David Nutt war einmal Drogenberater der britischen Regierung, fiel dann aber in Ungnade, weil seine Forschungen anderes ergaben als was die Regierung wollte. Nathalie Stüben zitiert ihn mit dem Satz: "The only difference between alcohol and any other drugs, I've always argued, is that alcohol is legal." Man sollte diese Aussage auf sich wirken lassen, und zwar lange genug, auf dass sich einem erschliessen möge, was sie alles impliziert. Im Wesentlichen dies: Dass wir uns in Sachen Drogen genau so verhalten wie mit allem anderen auch, das uns nicht passt. Kurz und gut: Der Selbstbetrug ist die Fähigkeit, die mehr Menschen verbindet als alles andere zusammengenommen. Kann ich das belegen? Das ist nicht nötig, Just look and see genügt.
Ich mache mir das zu einfach? Sie wollen mehr und Genaueres? Lesen Sie Nathalie Stübens Ohne Alkohol, worin sie unter anderem detailliert und an konkreten Beispielen ausführt, weshalb die Behörden in Sachen Drogen untätig bleiben bzw. mit Eigenverantwortung argumentieren. Was, so recht bedacht, ziemlich hirnrissig ist, denn der Zweck des Saufens (jedenfalls für Säufer) ist der Blackout. Elmore Leonard hat es in Callgirls auf den Punkt gebracht: "Man hat ihr wieder den Führerschein abgenommen, sie ist das dritte Mal in den letzten anderthalb Jahren mit Alkohol am Steuer erwischt worden. Ich sag zu ihr: 'Herr im Himmel, kannst du nicht was trinken, ohne jedes Mal stockbesoffen zu werden?' Sagt sie: 'Was soll denn das für 'nen Sinn haben?'"
Nathalie Stüben erzählt in diesem Buch auch ihre eigene Geschichte, zu der auch gehört, dass sie mit Alkohol zunächst nur Gutes verband, auch weil er zu 'unserer' Kultur gehört. "Mein Denkfehler lag darin, Kultur mit Kultiviertheit zu verwechseln. Für mich verbarg sich hinter 'Kultur' etwas Schönes, Wünschenswertes. Ich verstand nicht, wie stark dieses Wort schillert. Ich erkannte nicht, dass diese feierlichen Bräuche einen Massenmord nach sich ziehen." Es gehört zu den Stärken dieses Buches, dass die Autorin Sucht nicht auf ein rein persönliches Problem (das sie natürlich auch ist) reduziert.
Sie macht sich beim Suchtforscher Michael Soyka kundig, der wie alle, die wirklich etwas verstehen, einfach und klar zu formulieren weiss. "Für mich gibt es ein paar Kernsymptome der Abhängigkeit: Das ist zum einen der Kontrollverlust – ich kann nicht aufhören, wenn ich einmal anfange. Das ist zum andern das süchtige Verlangen, Neudeutsch 'Craving', als Suchtdruck, als ein Verlangen, Alkohol zu trinken. Das sind die Kernsymptome einer Abhängigkeit."
Nathalie Stüben weiss, dass sie zu viel trinkt und trinkt dann dieses Wissen weg. Ein Alkoholproblem habe sie ganz bestimmt nicht, erklärt ihr eine Freundin, schliesslich sei sie erfolgreich, kriege ihr Leben geregelt, funktioniere also bestens. Nicht alle ihre Bekannten sehen das so, doch die meisten sind eben mit dem eigenen Funktionieren beschäftigt. Wie schrieb doch Flore Vasseur in Kriminelle Bande: "Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein." Oder wie es ein mittlerweile trockener Manager einmal formulierte: "Als ich noch gesoffen habe, fiel mir mein Job entschieden leichter." Zugespitzt gesagt: Den-Hals-nicht-voll-zu-kriegen (und das ist Sucht – jedenfalls für mich) ist die Grundlage 'unseres' Wirtschaftssystems.
"Ich will nicht zu den Anonymen Alkoholikern" ist ein Kapitel überschrieben, in dem sie sich auch positiv (und differenziert) zu Holly
Whitaker äussert, die ihren Blick auf Sucht und Genesung erweitert hat. Auch der AA-Kritiker
Lance
Dodes wird erwähnt und Veronica Valli, die unter anderem schreibt: "Humility is not thinking less of ourselves
– it is thinking of ourselves less." Zu den Anonymen Alkoholikern nur soviel: Da gibt es so viele dumme und sture Besserwisser wie auch überaus schlaue und vernünftige Leute wie überall, wo sich Menschen zusammenfinden. Mein Rat: "Take what you need and leave the rest." Das gilt meines Erachtens für so ziemlich jedes freiwillige Programm.
Nathalie Stüben bezeichnet sich nicht als Alkoholikerin. Auch nicht als genesene Alkoholikerin. "Ich hatte ein Alkoholproblem, ja. Ich war alkoholsüchtig, ja. Ich werde in diesem Leben besser keinen Alkohol mehr anrühren, ja. Aber ich bin deshalb nicht kaputt, tief in mir drin (...) Ich liebe es, nüchtern zu sein. Ich bin gesund. Ich bin selbstbestimmt, Ich bin unabhängig. Und, allem voran: Ich bin frei." Mein Gefühl ist auch nicht viel anders, mein Verstand mahnt mich jedoch zur Vorsicht, denn die Probleme, die nach dem Saufen-Aufhören hervorbrachen, machten mir vor allem klar, dass mein Saufen ein Lebensproblem zugedeckt hatte, dem ich mich jetzt stellen konnte/durfte/musste. Und daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn das über 32 Jahre zurückliegt.
Eine der erhellendsten Sätze in Ohne Alkohol ist für mich: "Die Art und Weise, wie ich meine Sucht definiere, beeinflusst ganz entscheidend, wie ich meine Abstinenz angehe." Bei Nathalie Stüben hat ein Perspektivenwechsel stattgefunden, sie hat ihren Blick auf die Welt korrigiert, sieht heute, was vor ihrer Nase liegt, und lernt, damit umzugehen. Die Lebensfreude, die einem gegen Ende dieses Buches entgegenspringt, ist so recht eigentlich das Schönste an Ohne Alkohol.
Fazit: Eine Lektüre, die lohnt! Gut geschrieben, überaus hilfreich, sehr zu empfehlen.
Nathalie Stüben
Ohne Alkohol
Die beste Entscheidung meines Lebens
Erkenntnisse, die ich gern früher gehabt hätte
Kailash, München 2021