunkel treten böse, undurchdringliche, gequälte Fratzen hervor. Jene, die sie festhalten will, lösen sich auf und verschwinden; jene aber, die sie ängstigen oder abstossen, setzen sich fest und drängen sich auf, sobald Guita die Augen schliesst – eine teuflische Parade."

Zu den Dingen, die sie ängstigen, gehört der Tod. "Was gäbe sie dafür, an die Unsterblichkeit zu glauben!" Die Nacht bedeutet ihr Grauen, sie fürchtet um ihren Verstand. Als der Morgen endlich kommt, fühlt sie sich erlöst. "Ein neuer Tag ist angebrochen, rein und unverbraucht, und mit ihm die Freude am täglichen Kampf, am Leben, die Freude an allen Dingen."

"Und auch wenn er ins Verderben führt, wird der Alkohol nicht nur verdammt. Er ist hier Weltflucht und Zerstreuung, Sucht und Sinn", schreibt Jan Rhein im Nachwort. Worin der Unterschied von Weltflucht und Zerstreuung liegen könnte, ist mir schleierhaft, da sie doch recht eigentlich (jedenfalls in meinem Verständnis) gleichbedeutend sind. Auch dass der Alkohol in diesem Buch "Sucht und Sinn" sei, kann nur jemand behaupten, der keine Erfahrung mit (und keine Ahnung von) Sucht hat.

Wie Alkohol stimuliert und beflügelt, führt Colette Andris gekonnt und mit leichter Feder vor. Gleichzeitig, und darin liegt die Stärke dieses Buches, macht sie deutlich, dass Guita erst ohne einen Tropfen Alkohol klar sieht. "... keine verzweifelten Tränen, keine oberflächliche Trauer, wie sie die Trunkenheit allzu oft hervorruft. Vielmehr eine heilige, reine Verzückung."

Colette Andris
Eine Frau, die trinkt
Roman
Wagenbach, Berlin 2025

Sonntag, 6. April 2025

Leben & Sterben

Der Einstieg ist ganz wunderbar – die Begeisterung der Medizinethikerin Alena Buyx für ihre Arbeit ist gleichsam mit Händen zu greifen. Man wünschte sich mehr solcher Menschen; mir selber sind aus meiner Studienzeit in der Schweiz, Wales, Australien und Schottland nur gerade zwei Dozenten in Erinnerung, deren Begeisterung ich als ansteckend empfunden habe.

"Die Medizinethik beschäftigt sich mit dem guten und richtigen Handeln in der Medizin. Das kann sowohl die Entwicklung neuer Technologien betreffen als auch die konkrete Versorgung am Krankenbett." Alles klar, denkt es so in mir, doch kurz darauf stocke ich dann bei diesem Satz: "Es geht um Argumente und es geht um Gründe und Begründungen." In der Jurisprudenz ist das auch so, ja, so recht eigentlich ist das in allen akademischen Disziplinen so. Weshalb habe ich also gestockt? Weil ich es jetzt im Alter eigenartig finde, dass das moralisch Gesollte, Erlaubte und Zulässige von Argumenten und Begründungen abhängen soll. Ich weiss, ich weiss, so funktionieren wir nun einmal, sonderbar finde ich gleichwohl, dass "das Richtige" von einem guten oder besseren Argument entschieden wird. Doch zugegeben, das wäre eine andere Geschichte ...

Die leitenden medizinethischen Prinzipien sind: Das Prinzip des Respekts vor Selbstbestimmung von Patienten, das Prinzip des Nichtschadens, das Prinzip der Fürsorge/des Wohltuns, das Prinzip der Gerechtigkeit. Natürlich kommen da auch die Juristen ins Spiel ... und das ist ein Problem (das in diesem Buch allerdings nicht zur Sprache kommt), denn die Juristerei ist hauptsächlich ein Geschäftsmodell, weshalb sie denn auch ein Interesse daran hat, die Dinge zu verkomplizieren, sonst könnte schliesslich jeder und jede mitreden – und aus wär's mit dem Geschäft. Alena Buyx hingegen bezieht die Leser und Leserinnen mit ein, fordert sie auf, sich eigene Gedanken zu machen.

Leben & Sterben ist ein gutes und anregendes Buch. Ich will das an drei Beispielen erläutern bzw. ausführen, was diese bei mir ausgelöst haben.

Beispiel 1: Zwei frühgeborene Zwillinge, Tim und Mark. Mark entwickelt sich gut, Tim hingegen musste bereits dreimal reanimiert werden und erlitt zwei Gehirnblutungen. Die Eltern, beides Ärzte, wollen, dass die lebenserhaltende Behandlung bei Tim eingestellt wird. Tims Vater: "Was sie hier noch mit ihm machen, ist doch Quälerei, das bringt doch nichts! Und was er dann vor sich hat, das ist doch kein Leben. Ausserdem entscheiden immer noch wir, die Eltern, was sie mit unserem Kind machen dürfen und was nicht."

Meine gleichsam automatische Reaktion darauf: Der Mann hat Recht. Und fast gleichzeitig denkt es in mir: Eltern, die ihre Kinder als ihnen gehörig, also als Besitz bzw. Eigentum betrachten, sind nicht richtig bei Trost. Dazu kommt: Wer sich von angstgeplagten Vorstellungen leiten lässt, unterschätzt die Resilienz des Menschen, dessen Biologie ihm zu leben vorgibt.

Das medizinische Team sieht die Lage anders als die Eltern, auch natürlich, weil es emotional distanziert bzw. nicht so nahe dran ist. Für das Team hat Tims Wohlergehen Priorität, müssen die Rechte der Eltern  hintanstehen. Aus diesem Grundsatzentscheid ergibt sich alles Weitere. Es folgen viele Gespräche mit den Eltern, die schliesslich einwilligen, Tim leben zu lassen.

Und so ist die Lage heute. "Tim hat einen schweren Sehfehler und trägt, seit er zwei Jahre alt ist, eine dicke Brille. Er ist sehr klein und zart gewachsen und wird wohl immer deutlich kleiner sein als Gleichaltrige und auch als Erwachsener vermutlich die 1.60 nicht erreichen. Abgesehen davon ist Tim gesund und munter, geht in die dritte Klasse der Grundschule, ist klug und witzig und ein beliebtes sonniges Kind. Ein gutes Leben." Soweit Alena Buyx, die sehr wohl weiss, dass es auch ganz anders hätte ausgehen können. 

Gefragt habe ich mich, wie Tim und seine Eltern das heute sehen? Denn die Frage ist ja nach wie vor: Was ist eigentlich, ein lebenswertes Leben? Als ich einmal einem brasilianischen Neurochirurgen sagte, ein Leben im Rollstuhl hielte ich für mich nicht für lebenswert, erzählte er mir von einem Patienten, der genau dasselbe gesagt habe, dann im Rollstuhl gelandet sei – und sein Leben wider Erwarten lebenswert gefunden habe.

Beispiel 2: Zu Beginn ihrer Hauptvorlesung fragt Alena Buyx ihre Studenten jeweils, wie sie sich ihren eigenen Tod vorstellten. Die Antworten gehen von im eigenen Bett einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen bis zu umringt von seinen Liebsten friedlich einzuschlafen. Sterben auf der Intensivstation oder im Altenpflegeheim, wo 70 Prozent sterben, schwebt so recht eigentlich niemandem vor. Nichts könnte deutlicher zeigen, in was für Illusionen wir Menschen unser Leben verbringen. Leben & Sterben bietet Gegensteuer.

Beispiel 3: Aktive Sterbehilfe ist in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg seit einigen Jahren nicht mit Strafe bedroht, in Deutschland schon. Die Argumente für und wider sind differenziert und intelligent; den Ausschlag gibt das eigene Menschenbild. Wer davon ausgeht, dass der Mensch weiss, was er tut, wird wohl für Selbstbestimmung plädieren (offenbar gehen auch die Gerichte zunehmend in diese Richtung, was natürlich mit dem juristischen Menschenbild zu tun hat, gemäss dem der Mensch einen freien Willen haben muss). Wer hingegen das Leben als Schicksal begreift (also nicht davon ausgeht, dass er oder sie Kontrolle über das Leben hat), sieht das naturgemäss anders. Wer versteht, dass Entweder/Oder die Realität nicht abbilden kann, kommt möglicherweise zu Alena Buyxs schöner und lebensgerechter Schlussfolgerung: "Ich würde also zusammenfassend, die prinzipielle ethische Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe bejahen, aber ich plädiere nicht dafür, sie einzuführen."

Leben & Sterben ist ein vielfältig überzeugendes und höchst anregendes Buch, das die Auseinandersetzung lohnt. Einerseits, weil die Autorin nicht mit ihrer Meinung zurückhält, aber eben auch darlegt, wie sie dazu gekommen ist. Andererseits, weil das kein theoretisches (und damit unverbindliches) Werk ist, sondern Lebensfragen (anhand konkreter Fallbeispiele) auf ihre ethische  Tauglichkeit (die Würde des Menschen ist unantastbar) prüft.

Alena Buyx
Leben & Sterben
Die grossen Fragen ethisch entscheiden
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025